Einleitung
Dass man auf weltgesellschaftliche Herausforderungen und Konflikte mit Dialog reagiert, liegt nahe. Und dass die Antipoden des Dialogs Kulturen seien, scheint auch plausibel zu sein. Wie sollte man auch sonst zwischen Unterschieden vermitteln? Wie sonst ließe sich das Trennende zugunsten des Gemeinsamen überwinden? Wie sonst wären Missverständnisse auszuräumen, wenn nicht durch die Kraft der vermittelnden Rede und der Anerkennung des sprechenden Gegenübers? Und wie sonst könnte man wenigstens Konsens über letzte unheilbare Dissense erzielen, wenn nicht durch den Dialog?
Die Lösungsrichtung ist damit angezeigt - und die Problemstellung ebenfalls. Das Problem wird allenthalben im Mangel an unmittelbarer Wechselseitigkeit ausgemacht, und die Lösung kann dann folgerichtig nur ihre Herstellung sein. Zur Debatte stehen nun nur noch die Inhalte: wie "der Orient" und "der Westen" zusammenkommen, wie sich "der Islam", "das Christentum" und "das Judentum" zueinander verhalten sollen, wie sich ökonomische Interessen und politische Anerkennung miteinander verbinden lassen und wie man sich auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. So ähnlich wie sich die römisch-katholische Kirche und der Lutherische Weltbund am 31. Oktober 1999 nach einem halben Jahrtausend auf eine gemeinsame Formel über die Rechtfertigungslehre geeinigt haben, erwartet man nun im weltweiten Dialog der Kulturen Dialogergebnisse, denen Ausgleich und Verständigung oder wenigstens eine Entdramatisierung des Trennenden zu entnehmen sind. Die europäischen Konfessionskriege stehen dem, was derzeit als "Kampf der Kulturen" inszeniert wird, in nichts nach. Und doch, so lässt sich dem Exempel entnehmen, hätte es nur ein wenig Dialogbereitschaft bedurft, und man hätte sich darauf einigen können, dass es zwar einen Unterschied macht, ob nun eher Glaube oder eher Gnade der Quell der Wiederherstellung der Gerechtigkeit zwischen Gott und den Menschen sei, dass es am Ende aber doch auf das Verbindende ankomme. Nach diesem Modell die Kulturkonflikte der globalen Welt zu behandeln, bietet einen wunderbaren Maßstab: Ohne von der eigenen Position prinzipiell Abschied nehmen zu müssen, lässt sich die Anerkennung des anderen im Dialog der Kulturen inszenieren.
Einen solchen zu postulieren liegt so nahe, dass man ihm wohl kaum widersprechen kann. Nur eine Frage wird selten gestellt: Wer spricht da? Wer ist es, der oder die als Kultur auftritt? Warum erscheinen Konflikte als Konflikte von Kulturen, die dann durch Dialog zu lösen sind? Um die Frage zu beantworten, werde ich zunächst einen Blick auf "Kultur" werfen - denn ein Dialog der Kulturen ist es ja, was postuliert wird.
Kultur als Beobachtungsschema und Ressource
"Kultur" ist ein Un-Begriff, weil sich letztlich nichts identifizieren lässt, was nicht Kultur ist. Es waren die modernen Kulturwissenschaften, die Ethnologie, die Geschichtswissenschaften, die Philologien und neuerdings die cultural studies, die uns mit dieser merkwürdigen Chiffre versorgt haben und vor deren Zugriff nichts sicher ist: Alles, was sich beobachten lässt, kann auch als Kultur beobachtet werden. Das Konzept Kultur scheint einen Beobachter mit einem Schema zu versorgen, das Eindeutigkeiten verspricht und Muster erkennbar macht, Regelmäßigkeiten und Erwartbarkeiten. Man weiß dann etwa, dass sich Angehörige bestimmter ethnischer oder nationaler Kulturen so und nicht anders verhalten; man weiß, dass Angehörige der Arbeiterklasse dieses oder jenes tun und rundet dieses oder jenes dann zur Arbeiterkultur auf; man möchte, dass in bestimmten Unternehmen ein bestimmter Umgangston und eine spezifische Form der Identifikation herrschen und redet dann von Unternehmenskultur - der Beispiele wären viele.
