Das ISET war die wissenschaftliche Beratungsinstitution des von der Bundesregierung über 16 Jahre geförderten "250 Megawatt-Wind-Programms". Im Rahmen dieses weltweit größten Windenergie-Projekts wertete das ISET die Erfahrungen an 1.500 Windrädern aus. Schmid bemerkt nicht ohne Stolz, dass dieser vor Jahren noch belächelte Industriezweig binnen 20 Jahren allein in Deutschland mehr als 60.000 Arbeitsplätze geschaffen habe. Die größte deutsche Firma auf diesem Gebiet, Enercon in Aurich, beschäftigt weltweit über 8.000 Mitarbeiter und erwirtschaftete 2004 einen Umsatz von 1,2 Milliarden Euro. Das entsprach einem Weltmarktanteil von fast 14 Prozent. Enercons Anteil an internationalen Windtechnologie-Patenten lag gar bei 40 Prozent.
Die Windkraft und die Photovoltaik sind nur noch zwei Standbeine des ISET. Längst forschen die Kasseler Wissenschaftler auch über Biomasse-Nutzung und Meeresenergiekraftwerke - ein Bereich, dem ein hohes Potenzial auch von der Industrie zugeschrieben wird. Die ISET-Experten schätzen, dass die unterschiedlichen Zweige der Meeresenergie in ausgereifter Form - ohne Offshore-Windanlagen - insgesamt 5.000 Terrawattstunden pro Jahr liefern könnten, was einem Drittel des Weltstromverbrauchs entspräche.
Dass sein Institut eigentlich den Namen ändern müsste, kümmert den unaufgeregt argumentierenden, grauhaarigen Dekan des Fachbereichs Elektrotechnik/Informatik an der Universität Kassel wenig: "Wenn man Solarenergie als erneuerbare Energie versteht, passt es schon, denn indirekt hängt alle Energie mit der Sonne zusammen." Das gelte auch für die Energiepotenziale der Ozeane, deren Wasser verdunste und woanders zu Regen werde, um dann wieder in Flüsse zu fließen, die schließlich im Meer endeten.
Doch nicht nur der Zyklus von Sonne, Wind und Wasser verbindet Solar- und Meeresenergie. Auch technologisch sind beide Formen der Stromerzeugung verwandt, erklärt Jochen Bard, Diplom-Physiker und ISET-Experte im Bereich Meeresenergien. Sein Spezialgebiet sind Meeresströmungsturbinen. Auf diesem Gebiet kooperiert das ISET mit dem britischen Unternehmen ITPowers in einem von der EU und dem Bundesumweltministerium geförderten Projekt zur Entwicklung einer kommerziell nutzbaren 300 Kilowatt-Turbine. Seit 2003 steht der weltweit erste Prototyp "Seaflow" in der Nähe von Bristol vor der britischen Westküste. Zwischen zwei Flügen ins Vereinigte Königreich wirbt Bard nachdrücklich für die Zukunftsfähigkeit dieser Form von "Ocean Energy". Meeresströmungsturbinen funktionierten nach dem gleichen Prinzip wie Windkraftanlagen, so Bard, nutzen mit Hilfe eines Rotors die kinetische Energie der Wasserströmung des Meeres zum Antrieb eines elektrischen Generators. Bard schätzt, dass die Meeresströmungstechnik bis zu 800 Terrawattstunden pro Jahr (TWh/a) liefern könnte.
Auch andere Formen der Meeresenergieforschung machen sich das in der Windenergie erprobte Prinzip zueigen. So nutzen Gezeitenkraftwerke mit Hilfe eines langen Dammes, den Tidenhub, um Wasserturbinen anzutreiben. An der französischen Atlantikküste bei St. Malo steht seit 1966 das größte Gezeitenkraftwerk der Welt mit einer Gesamtleistung von 240 Megawatt. In Kanada, Portugal, Brasilien sind Gezeitenkraftwerke in Betrieb oder in Planung. Ökologisch wie ökonomisch problematisch findet Bard die notwendigen langen Staumauern. Der Bau sei teuer und greife in die Natur ein. Er lasse sich nur dort sinnvoll realisieren, wo Dämme für den Küstenschutz geplant seien. Außerdem könne ein Gezeitenkraftwerk nur bei Flut Strom erzeugen, in der Restzeit müssten entweder konventionelle Kraftwerke einspringen oder ein zweites Gezeitenkraftwerk, bei dem die Tide genau dann auftrete, wenn sie beim ersten abebbt. In Schottland gebe es Standorte, wo sich zwei Gezeitenkraftwerke gut realisieren ließen. Insgesamt schätzt er das Potenzial dieses Bereichs auf 400 TWh/a.
