Seit Stunden kämpft sich die "Roald Amundsen" durch die schäumenden Wellentäler und -berge des Atlantiks. Wenige Seemeilen südwestlich der spanischen Küstenstadt Cadiz hat es die Brigg erwischt. Nicht unvorbereitet - der Wetterbericht war eindeutig. Und Tham, der Kapitän, hatte seine 48-köpfige Besatzung vor dem Auslaufen bereits auf das Kommende eingestimmt: "Hinter Cadiz wird es wohl ein wenig unruhig werden." Ein wenig unruhig heißt sieben bis acht Windstärken auf der Beaufort-Skala - für den Berufsschiffer wenig weltbewegend, für Benny ein magenentleerendes Erlebnis.
An klugen Ratschlägen mangelt es nicht. Jeder der erfahreneren Mitglieder der Crew hat so seine Geheimrezepte: "Immer kleine Stücke Brot nachschieben", meint Dieter. "Der Magen braucht Nachschub, sonst tut das Kotzen irgendwann so weh." Klaus setzt eher auf Bananen: "Die schmecken rauf wie runter." Er hat Recht. Die Seekranken setzen derweil lieber auf die Schulmedizin. Stetig kauend oder lutschend bewegen sie sich über die schwankenden Schiffsplanken oder liegen matt in ihren Kojen: Der Strom an Reisetabletten, die in ihren Mündern verschwinden, reißt nicht ab.
Seit gut einer Woche segelt die "Roald Amundsen" nun auf ihrer Route: Von Lissabon nach Cadiz und zurück. Der Zweimaster gehört einem Verein mit dem vielsagenden Namen "LebenLernen auf Segelschiffen" (LLas) mit Sitz in Eckernförde an der Kieler Bucht - zugleich Heimathafen des Windjammers, wie die traditionellen Segelschiffe genannt werden. Die "Roald" blickt auf eine nicht sonderlich lange, dafür aber bewegte Vergangenheit zurück. 1952 wurde sie in Roßlau, damals DDR, als Tanklogger gebaut und diente der Nationalen Volksarmee als Versorgungsschiff. Damals hieß sie noch "Vilm" und Segel besaß sie auch noch nicht. Nach der Wiedervereinigung übernahm sie der Verein, baute die "Vilm" zum Traditionssegler um und taufte sie nach dem bekannten norwegischen Polarforscher auf den Namen "Roald Amundsen" - von den Vereinsmitgliedern liebevoll "Roald" genannt.
Das Konzept des Vereins ist vielseitig: Von "erlebnisorientierter Jugendarbeit" und einer "Begegnung der Generationen auf See" ist im Statut zu lesen und natürlich vom Erhalt einer alten Tradition - dem Segeln. Und das tun die rund 600 Vereinsmitglieder das ganze Jahr. Im Frühling und Sommer meist auf der Nord- und Ostsee, im Herbst und Winter in südlicheren Gefilden. Dann werden die Kanarischen Inseln oder das Mittelmeer angesteuert. Regelmäßig werden die großen maritimen Treffen besucht - die Kieler Woche, die Baltic Sail oder die Hanse Sail in Rostock, auf der die "Roald" auch dieses Jahr vom 10. bis 13. August bewundert werden kann. Dann reiht sich die Brigg - so nennt sich der Schiffstyp nach der Anordnung seiner Masten und Segel - in die Parade der anderen stolzen Windjammer ein, die die Meere befahren. Und alle paar Jahre lockt das ganz große Abenteuer: Der Törn über den Atlantik in die Karibik.
Es ist kurz nach 4:00 Uhr: Zwei Tage nach dem Ende des Sturms gleitet die "Roald" durch die spiegelglatte See. Zwischen den beiden Masten stehen sich zwei Drittel der Schiffsbesatzung gegenüber: Wachablösung. Die Crew ist in drei Wachen eingeteilt, die im Vier-Stunden-Rythmus ihren Dienst versehen. Klaus der Toppsgast - so heißen die Wachführer - klärt seine Kollegin Katrin über die vergangenen vier Stunden auf. Wie ist die Wetterlage, welcher Kurs wird gefahren, wie viele Seemeilen wurden zurückgelegt, welche Segel sind gesetzt. Für Katrin und ihre Wache, die sich gerade aus ihren warmen Betten und Hängematten gequält haben, wichtige Informationen. "Und somit", intoniert Klaus, "wünscht die abziehende Wache der aufziehenden Wache eine ..." - "guuuute Wacht", fällt der Chor seiner Truppe ein. Katrin nickt ihm dankend zu und leitet die Antwort ein: "Wir wünschen der abziehenden Wache eine ..." - "guuuute Ruuuh." Solche Traditionen werden auf der "Roald" gerne gepflegt.