Kultur wäre dann so etwas wie ein verhaltensrelevanter Deutungsvorrat, der den Angehörigen einer solchen Kultur Hinweise an die Hand gibt, wie sie sich verstehbar zeigen können und wie sie die anderen verstehen können. Und exakt so wird dann auch der klassische soziologische Kulturbegriff gebildet: Kultur bezeichnet dann, in einer Formulierung von Hans Georg Soeffner, einen "symbolisch ausgedeuteten Sinnhorizont, in den alle unsere Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen eingebettet sind". 1 Letztlich fällt aber nach diesem Verständnis Kultur mit Gesellschaft oder zumindest mit dem Sozialen schlechthin zusammen, denn sowenig soziale Prozesse ohne symbolische Sinnhorizonte denkbar sind, sowenig sind symbolische Signifikationssysteme außerhalb sozialen Geschehens denkbar. Kultur wird dann zu einem gewissermaßen unsichtbaren Algorithmus des sozialen Lebens - unsichtbar deshalb, weil dieser Algorithmus doch offensichtlich den Handlungen selbst vorgeordnet ist, sonst könnte er nicht der Einbettung dienen.
Die Aufgabe der Kulturwissenschaften besteht einerseits darin, solche Algorithmen und ihre Signifikationssysteme zu entbergen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, andererseits ihre Praxisrelevanz, ihren Niederschlag in Handlungs- und Einstellungssyndromen zu untersuchen. 2 Letztlich dient ein solcher Begriff der Kultur dazu, exakt das zu tun, was Kultur stets soll: komplexe Sachverhalte einfach auszudrücken und Mannigfaltigkeiten auf algorithmische Muster zurückzuführen. So gerinnen Kulturen tatsächlich zu Identitäten, denen man durchaus zutrauen kann, dass sie miteinander in einen Dialog treten und sich über sich selbst und ihre Differenzen dialogisch verständigen können. 3
Diese reifizierende (vergegenständlichende) Perspektive auf "Kultur(en)" ist einer eingehenden kulturwissenschaftlichen Kritik unterzogen worden. Auf die Hybridität des Kulturellen, auf die geradezu künstliche Konstruktion kultureller Identitäten ist in den Kulturwissenschaften von sich hybride inszenierenden Sprechern hingewiesen worden, von einer nicht-westlichen Perspektive in den Metropolen des Westens, wie es Homi Bhaba formuliert. 4 Die poststrukturalistische und postkoloniale Kritik an der Produktion von "Kulturen" wurde insbesondere von solchen Autoren vorgetragen, die selbst im wahrsten Sinne des Wortes inkarnierte, Fleisch gewordene Folgen europäischer Kolonialpolitik geworden sind, lehrend an den Eliteuniversitäten Großbritanniens und Nordamerikas und damit die Hybridität des Westens symbolisierend.
Edward Said etwa prangert eine kulturwissenschaftliche "Politik der Identität" an: "Diese Politik musste davon ausgehen, ja fest daran glauben, dass alles, was für Orientalen oder Afrikaner zutrifft, ganz sicher nicht für Europäer zutreffen kann." 5 Diese (literaturwissenschaftliche) Kritik an der Konstruktion des "Orients" und seiner Kultur machte darauf aufmerksam, wie hybride auch die westliche Kultur ist - letztlich machte diese Kritik auch "den Westen" zur Kultur. Die Attraktivität dieser poststrukturalistischen Kritik für die wohlgenährte akademische Jugend des Westens besteht im wohligen Schauer, dass auch die eigene Authentizität zum Thema werden konnte, nicht immer nur die der Geknechteten, der anderen, der Fremden. Irgendwie war man nun selbst kolonisiert - durch fremde Zumutungen des eigenen Territoriums und durch die Borniertheit der eigenen universalistischen Tradition. So ein bisschen partizipiert man dann an der Würde der Verdammten und der Unterdrückten. Aber was war der Ausweg? Sollte man auf Kulturalisierung verzichten?
