Die von 1912 bis 2000 ununterbrochen regierende Kuomintang (KMT) - die heutige Opposition - hatte ein Amtsenthebungsverfahren gegen Chen eingeleitet. Ein solches Verfahren, einen Politiker mit legitimen Mitteln aus dem Amt entfernen zu können, gehört zu den demokratischen Instrumenten - ähnlich wie das Impeachment-Verfahren in den USA oder dem Konstruktiven Misstrauensvotum in Deutschland. Der Präsident war politisch unter Druck geraten, weil sein Schwiegersohn verdächtigt wurde, Insidergeschäfte getätigt zu haben und deshalb sogar in Untersuchungshaft genommen wurde. Auch Chens Ehefrau geriet ins Fadenkreuz öffentlicher Angriffe, weil die "First Lady" millionenschwere Gegenleistungen für ihre Lobbyarbeit erhalten haben soll. Jedoch konnte die parlamentarische Opposition die hohen Hürden für ein Amtsenthebungsverfahren, die die Verfassung der Republik China auf Taiwan festgeschrieben hat, nicht überspringen: Die vorgegebene Drei-Viertel-Mehrheit im Legislativ Yuan konnte sie Ende Juni nicht erreichen. Doch selbst wenn sie diese Hürde genommen hätte, hätten die Taiwaner noch mittels eines Referendums ihr Votum abgeben müssen. Und auch hier hätte die Opposition kaum die von der Verfassung geforderte Mehrheit erhalten.
Die Vorwürfe gegen den Präsidenten wiegen umso schwerer, da Chen und seine DPP stets gegen Korruption sowie für Sauberkeit in der Politik eintraten. Gerade die Progressiven warfen der KMT bis in jüngster Zeit immer wieder vor, sich während ihrer langen Regierungszeit bereichert zu haben und korrupt gewesen zu sein. Die Glaubwürdigkeit Chens und die der DPP hat in der öffentlichen Meinung des Inselstaats erheblich gelitten. Die Chancen der KMT-Opposition mit ihrem Vorsitzenden, Taipeis Bürgermeister Ma Ying-jeou, die nächsten Präsidentschaftswahlen 2008 zu gewinnen, haben sich nunmehr dramatisch verbessert. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Ma das Image des Korruptionsbekämpfers hat. Wegen seines rigiden Vorgehens gegen die Korruption auf Taiwan musste er als Justizminister vor einigen Jahren aus dem Regierungsamt scheiden.
Doch wie konnte Taiwan den Weg zur Demokratie erfolgreich bewältigen? Revolutionen, die zur Demokratie führten - so lehrt uns die Geschichte -, kommen stets von unten. Herrschende geben eben die Macht nur allzu ungern freiwillig aus den Händen. Eine Revolution von oben dagegen gab es in der Republik China auf Taiwan. Die nahzu 90 Jahre ununterbrochen regierende konservative KMT leitete von sich aus den Prozess der Demokratisierung des Inselstaates ein - und musste letztendlich ihre Macht nach demokratischen Wahlen an die noch relativ junge Opposition abgeben.
Als Tschiang Kai-shek 1949 mit einem großen Teil seiner Truppen von China auf die dem Festland vorgelagerte Insel Taiwan fliehen musste, setzte er die zwei Jahre zuvor in Nanking von der Nationalverfassung beschlossene Verfassung außer Kraft. Unter dem Eindruck der Bedrohung durch Mao Zedong und seinen revolutionären Truppen verfügte diese parlamentarische Versammlung 1948 noch auf dem Festland "Zeitweilige Bestimmungen für die Zeit der kommunistischen Rebellion". Diese festigten noch einmal die eh schon starke Stellung des Staatspräsidenten - Tschiang Kai-shek - und gaben ihm dadurch zusätzliche Kompetenzen. Auf dieser Basis wurde 1950 das Kriegsrecht über Taiwan verhängt, mit dem eine Reihe von der in der Verfassung von Nanking festgelegten Grundrechte eingeschränkt wurden.
