Er trägt keinen grauen Rauschebart. Er spricht ohne arabischen Akzent. Er kleidet sich nicht in das lange Gewand der Religionsgelehrten. Er schreit auch nicht beschwörend ins Mikrofon und ges-tikuliert dabei wild herum. Und doch predigt er bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor tausenden von Zuhörern. Seine Botschaft ist der Euro-Islam: Tariq
Ramadan, Schweizer Staatsbürger, elegant und mehr- sprachig, promovierter Islamwissenschaftler, Gastprofessor in Oxford sowie Berater des britischen Premierministers Tony Blair und dessen niederländischen Amtskollegen Jan Peter Balkenende gilt vielen Christen und Muslimen im Westen - in Anlehnung an eine französische Biografie - als "Bruder Tariq", als moderater Mann, dem man die Hand reichen kann. Dazu trägt auch seine Verurteilung von terroristischer Gewalt bei. Manch ein multikulturell Bewegter sieht in ihm sogar den "Martin Luther des Islam", den großen Reformator, der die Religion und nicht die Institution in den Mittelpunkt stellt und die Versöhnung zwischen islamischem Glauben und europäischem Rechtsverständnis hinbekommen wird. Globalisierungskritiker schätzen an ihm seine Kritik an der Dekadenz der Industriestaaten.
Doch es gibt auch andere Stimmen - insbesondere unter Frankreichs Intellektuellen -, die Ramadan unterstellen, er spräche mit zwei Zungen und wolle nicht den Islam europäisieren, sondern Europa islamisieren. Auch die USA verweigerten ihm im August 2004 die Einreise, um eine Gastprofessur anzutreten. Dass sein Großvater Hassan al-Banna der Gründer der radikal-islamistischen Muslimbruderschaft war und Ramadan zunächst mit einer Promotion über das Denken al-Bannas wegen apologetischer Tendenzen in Genf scheiterte, hilft ihm heute nicht, die Bedenken zu zerstreuen. Als Ramadan sich weigerte, auf Drängen des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy in einem Talkshowduell die Steinigung von Frauen mit einem klaren Ja zu verurteilen und sich nur zu einem Moratorium durchringen konnte, fühlten sich seine Kritiker in ihren Zweifeln endgültig bestätigt. Ist Ramadan also ein trojanisches Pferd, das die Freiheiten des Westens nutzt, um seine anti-aufklärerischen Ideen durchzusetzen?
Nach zahlreichen kritischen Biografien französischer Autoren antwortet die erste gründliche deutsche Auseinandersetzung mit der Figur und dem Denken Ramadans darauf mit Ja: "Ramadan ist gegen die Aufklärung und erkennt weder die Menschenrechte noch die Trennung von Staat und Religion an. Diese sind Zeugnisse der menschlichen Vernunft und daher eine Verletzung des Rechts Gottes." Geschrieben hat dies der seit 1972 in Deutschland lebende Islamwissenschaftler Ralph Ghadban, der 1949 als Christ im Libanon geboren wurde. Das Urteil seiner 172 Seiten starken, im Berliner Hans Schiler Verlag erschienenen Studie fällt hart aus: "Er (Ramadan) desintegriert die Integrierten und integriert nicht die Marginalen. Sein Ziel ist nicht das Ziel der Multikulturalisten, sondern das der Muslimbrüder, in deren geistiger und politischer Tradition er steht."
Ghadbans harsches Urteil, das er mit zahlreichen Zitaten aus dem umfangreichen Werk Ramadans erläutert, der es mit 43 Jahren schon auf mehr als 20 Bücher gebracht hat, wird von vielen jungen Muslimen Europas bestimmt nicht geteilt. Für die internationalen Medien bleibt der umstrittenste und einflussreichste Muslim Europas in jedem Fall ein Faszinosum. Manch einer würde ein Vermögen für nur einen Bruchteil jener Aufmerksamkeit ausgeben, die Ramadan in Zeitungen, Magazinen und Sendern rund um den Globus entgegengebracht wird. Vor Ramadans ultramoderner Homepage (www.tariqramadan.com), auf der im Westen die Sonne untergeht und im Osten sein Konterfei mystisch verklärt lächelt, würde Bill Gates erblassen.
In Zeiten, in denen die Angst im Westen vor den Mullahs im Osten und den Moscheen im eigenen Stadtviertel wächst, haben Gestalten wie Ramadan Konjunktur: Auf internationalen Podien im gesellschaftspolitischen Diskurs, in den Medien, vor allem aber in den Sälen der Vorstädte, die Ramadan wie kein anderer zu füllen versteht. Ramadan ist die muslimische Antwort auf westliche Medienstars, ob sie nun Daniel Cohn-Bendit oder Alain Finkielkraut heißen: Selbstbewusst, rhetorisch brilliant, polyglott, zuweilen hochfahrend, eine Art intellektueller Omar Sharif mit feinsäuberlichem Dreitagebart und elegantem Anzug, für den junge Muslime eine stundenlange Anreise in Kauf nehmen, nur um ihn einmal live zu erleben - Muslime in Paris, Barcelona und London, die auf ihrem iPod vielleicht auch eine von Ramadans spirituellen Rede-Kassetten heruntergeladen haben, die sich bis zu 60.000 mal verkaufen.
Für Ghadban spielt Ramadan eine "Vorreiterrolle auf dem Weg der Islamisierung der Welt". Er sieht in ihm nicht den Versöhner der Kulturen, sondern den Architekt einer sich den europäischen Werten der Freiheit und Menschenrechte verweigernden Parallelgesellschaft.
Dass sich Ramadans Plädoyer für einen selbstbewussten, spirituellen Euro-Islam statt eines aggressiven, isolierten Ghetto-Islams angesichts der Unruhen in den europäischen Vorstädten bald abnutzt, ist ebenso wenig zu erwarten wie ein Verstummen seiner zahlreichen Kritiker, die weiterhin in ihm den Islamisten und nicht den Islamreformer sehen werden. Zu dieser Debatte leistet Ghadbans Buch einen wichtigen und pointierten Beitrag.
Ralph Ghadban: Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas. Verlag Hans Schiler, Berlin 2006; 172 S., 17 Euro