Was Said geradezu paradox vorschlägt, ist so etwas wie ein echter Dialog - nicht ein Dialog der Kulturen, sondern einer, der sich den reifizierenden, Identitäten konstruierenden "Kulturen" geradezu entzieht und authentische Sprecher einsetzt. Als Literaturwissenschaftler geht es Said um die Frage, wie man im Westen mit der Literatur aus Asien und Afrika umzugehen hat. Er schreibt: "Wenn wir Werke miteinander in Verbindung bringen, entreißen wir sie der Missachtung und Zweitklassigkeit, zu der sie zuvor aus verschiedenen politischen und ideologischen Gründen verurteilt waren. (...) Nur indem man diese Werke als Literatur untersucht, als Ausdruck eines Stils, als Unterhaltung und als Erhellung, kann man sie mit einbeziehen und sozusagen nicht mehr loslassen. Andernfalls wird man lediglich aufschlussreiche ethnographische Zeugnisse in ihnen sehen (...)." 6 "Als Literatur" heißt: als Text auf gleicher Augenhöhe jenseits seiner kulturellen Indizierung. Said will die "Kultur" zugunsten eines wirklichen Dialogs vermeiden - heraus kommt aber letztlich eine noch authentischere Form der "Kultur", eine Kultur nämlich, die deshalb kulturfähig ist, weil sie das repräsentieren darf, was sie ist. Dabei werden die "Kulturen" in den Singular versetzt, und nun sieht man nicht mehr "einen winzigen, hermetisch geschlossenen Winkel der Welt, sondern das große, mit vielen Fenstern ausgestattete Haus der menschlichen Kultur als Ganzheit" 7- der einen menschlichen Kultur.
Said ist insofern aufschlussreich, als er die Kultur "wegschreibt", um ihr dann doch wieder auf den Leim zu gehen. Denn die Konsequenz seiner Kulturkritik ist nicht die Abschaffung des Schemas "Kultur". Er bringt es vielmehr zu seiner eigentlichen Blüte. Jedenfalls vertraut Said nicht wie etwa Niklas Luhmann auf den intellektuell abgeklärten Umgang mit Kontingenz. Luhmann behandelt den Kulturbegriff als historischen, empirischen Begriff, der mit seiner vergleichenden Intention darauf verweist, "dass das, was verglichen wird, auch anders möglich (ist) (...), und eben das belastet die Kultur mit dem Geburtsfehler der Kontingenz". 8 Die paradoxe Wirkung des Beobachtungsschemas Kultur liegt in dem Versuch der Kontingenzbewältigung durch Betonung von Kontingenz. Es macht deutlich, dass die Dinge beobachtet werden, d.h. dass man sie auch anders sehen kann. Stabile Kulturen sind letztlich keine, denn sie sind in der Lage, ihre Beobachtung so zu kontrollieren, dass sie die Möglichkeit alternativer Beobachtungen völlig ausschließen.
Solche Stoppregeln lassen sich spätestens dann nicht mehr in die Beobachtung einbauen, wenn es zu gepflegten Formen des Vergleichs kommt, der empirisch nachweist, dass auch die eigene Beobachtung nur eine Beobachtung ist, die auch anders hätte ausfallen können. Das Beobachtungsschema Kultur ist gefangen in der Dynamik der Geschlossenheit seiner Beobachtung, seiner Unterscheidungspraxis - und Luhmann scheint den Hinweis darauf, dass man all das inzwischen beobachten kann, mit einer gewissen Hoffnung aufzuladen. Ohne es ausdrücklich zu sagen, macht Luhmann darauf aufmerksam, dass man die Sprengkraft des Kulturellen dadurch überwindet, dass man neben sich treten kann, weil man ja weiß, dass Kulturen nur Vergleichsinstrumente zur wechselseitigen Stabilisierung sind. Die historisch so folgenreiche Lösung, die Kontingenz der Unterscheidung wenigstens durch stabile Asymmetrien unsichtbar zu machen, scheint erkenntnistheoretisch gebannt. Die andere Seite - der Wilde für den Zivilisierten, der Franzose für den Deutschen, der Prolet für den Bürger, der Protestant für den Katholiken, der Orientale für den Europäer - hatte geradezu unsichtbar stets dazu gedient, die andere Seite der Unterscheidung in Anspruch zu nehmen. Das Beobachtungsschema Kultur stabilisierte sich also durch seine Instabilität. Es machte aus der Not der Geschlossenheit seiner Unterscheidungspraxis die Tugend der Stabilität, die präferierte Seite der Unterscheidung mit Erhabenheit zu belegen und so einen Wechsel zu unterbinden. Das Schema Kultur erzeugte damit stabile Kontexturen (Zusammenhänge) mit relativ eindeutigen Präferenzwerten - und erkaufte sich all das durch die permanente Konfrontation mit anderen Möglichkeiten.