Katrin teilt routiniert ihre Wache ein: Zwei Crewmitglieder in die Kombüse zum Brötchen- und Brotbacken, einer ans Ruder, einer wird zum "Ausguck" ernannt. Er muss Ausschau halten nach allem, was der "Roald" in die Quere kommen könnte, ganz gleich ob Bojen oder andere Schiffe. Steuermann Wolfgang verschwindet in die "Navi" - so heißt der enge Raum in den hinteren Aufbauten, in dem die Seekarten ausliegen, auf denen er den weiteren Kurs berechnen wird. Hier findet sich auch das ganz untraditionelle Equipment des Schiffes: Radar, GPS, Echolot - ein Schrank voll von moderner Technik.
Der Rest der Wache muss hoch - und hoch ist sehr wörtlich zu nehmen. Katrin will die Segel einholen lassen, da der Wind abnimmt. Also geht es rauf in das Rigg, über die Wanten raus auf die Rahen, an denen die Segel angeschlagen sind. Es ist dunkel und die oberste Rah, die Royal, befindet sich gute 25 Meter über den Decksplanken. Es gehört schon eine Portion Mut dazu, um diesen Weg einzuschlagen. Jedes Crew-Mitglied trägt zwar einen Klettergurt mit Karabinern zum Sichern, aber schwindelfrei sollte man schon sein.
Im Maschinenraum trommelt jetzt "Erna" ihren gleichmäßigen Rythmus. "Erna" ist der 50 Jahre alte Schiffsdiesel, der die "Roald" antreibt, wenn sie einmal in der Flaute steckt und die Segel eingeholt werden. "Ernas" Sound wird Katrins Wache bis zur nächsten Ablösung begleiten - der von jedem Segler ersehnte Wind bleibt aus. Dafür bleibt Zeit, schweigend den Sonnenaufgang über dem Meer zu genießen.
Die Schiffsglocke ruft zum Frühstück: Neben Mittag- und Abendessen einer der wenigen Anlässe, an denen fast die gesamte Mannschaft der "Roald" in der Messe unter Deck zusammenkommt. Die Backschaft - vier Crewmitglieder, die in der Kombüse für das leibliche Wohl sorgen - hat alle Hände voll zu tun: "Ist noch Käse da?", "Gibt es noch von dem leckeren Obstsalat?", "Reich mir doch mal bitte einen Kaffee rüber". Seefahrt mach hungrig.
Die Crew ist ein bunt gemischter Haufen. Ab 20 Jahren aufwärts bis in die Jahrgänge über 70 ist alles vertreten - aus allen Berufsgruppen, aus allen Teilen Deutschlands. Sogar Vertreter der alpinen Schweizer und Österreicher haben sich eingefunden. Und im Gegensatz zu längst vergangenen Tagen der Seefahrt werden Frauen an Bord auch nicht mehr als "Unglück" empfunden. Unterschieden wird allenfalls zwischen der Stammcrew und den Trainees. Sie sind zum ersten Mal an Bord und bekommen das Seemannshandwerk Stück für Stück beigebracht. Wer von ihnen in Zukunft weiter auf der "Roald" fahren will, bekommt ein Ausbildungsheft, in dem sein maritimer Werdegang festgehalten wird.
"Kannst Du bitte schauen, wo Benny ist? Er soll mal zu mir kommen." Dörtes Stimme ist schwach und leise. Mit bleichem Gesicht liegt sie in ihrer Hängematte, ein Eimer steht griffbereit daneben. Die "Roald" liegt fest vertaut und völlig ruhig am Pier von Lissabon. Die Reise nimmt ihr Ende. Am Abend wird es ein Abschiedsessen auf Deck geben, dann heißt es Abschied nehmen. Erwischt hat es Dörte trotzdem. Nach zehn Tagen auf See hat sich ihr Gleichgewichtssinn auf die ständigen Bewegungen des Schiffes eingestellt und versucht noch immer, diese auszugleichen - mit unangenehmen Folgen. "Landkrank" nennen das Seeleute. Aber die wollen ja auch möglichst bald wieder auf See - mit der "Roald" versteht sich.
Alexander Weinlein ist Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament"
Informationen im Internet: www.sailtraining.de