Eine "breit gefächerte interkontinentale Intifada" des "politischen Islam" sah jüngst der amerikanische Historiker Daniel Jonah Goldhagen am Horizont aufziehen (SZ-Magazin vom 28. April). Zwar vermutete er, dass viele Muslime sich dieser Bewegung widersetzen würden. An dem entworfenen Bedrohungsszenario ändert die Bemerkung jedoch wenig. Europa werde bald islamisch werden, verkündete zur selben Zeit der Islamwissenschaftler Bernhard Lewis in der "Welt". Als Beruhigungspille war auch diese Botschaft nicht gemeint.
Die Gefahren durch religiöse Fanatiker sind genauso real wie das durch sie provozierte Diskussionsklima in westlichen Ländern, das zum Teil irreale Züge annimmt, wenn vom "Untergang des Abendlandes" schwadroniert wird. Jytte Klausen durchbricht diese Perspektive der Angst. In ihrem Buch "Europas muslimische Eliten" gelingt der Politologin eine nüchterne Auseinandersetzung mit muslimisch geprägten Wertvorstellungen, Denkmustern und Organisationsstrukturen. Natürlich: Ihr Thema ist auch nicht der politische Extremismus - obwohl sie ihn nicht negiert. Ihr Thema ist der "europäische Islam", der als gesellschaftliches Phänomen in öffentlichen Debatten bisher nur eine geringe Rolle spielt.
Um diesem auf die Spur zu kommen, befragte sie über 300 muslimische Führungspersönlichkeiten aus sechs Ländern, die sich in Parlamenten, kulturellen, religiösen oder gesellschaftlichen Verbänden engagieren. Wie interpretieren sie den Islam? Wie stark fühlen sie sich liberalen Werten verpflichtet? Welche Rolle spielt der Glaube im politischen Engagement? Sichtbar wird in den Antworten der meisten Befragten vor allem ein Dilemma: der ständige Rechtfertigungszwang, zu erklären, wer sie nicht sind.
Klausen gibt ihnen Gelegenheit, sich selbst zu erklären und heraus kommen Antworten, die keinen Stoff für Angstszenarien bieten. Die überwältigende Mehrheit ist säkular eingestellt, unterstützt die Grundwerte individueller Freiheiten sowie die Trennung von Religion und Politik. Sie befürwortet eine Integration auf Grundlage der Verfassungsinstitutionen der jeweiligen Länder. Gleichzeitig lehnt sie einen einseitig auf Muslime verlagerten Assimilationsdruck ab und wünscht sich eine Annäherung auch von Nicht-Muslimen. Diese Eliten identifizieren sich häufig mit der "neuen Linie" in der europäischen Politik der Muslime, die sich durch aktive Beteiligung an der nationalen Politik auszeichnet und durch bestimmte Erwartungen an Professionalität und an die Einhaltung der Regeln des nationalen politischen Diskurses.
Das Buch liefert nicht nur interssante Einblicke in sehr differenzierte Denkstrukturen, sondern auch in deren Kontext: Wie hat sich der Prozess der Einwanderung in die verschiedenen Länder vollzogen? Wie sieht die Organisationsstruktur muslimischer Verbände aus? Diese ist zum Beispiel überaus vielfältig und auch innerhalb nationaler Rahmen von vielen Konflikten begleitet, was der These von der gezielten Unterwanderung europäischer Gesellschaften durch "den Islam" entgegensteht. Wie antwortet die etablierte Politik auf die Einwanderung? Sie hat viel zu spät auf diese neuen Herausforderungen reagiert, so der Vorwurf der Autorin. "In Europa ist religiöser Pluralismus eine neue gesellschaftliche Tatsache, die ihren angemessenen Platz unter den jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen und in den öffentlichen Diskursen erst noch finden muss." Thesen von einem "Kulturkrieg" seien auf dem Weg nicht nur kontraproduktiv sondern auch gefährlich. Das Buch ist ein Plädoyer für eine Integrationspolitik des Miteinanders und die Überwindung des desinteressierten Nebeneinanders von Religionen und Kulturen. Irritierend bleibt die Verwendung des Eliten-Begriffs, da er einen Einfluss suggeriert, der doch gleichzeitig nicht erhellt wird.
Jytte Klausen: Europas muslimische Eliten. Wer sie sind und was sie wollen. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2006; 306 S., 29,90 Euro