Anders als Luhmann setzt Said freilich nicht auf den nun möglichen abgeklärten Umgang mit Kontingenz, sondern darauf, die Stabilität einer asymmetrischen Unterscheidung durch die Instabilität einer symmetrischen Unterscheidung zu ersetzen. Der andere soll als Kultur sichtbar werden, aber das nun auf gleicher Augenhöhe. Besonderheiten in der einen menschlichen Kultur machen Sprecher sichtbar, deren Authentizität von nun an nicht mehr relativiert werden kann - weder durch den abgeklärten Hinweis auf den Geburtsfehler der Kontingenz noch durch legitime Asymmetrien der klassischen Beschreibung von Kulturen. 9 Es sind immer neue, authentische Sprecherpositionen, die aus einer solchen Praxis entstehen. Die Legitimation des Sprechens wird das Sprechen selbst. Wer authentisch als Kultur spricht, muss nur sprechen, um sich zu legitimieren - er ist dann kein ethnographisches Beispiel mehr, das man als Kuriosum auf dem Jahrmarkt fremdartiger Merkwürdigkeiten vorzeigen kann, sondern Sprecher. Man kann ihn verachten. Aber man muss ihn anhören.
Ist eine solche Etablierung symmetrischer Sprecherverhältnisse nicht die beste Voraussetzung für den Dialog der Kulturen? Ja und Nein! Ja, weil tatsächlich ein Dialog entsteht, nein, weil dieser ganz anders aussieht, als man es sich womöglich erträumt hatte. Ich komme auf dieses Argument zurück. Zunächst sei jedoch betont, dass mit der Erfahrung der Multiplikation von Sprechern auf gleicher Augenhöhe nicht nur mehr Kommunikation stattfindet und nicht nur mehr Sprecher sichtbar werden, sondern auch weniger Widerspruch denkbar wird. Kulturell authentische Sprecher lassen sich letztlich nicht kritisieren - sie nutzen die Ressource, authentische Kultur zu sein, und erzeugen damit authentische, politisierbare Kollektive, die strategisch in Anspruch genommen werden können. An der Politisierbarkeit solcher Positionen erweist sich ihre Modernität, und die Ressource "Kultur" kann dann sogar westliche Großstädter mit für sie eher gewöhnungsbedürftigen normativen Erwartungen versöhnen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Shalini Randeria etwa beschreibt, wie indisches Kastenrecht dadurch zivilgesellschaftliche Qualität bekommt, dass es politisierbar wird und seine kulturelle Bedeutung reflektiert. 10 Veena Das führt den Nachweis, dass so genannte kulturelle Rechte vor individuellen Rechten durchaus bestehen können, wenn sie in der Lage sind, ihre Kollektivitätsorientierung zu reflektieren. 11
Die moderne Weltgesellschaft nimmt an sich selbst wahr, dass es kein Außen mehr gibt, dass aber die Innenverhältnisse komplizierter geworden sind. Man trifft nicht nur auf authentische, sondern auch auf selbstbewusste "Kulturen", die insofern "modern" geworden sind, als sie dieselben praktischen Formen in Anspruch nehmen, mit denen sie vom modernen Westen traktiert wurden: elektronische Medien, politische Mobilisierbarkeit, die Theodizee der Zukunft 12 und nicht zuletzt das politische Versprechen der Versöhnung individueller Lebensentwürfe und kollektiver Lösungen in selbstbewussten Staaten. Insofern wiederholt sich womöglich im Orient das, was zuvor in Europa stattgefunden hat: Haben "wir" zunächst den "Orient" erfunden, erfindet dieser nun den "Westen" neu und zwingt uns zu authentischer Stellungnahme. Wer "kulturell" vorgibt, dass seine religiösen Gefühle durch Karikaturen verletzt wurden, die er nie gesehen hat, dem werden wenigstens Gefühle solcher Art zugestanden - und bald muten wir uns selbst womöglich ähnliche Gefühle zu.
