Wilhelm Bleek legte im Jahre 2001 mit seinem Buch "Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland" eine erste Gesamtdarstellung von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart vor. In seiner Gewichtung der einzelnen Phasen spielten die Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) in der Weimarer Republik und die "Politisierten Wissenschaften im Dritten Reich" eine wesentliche Rolle. Zumal beide Zeiträume - im positiven wie negativen - großen Einfluss bei der Neugründung der Politikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland hatten.
Gideon Botsch knüpft in seiner Dissertation an eine Debatte an, die seit längerer Zeit über "braune" Ursprünge und Bestandteile der Politikwissenschaft geführt wird. Hochinteressant ist der Teil der Studie, der die wechselvolle Geschichte der 1919 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin nachzeichnet, an der nicht nur prominente Demokraten wie Theodor Heuss und Hermann Heller lehrten, sondern auch Antidemokraten. Am nächsten zum Nationalsozialismus standen die "national-revisionistischen" und "völkisch-konservativen" Dozenten um das Politische Kolleg, das 1927 eine Arbeitsgemeinschaft mit der DHfP gebildet hatte - mit Folgen: Der Lehrkörper der Hochschule war in der Zerrissenheit der Weimarer Zeit nicht imstande, ein gemeinsames Konzept einer Politischen Wissenschaft zu entwickeln. Die mehrheitlich außeruniversitär betriebene Disziplin wurde nach 1933 keineswegs aufgelöst, sondern nach ihrer Reduktion auf Außenpolitik und "Auslandswissenschaft" dem neuen System dienstbar gemacht.
1940 wurde die DHfP zusammen mit dem Seminar für Orientalische Sprachen, das schon 1935 zur Auslandshochschule der Berliner Universität geworden war, als Auslandswissenschaftliche Fakultät in die Universität eingegliedert. Zum Dekan auf Lebenszeit dieser neuen Fakultät wurde der damals 30-jährige Professor Franz Alfred Six ernannt. Er hatte 1934 bei Arnold Bergsträsser promoviert und war eine der schillerndsten Persönlichkeiten des Dritten Reichs. Lutz Hachmeister hat mit seiner Studie "Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six" (1998) eine umfassende Lebensbeschreibung geliefert. Six symbolisierte wie kaum ein Zweiter jenen Typus des SS-Intellektuellen, der in der Öffentlichkeit zwar kaum bekannt war, aber zur funktonalen Elite des NS-Regimes gehörte. In Verbindung mit dem Reichssicherheitshauptamt war er zuständig für weltanschauliche Forschung und Auswertung. In dieser Funktion versuchte Six einen "wissenschaftlichen Nationalsozialismus" zu entwickeln und zu etablieren, eine Art "Think Tank" der NS-Führung. In der Auslandswissenschaftlichen Fakultät sorgte Six dafür, dass herrschaftspolitische Themen der Lageberichterstattung sowie expansionistische Fragen der Großraumgestaltung und Ostsiedlung im Mittelpunkt von akademischer Lehre und Forschung standen.
Der Begriff "Politische Wissenschaft" hatte mit der Berufung der Professoren Six, Pfeffer und anderen - im Anhang werden alle Dozenten der Fakultät vorgestellt - eine ganz neue Bedeutung erhalten: Er bezeichnete nun eine politisierte, von NS-Ideologie durchdrungene Wissenschaft. Botsch zeigt am Beispiel des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts (DAWI) und der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin mit großer Akribie, wie die neu definierte "Wissenschaft von der Politik" im totalen Staat instrumentalisiert wurde.
Die Darstellung der Indienstnahme des Hamburger Instituts für Auswärtige Politik, der Deutschen Hochschule für Politik und die Gründung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts durch das NS-Regime zeigen beispielhaft die Verstrickungen der Wissenschaft in die Politik dieser Zeit. Darüber hinaus zeigt die Dissertation einmal mehr die Gefährdung der Wissenschaft in totalitären Regierungssystemen.
Gideon Botsch: "Politische Wissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die "deutschen Auslandswissenschaften" im Einsatz 1940 - 1945. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2006; 362 S., 49,90 Euro