Das theoretisch größte Potential ordnen die Forscher den thermischen Energien des Meeres zu. 10.000 TWh/a könnten Meereswärme-Kraftwerke liefern. Sie nutzen die Temperaturunterschiede zwischen der wärmeren Wasseroberfläche und dem kälteren Tiefenwasser. Dabei wird ein Arbeitsmedium - meist Ammoniak - in einem geschlossenen System durch das wärmere Wasser verdampft. Es treibt durch seine Ausdehnung einen Generator zur Stromerzeugung an. Das kalte Wasser sorgt in einem zweiten Schritt für die Abkühlung und Verflüssigung des Mediums, um dann den Zyklus wieder von vorne beginnen zu lassen. Dieses Modell arbeitet wie ein konventionelles Dampfkraftwerk, wobei im Meer nur Arbeitsmedien mit niedrigen Siedetemperaturen verwandt werden können. Da Wärmekraftanlagen aber nur dann viel Strom erzeugen, wenn die Temperaturunterschiede groß sind, besitzen Meeresanlagen nur geringe Wirkungsgrade.
Ein sehr hohes Potential von 2.000 TWh/a attestiert Bard den Osmosekraftwerken, die in Küstennähe gebaut die Konzentrationsunterschiede zwischen dem Süßwasser der Flüsse und dem Salzwasser der Meere nutzen könnten. Osmose tritt dann auf, wenn zwei unterschiedlich konzentrierte Flüssigkeiten über eine Membrane miteinander in Kontakt treten. Bei den Osmosekraftwerken ist die Membran halbdurchlässig, erlaubt nur, dass das leichtere Süßwasser in den Bereich des schweren Salzwasser läuft und damit einen osmotischen Druck in Höhe von 25 bar erzeugt, der eine Turbine antreiben könne. "25 bar entsprechen der Höhe eines Wasserfalls von 250 Meter", illustriert Bard die technischen Dimensionen. Allerdings stecke diese Technik noch in den Kinderschuhen.
Da Wellen eine zwar zeitlich und räumlich unregelmäßige, doch unerschöpfliche Form der Meeresenergie darstellen, hat die Forschung auch auf diesem Gebiet Prototypen entwickelt. Denn Schätzungen zufolge könnte eine Wellenbewegung von 15 bis 30 Kilowatt pro Meter Küstenlinie auf einem Küstenabschnitt von bis 60 Kilometer immerhin ein Kohle- oder Kernkraftwerk ersetzen. Zu den bereits erforschten Modellen der Wellenenergieerzeugung gehören etwa der "Wave Dragon", bei dem die Wellen über eine hohe Rampe laufen, dann in einen Behälter geleitet werden und dort eine Turbine antreiben - oder die auf dem Meeresboden verankerten Bojen, die durch Wellen bewegt Strom erzeugen. Allerdings weist Schmid darauf hin, dass die meisten Anlagen in der Erprobungsphase untergingen oder durch Wellen zerstört wurden. Da diese Form der Stromproduktion wie Windkraftanlagen von Wetterschwankungen abhängig sind, ist es für Schmid noch unsicher, ob sie ein vergleichbares technisches Potenzial wie Meeresturbinen haben.