Dialog der Kulturen als "Kultur"
In der globalisierten Weltgesellschaft, in der sich Beobachter und Sprecher wechselseitig wahrnehmen und aufeinander reagieren, kommt man am Beobachtungsschema Kultur nicht vorbei. Insofern ist die Kulturalisierung, die Ethnisierung und Konfessionalisierung globaler und lokaler politischer Konflikte in der Weltgesellschaft unvermeidbar. Selbst wer auf die alten Asymmetrien pochen will, sieht sich der Erfahrung ausgesetzt, dass es auf kugelförmigen Gebilden keine Peripherie geben kann. Die Welt wird multizentrisch, sie etabliert Sprecher überall - und macht sie damit zu "Kulturen", die verglichen werden wollen. Nur diejenigen, die den "Dialog der Kulturen" propagieren, ob mit den noch protestierenden Mitteln Edward Saids oder mit der ethischen Maxime einer "Dialogkultur", scheinen die Kulturalisierung zu unterlaufen und wirkliche Sprecher zu installieren, die einerseits zu ihrem kulturellen Gewand stehen, es aber nicht mehr wie einen Herrenmantel vor sich hertragen. Diese Position setzt tatsächlich voraus, was sie anstrebt: eine "Kultur" des Dialogs - doch das führt, wie man an Said demonstrieren kann, doch wieder nur zur Kulturalisierung von Positionen.
Die Position, man müsse einen "Dialog der Kulturen" führen, wird selbst zur "Kultur". Man denke an zwei prominente Protagonisten einer solchen, die Kulturen unterlaufenden Kultur: etwa an Hans Küngs wahrhaftkatholische Idee des "Weltethos", das, Gleichheit und Verschiedenheit versöhnend, letztlich in der Aufhebung aller Kultur kulminiert: "Jeder Mensch muß menschlich behandelt werden." 13 Ähnlich hört sich das bei Ulrich Beck an: "Kosmopolitismus meint: die Anderen als verschieden und gleich zu bejahen." 14 Auch das sind authentische Sätze, denen man nicht widersprechen kann. Sie nehmen nicht die Dignität der Herkunft und des Autochthonen in Anspruch, sondern die Dignität des Ethischen und ziehen damit doch wieder kulturalisierende Grenzen, denn die ethische Reflexion der Moral reflektiert nur selten, dass Moral nur dann greift, wenn man sie nicht braucht: wenn alle Beteiligten denselben moralischen Standards folgen oder sich wenigstens von ihnen beeindrucken lassen. So nimmt die Ethik des Dialogs selbst die Form der Kultur an, indem sie Sprecherpositionen etabliert - zweifellos aber andere Sprecherpositionen anderer Sprecherpositionen. Das Merkwürdige an dieser "Kultur des Dialogs der Kulturen" besteht darin, dass sie wie jegliche kulturelle Stellungnahme nur die Zahl der Sprecher erhöht und damit darauf hinweist, dass das, was sie einfordert, geradezu unmöglich ist. Auch hier wird Kultur als Ressource verwendet - nicht freilich eine bestimmte ethnische oder nationale, eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Stellungnahme zur Welt, sondern der Versuch, all das aufzuheben. Aber auch das muss gesagt werden, auch das erfordert sichtbare Sprecher - und ist damit doch nur eine kulturelle Stellungnahme unter vielen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich spreche hier weder gegen ein Weltethos, das den Menschen menschlich behandeln will, noch soll irgend etwas gegen den Kosmopolitismus einer neuen soziologischen Moralwissenschaft gesagt werden. Demonstrieren möchte ich nur, dass auch der Appell, die kulturellen Grenzen zu überwinden, nur eine kulturelle Stellungnahme sein kann und letztlich ästhetisch eine ähnliche Form annimmt wie all jene, die Kultur als Ressource in Anspruch nehmen. Auf den "Dialog der Kulturen" zu setzen, ist damit selbst eine kulturalisierende Reaktion auf die Differenzen und Unterschiede, die sich in weltgesellschaftlich inszenierbaren Konflikten zeigen. Auf den "Dialog der Kulturen" zu setzen bedeutet, sich in Differenz zu setzen zu solchen "Kulturen", die sich dem verweigern.
