Blinde Liebe auf den ersten Blick, das war es wohl: Die Sage behauptet, die portugiesischen Seebären hätten ihren Ankerplatz, die Bucht von Rio de Janeiro, mit einer Flussmündung verwechselt - bloß weil "Rio" eben Fluss heißt. Damals aber, im Januar 1502, hatte das Wort noch die Bedeutung von "Lagune", und das trifft die Lage sehr genau. So kam Rio de Janeiro zu seinem Namen. Der Chefnavigator, der Italiener Amerigo
Vespucci und der Befehlshaber, Gaspar de Lemos, tauschten mit den Tamoio-Indianern Glasperlen gegen Maniok und Bananen, und dann setzten sie wieder Segel. Die Portugiesen kehrten aber bald zurück. "Welch eine Anmut geht von ihr aus", schreibt Kapitän Tomé de Souza 1552 ins Logbuch. Er legt an der von steilen Bergen und dunklen Wäldern eingerahmten Lagune einen Stützpunkt an, den er gut katholisch auf den Heiligen Sebastian tauft, aber der Name Rio de Janeiro blieb.
Dem Zauber der Bucht und ihrer Stadt erlagen seither die meisten Besucher. "Es gibt keine schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, unübersichtlichere. Man wird nicht fertig mit ihr", rühmt Stefan Zweig 1942 sein Exil: "Hier zeigt sich das Meer in all seinen Farben, grün anschäumend am Strand von Copacabana, dann wieder glatt und blau von der Weite des Atlantischen Ozeans." Das war vor einem Menschenalter. Rio de Janeiro ist immer noch die "Prinzessin des Meeres", wie es in einem Samba heißt, doch die Jahre haben ihre Flecken hinterlassen. Das gilt ganz besonders für die Bucht von Guanabara - so ihr offizieller Name -, die eben keine Mündung ist.
Manchmal kommt er knüppeldick, der Müll. Schwappt nicht nur auf dem Wasser, sondern verfängt sich auch noch in den Schiffsschrauben. Die gesamte Zwölf-Millionen-Metropole, die wie eine Toilettenbrille um diese Kloake liegt, droht in den eigenen Fäkalien zu ersaufen. Die Sanierung der Bucht von Guanabara hat für Rio de Janeiro höchste Priorität. Eine Milliarde Dollar kostet das in der ersten Bauphase. Und es wird gebaut! 800 Kilometer Rohre sind verlegt, ein Dutzend Kläranlagen verrichten ihr stilles Werk. Eine gigantische Aufgabe. Jeden Tag fließen 465 Tonnen Hausmüll, Fäkalien und Gifte in die 380 Quadratkilometer große Bucht. Jedes Jahr so viel, wie das Fußballstadion von Maracana zu fassen vermag.
Die Bucht als Müllkippe - das ist eine lange Geschichte. Früher trugen die Sklaven den stinkenden Unrat in Krügen ans Ufer. Daran hat sich im Prinzip nichts geändert, die Favelas im Norden der Stadt ebenso wie die City und die besseren Viertel schicken über Rohre oder durch offene Kanäle ihren Unrat in die Bucht. Jetzt sind die Planer schon froh, wenn sie es schaffen, wenigstens die Hälfte der Abwässer bis zum Jahre 2010 zu säubern.
Die Bucht mag zum Himmel stinken, aber Rio hat ja noch seine Ozean-Strände. Alles drängt sich an den Busen der Copacabana. Auf einem winzigen Bruchteil der 7.400 Kilometer langen brasilianischen Atlantikküste ballen sich Massen, schaffen eine Atmosphäre, die entfernt an eine Mischung aus Woodstock und einer Robbenkolonie erinnert. Unterhalb der Uferbalustrade hocken Reiher oder Muschelsucher und vor dem Tor des alten Forts fischen die Angler. An guten Tagen holen sie armlange Schwertfische aus dem Wasser, an schlechten bloß Bierdosen. Mittags ziehen die Dienstmädchen mit den Kindern der Madame an den Strand und gießen ihre Schokoladenformen in den Sand.
Vergangenheit passé, die Zukunft ungewiss, morgen ist auch noch ein Tag, doch heute will ich leben! Das ist die Philosophie der Bewohner von Rio. Man braucht nur hinzuhören, was die "Cariocas" so ratschen: "Gott heilt, aber der Arzt schickt die Rechnung", "Wenn der Arme auf Fleisch beißt, ist es seine Zunge", "Die Weihnachtsgans stirbt erst zu Heiligabend", "Glaube an Gott, aber nicht an Politiker" - das sind so die Sprüche.
Draußen auf den Gassen der Altstadt ist um die Mittagszeit kein Durchkommen mehr, das Pack der schreienden Wegelagerer, Bettler und Händler, der Schuhputz-Jungen und diskreten Taschendiebe, der Rinnsteinfabrikanten und Wunderheiler verquirlt mit den Schwärmen heiratsfähiger Sekretärinnen, fescher Bürohengste und alter Amtsschimmel. Um diese Zeit ist auch die "Bar-Luiz" in der Rua da Carioca knüppeldicke voll - da gibt es das beste Bier von Rio frisch vom Fass, blond oder braun, mit Sauerkraut, Roastbeef, Knacker oder Kassler und grauslich grünem Senf.
"Ehrwürdiges Rio, ewiges Rio
Ozean-Rio, Freund-Rio
Geht die Regierung? Soll sie doch!
Du bleibst und ich mit Dir",
dichtete Carlos Drummond de Andrade 1960, als die Beamten in die Hauptstadt aus der Retorte, Brasília, umzogen. Seither leidet die Prinzessin: Die Fabriken und Banken stehen in Sao Paulo, der Hafen von Santos schlägt zehnmal mehr um, und die Touristen bleiben aus. Aber die Seele Brasiliens wohnt immer noch in Rio de Janeiro, beteuern die Cariocas und die Brasilianer gestehen es ihnen neidlos zu. Doch Elend und Gewalt haben tiefe Wunden in diese Seele geschlagen. Hinter dem Rücken des segnenden Christus, jenseits der Berge in der "Baixada Fluminense", wuchert Südamerikas größter Slum. Nur das Meer ist für alle da.
Vor dem "Rio Palace Hotel" gleich neben dem alten Fort von Copacabana, spielen die Rentner im Schatten der Bäume Schach. Der Lärm auf der Avenida Atlantica scheint die Alten nicht zu stören. Jenseits der Straße, unten am Strand, liegen Fischerboote vertäut. Unter einer Baumwurzel versteckt ist der Altar für Yemanja, die Macumba-Göttin des Meeres, gedeckt. Carl D. Goerdeler
Der Autor lebt in Rio de Janeiro und berichtet als freier Korrespondent aus Südamerika.