Erst am 15. Juli 1987 hob Tschiang Kai-sheks Adoptivsohn und Nachfolger als Staatspräsident Tschiang Ching-kuo das Kriegsrecht auf. Jedoch hielt vor der latenten Bedrohung durch das Regime in Peking das nun verkündete "Nationale Sicherheitsgesetz" daran fest, dass die Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weder die Bestimmungen der Verfassung verletzten durfte, noch durfte es zu einer "Befürwortung von Kommunismus oder Separatismus" kommen. Gleichzeitig gingen eine Reihe von Kontrollbefugnissen vom "Kommando der Garnison Taiwan", der Kriegsrechtsbehörde, an die Polizei über. Zivilisten konnten nicht mehr von einem Militärgericht abgeurteilt werden. Auch eine politische Opposition durfte sich legal bilden. Zudem war es von nun an den Bürgern Taiwans - mit Ausnahme von Soldaten und Beamten - gestattet, die Volksrepublik zu besuchen, was zuvor strengstens verboten und unter Strafe gestellt war.
Nach dem Tod von Tschiang Ching-kuo übernahm Lee Teng-hui das Präsidentenamt und setzte den von seinem Vorgänger begonnenen Demokratisierungsprozess fort. Er ließ von der Nationalversammlung eine neue Verfassung erarbeiten und verabschieden. Als Vorbild galt das deutsche Grundgesetz. Ganze Heerscharen von Politikern und Juristen ließen sich in dieser Zeit von deutsches Verfassungsrechtlern und Parlamentariern sowohl über die Struktur als auch über einzelne Artikel des Grundgesetzes informieren.
Allerdings stand Taiwan vor einer von der Teilung Chinas bedingten verfassungsrechtlichen Besonderheit: Die 1947 noch auf dem Festland gewählte Nationalversammlung hatte 2.961 Abgeordnete. Nach dem Rückzug Tschiang Kai-sheks auf die Insel war eine Wahl dieses Verfassungsorgans nicht mehr möglich. Die Amtszeit dieser Abgeordneten war "ewig", das heißt, eine legitime Wahl wäre erst nach der Wiedervereinigung Chinas möglich gewesen, die Nachwahl von ausgeschiedenen Abgeordneten somit ausgeschlossen. Allerdings war der Präsident autorisiert, "während der Dauer der kommunistischen Rebellion" - fast ausschließlich durch Tod - ausgeschiedene Parlamentarier zu ersetzen. So betrug Ende der 80er-Jahre das Verhältnis zu den auf dem Festland gewählten Abgeordneten zu denen aus Taiwan stammenden Parlamentariern in der Nationalversammlung der Republik China zehn zu eins.
Auch in der anderen Kammer des Parlaments, dem Legislativ Yuan, betrug das Verhältnis zu dieser Zeit rund 180 (Festland) zu rund 150 (Taiwan). Diese zum Teil hochbetagten "ewigen" Abgeordneten mussten mit hohen Summen, man sprach von rund einer Million US-Dollar pro Person, abgefunden werden, damit sie ihr Mandat Ende 1991 "freiwillig" niederlegten und so 1992 den Weg für Neuwahlen frei machten.
Während die Wahlperiode des Legislativ Yuans drei Jahre beträgt, wird der Staatspräsident auf vier Jahre - seit 1996 direkt - zuvor von der Nationalversammlung - gewählt. Es reicht die einfache Mehrheit der Stimmen. Nachdem Präsident Lee Teng-hui 2000 nicht erneut kandidierte, verlor die konservative Partei die Macht an den Kandidaten der Opposition, Taipeis Oberbürgermeister, Chen Shui-bian von der Demokratischen Fortschritts-Partei. Er konnte sich im Frühjahr 2004 erneut durchsetzen, wenn auch nur äußerst knapp und unter heftigsten Protesten der KMT. Die Demokratie ist jetzt der Normalfall auf der "Ilha Formosa", wie Taiwan im 17. Jahrhundert von den portugiesischen Entdeckern der Insel genannt wurde.
Der Autor gehört der Redaktion "Das Parlament" an.