Der Dialog der Kulturen findet längst statt
Die Erfahrung der Globalisierung der Weltgesellschaft hat nicht nur mit der realen Intensivierung ökonomischer und politischer Verflechtungen zu tun - Verflechtungen, die ohnehin viel älter sind, als unsere historische Mikroperspektive auf das 20. und 21. Jahrhundert es nahe legt. Das Neue an der Globalisierung der Weltgesellschaft ist die Erfahrung der gleichzeitigen und wechselseitigen Sichtbarkeit anderer Räume. Weltgesellschaftliche, globale Ereignisse finden überall statt - soweit sie auch (wenigstens potenziell) überall sichtbar gemacht werden.
Dass man in arabischen Metropolen vor einer Weltöffentlichkeit dänische Flaggen verbrennt, hat seinen sozialen Sinn nicht in dem pyrotechnischen Akt selbst, sondern in seiner weltweiten Sichtbarkeit nahezu in Echtzeit. Lokale politische Mobilisierungen werden damit nicht nur sichtbar, sondern entstehen erst durch ihre potenzielle Sichtbarkeit. Letztlich treten solche weltpolitischen Ereignisse als Dialog der Kulturen auf, d.h. sie bekommen auch ihren lokalen Sinn nur dadurch, dass sie anderswo anders gelesen werden. Es ist dies eine dialogische räumliche Struktur. Die Mobilisierung islamischer Empörung im "Orient" und die Erstarkung evangelikaler Fundamentalismen im bible-belt in den USA, die Instrumentalisierung von Nukleartechnik als Symbol nationalkultureller Autonomie im Iran oder die eigentümliche chinesische Interpretation der Menschenrechte als kulturelle Eigenart sind bereits ein Dialog, der Kultur in Anspruch nimmt: Kultur als Sprecherposition, die allein schon aufgrund ihrer Existenz gehört werden muss. Die eigentümliche "Kultur" westlicher Universalisten dagegen scheint darin zum Ausdruck zu kommen, dass sie die kosmopolitische Anerkennung der anderen "als verschieden und gleich" bejaht. Sie setzt sich damit - wie alle Kultur - dem Vergleich aus, ist ganz anders als andere "Kulturen" und damit selbst: Kultur.
Damit jedenfalls ist wenigstens erwiesen, dass es zum "Dialog der Kulturen" keine Alternative gibt - weder normativ in dem Sinne, dass man ihn suchen muss, wo es geht, noch analytisch in dem Sinne, dass er bereits stattfindet, als Ausdruck einer Weltgesellschaft, deren Einheit zumindest darin besteht, dass man in ihr sehen kann, dass dieselbe Welt aus unterschiedlichen Perspektiven sehr unterschiedlich erscheint. Es entsteht weltweit eine Situation, die man soziologisch "Interaktion" nennen könnte. Der Begriff meint Kommunikation unter Anwesenden, die sich wechselseitig wahrnehmen und deshalb schnell und unmittelbar aufeinander reagieren müssen. Man nimmt wahr, dass man wahrgenommen wurde, und kann nun nicht mehr ausweichen, denn das Ausweichen selbst würde als Kommunikation registriert werden. Man kann Kommunikation nicht mehr vermeiden. Üblicherweise stellen wir uns Gesellschaft als eine Einheit vor, die vor allem durch Abwesenheit geprägt ist, durch die Abwesenheit anderer Kontexte und Räume. "Kulturen" freilich scheinen sich derzeit, vermittelt über eine schnelle Weltpresse, im Modus der wechselseitigen Sichtbarkeit zu begegnen und erzeugen dadurch Identitäten, von denen man meinen könnte, dass sie tatsächlich "sprechen". Es entsteht damit ein "Dialog der Kulturen", ob wir wollen oder nicht, vor allem anders, als wir womöglich wollen. Man muss dann sogar jemandem wie dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zuhören, der die Klaviatur dieser Art Dialog jedenfalls meisterlich beherrscht.
Gegen meine Gedankenführung kann man einwenden, das sei ja gar kein "echter Dialog" - aber das ist ja gerade der empirische Punkt: Den "echten Dialog" kann man normativ fordern, geführt wird ein anderer. Es gibt kein Entkommen: Wer den "echten" Dialog fordert, befindet sich bereits mitten im kulturalisierenden Spiel und muss dann auch Ungeheuerlichkeiten ertragen. Das ist kein versöhnliches Argument, aber es hilft, die Kultur des "Dialogs der Kulturen" in ihren "kosmopolitischen" Dimensionen sowie in ihren selbst kulturalisierenden Grenzen zu erkennen.