Optimistischer scheint dagegen die Energiewirtschaft zu sein. So will die Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) das erste deutsche Wellenenergie-Kraftwerk an der deutschen Nordseeküste entwickeln. Es soll eine Leistung von 250 kW erreichen und könnte pro Jahr rund 120 Haushalte versorgen. "Das geplante Kraftwerk dient primär als Versuchsanlage und als Referenzkraftwerk zur Weiterentwicklung einer zwar hoffnungsvollen, aber noch relativ jungen Technologie", so Pressesprecher Dirk Ommeln. Dabei will EnBW die Oscillating Water Column-Technik verwenden, die Jahrhundertstürme überleben kann. Ein Arbeitsmedium wird durch Wellen in einem Röhrensystem bewegt, das eine Turbine antreibt. Ein erstes Modell steht vor der schottischen Küste und produziert seit dem Jahre 2000 die noch geringe Leistung von 200 Kilowatt. Dass sich der in Karlsruhe ansässige Konzern auf dieses für sie neue Feld wagt - allerdings gemeinsam mit der Wasserkraft- und offshore-erfahrenen Firma Voith Siemens Hydro Power Generation (Heidenheim) und in Partnerschaft mit dem Land Niedersachsen -, hat Insider der Branche überrascht. Für Ommeln stehen aber erneuerbare Energie durchaus im "strategischen Fokus der EnBW" und müssten erforscht werden.
In Deutschland versprechen die Gegebenheiten an Nord- und Ostsee wenig für eine Nutzung der Meeresenergie. Irland, Norwegen und Großbritannien, auch Frankreich besitzen dagegen ein hohes Potential. Gleichwohl gebe es deutsche Interessen im Bereich der Ocean Energy, betont Schmid: Die deutsche Energiewirtschaft sei stark am Weltmarkt vertreten, die deutsche Kraftwerks-, Turbinen- und Windkraftanlagen-Industrie ebenso. Umweltpolitisch wären dank der Einführung der Emissionszertifikate auch emissionsarme Projekte außerhalb Deutschlands anrechenbar. Je höher die Energiekosten weltweit - angetrieben durch den Ölpreis - stiegen, desto konkurrenzfähiger werde Strom aus alternativen Energien, so Schmid.
Politisch ist der Ausbau der Meeresenergie gewollt. Das von der rot-grünen Bundesregierung im Jahre 2000 verabschiedete Erneuerbare Energiengesetz erwähnt ausdrücklich alle Formen der Meeresenergie. Auch die EU fördert deren Weiterentwicklung. Außerdem gehöre Deutschland zu den führenden Nationen im Bereich der Erforschung regenerativer Energien, so Schmid, der auch Mitglied im neunköpfigen Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) ist. Der WBGU hat Ende Mai 2006 einen Bericht zur Zukunft der Weltmeere und des Küstenschutzes mit dem einprägsamen Titel "Zu warm, zu hoch, zu sauer" vorgelegt. Darin fordern WBGU-Experten, dass 30 Prozent der Weltmeere unter Naturschutz gestellt werden müssten, damit sich die übersäuerten, überfischten und zu warmen Ozeane regenerieren könnten. Meeresenergie könnte den Verbrauch fossiler Brennstoffe zurückdrängen und damit die Umweltbelastung für die Meere reduzieren, so Schmid. Bedeutung könnte der Strom aus dem Meer für Entwicklungs- und Schwellenländer gewinnen. Südamerika, China und Indien hätten aufgrund der langen Küstenlänge und vieler Ballungsgebiete am Meer ein großes Potenzial. "Wenn wir China und Indien nicht ins Boot der alternativen Energieerzeugung bekommen", warnt Schmid, "brauchen wir uns im Westen kaum anzustrengen, denn dann emittieren die in kurzer Zeit mehr als die ganze Welt."
Schmid schätzt, dass Meeresströmungskraftwerke bereits in fünf bis zehn Jahren in Form großer Farmen kommerziell nutzbar seien. Prinzipiell sei es denkbar, sie mit Offshore-Windparks zu verbinden, aber selten fänden sich am gleichen Ort optimale Bedingungen für Wind- und Wellenenergie. Schmid ist fest von der Zukunftsfähigkeit der Meeresenergie überzeugt: "Auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien sind wir noch lange nicht am Ende. Wir können die Atomenergie ersetzen - wenn wir nur wollen." Er werde nicht müde, dies immer wieder zu betonen. Und mit der gleichen Stetigkeit mit der Schmid für die regenerativen Energien kämpft, dreht der Rotor des kleinen Windrads auf der Fensterbank weiter seine Runden.
Roland Löffler arbeitet als freier Journalist in Marburg-Elnhausen.
Informationen im Internet: www.iset.uni-kassel.de