Um noch einmal auf den gelösten Kulturkonflikt um die Rechtfertigungslehre zu sprechen zu kommen: An diesem Beispiel kann man lernen, dass der "Dialog der Kulturen" wohl erst dann gelingt, wenn man ihn nicht mehr braucht. Hier waren es Theologen der beiden Seiten, die zwar immer noch mit Unbehagen, aber in der zivilisierten Atmosphäre des akademischen Diskurses zu einer Verständigung über Trennendes gekommen sind. Der Dialog funktionierte vor allem deshalb, weil er keine praktisch-politische Bedeutung mehr hat. Es ist leider unmöglich, dieses Beispiel auf das zu übertragen, was Gegenstand des "Dialogs der Kulturen" ist. Am besten würde er in der Tat gelingen, wenn man ihn praktisch-politisch nicht bräuchte - im Stile des west-östlichen Diwans vielleicht, womöglich als kulturwissenschaftlich-philologischen Diskurs über apokryphe Texte oder in Form eines Theologenpapiers, das keiner liest, das es aber dennoch für zwei Tage in die Weltpresse schafft - und noch wichtiger: das danach wieder verschwindet.
1 Hans-Georg
Soeffner, Kulturmythos und kulturelle Realität(en), in: ders.
(Hrsg.), Kultur und Alltag. Soziale Welt, Sonderband 6,
Göttingen 1988, S. 3 - 20, hier: S. 12.
2 Vgl. etwa Karin Knorr-Cetina/Richard
Grathoff, Was ist und was soll kultursoziologische Forschung?, in:
ebd., S. 21 - 36, sowie Margaret S. Archer, Sociology for One
World. Unity und Diversity, in: International Sociology, (1991) 6,
S. 131 - 147.
3 Vgl. Armin Nassehi, Geschlossenheit
und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft,
Frankfurt/M. 2003, S. 231ff.
4 Vgl. Homi K. Bhaba, The Location of
Culture, London-New York 1994; vgl. auch Gayatri Chakravorty
Spivak, In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, London-New
York 1987; Edward Said, Orientalism. Western Concepts of the
Orient, Harmondsworth 1991; Paul Gilroy, The Black Atlantic.
Modernity and Double Consciousness, London 1993.
5 Edward Said, Die Politik der
Erkenntnis, in: Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen
(Hrsg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen
Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 81 - 96, hier: S.
85.
6 Ebd., S. 92.
7 Ebd., S. 93.
8 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur
und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S. 48.
9 Vgl. Irmhild Saake/Armin Nassehi: Die
Kulturalisierung der Ethik. Eine zeitdiagnostische Anwendung des
Luhmannschen Kulturbegriffs, in: Günter Burkart/Gunter Runkel
(Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt/M. 2004, S. 102 -
135, hier: S. 114f.
10 Vgl. Shalini Randeria, Verwobene
Moderne: Zivilgesellschaft, Kastenbindungen und nicht-staatliches
Familienrecht im (post)kolonialen Indien, in: dies./Martin
Fuchs/Antje Linkenbach (Hrsg.), Konfigurationen der Moderne.
Diskurse zu Indien, Soziale Welt, Sonderband 15, Baden-Baden 2004,
S. 155 - 178.
11 Vgl. Veena Das, Gemeinschaften als
politische Akteure. Die Frage der kulturellen Rechte, in: ebd., S.
137 - 154.
12 Unter der "Theodizee der Zukunft"
verstehe ich das Versprechen, dass aus politischer Mobilisierung
Lösungen für die Zukunft erwartet werden können -
ein Modell, das das Nationalstaatssystem des 19. Jahrhunderts in
Europa etabliert hat und das nun in allen Weltregionen strukturell
wiederholt wird. Vgl. dazu Armin Nassehi, Der soziologische Diskurs
der Moderne, Frankfurt/M. 2006, S. 384ff.
13 Hans Küng, Weltethos für
Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997, S. 154.
14 Ulrich Beck, Der kosmopolitische
Blick, oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt/M. 2004, S. 92.