Dass die "Wiedervereinigung" wirtschaftlich bereits stattgefunden hat, kann man vielleicht noch nicht behaupten. Zumindest aber sind die Volksrepublik China und Taiwan ökonomisch bereits sehr viel enger zusammengerückt, als die anhaltenden Differenzen auf politischer Ebene vermuten lassen. Die Volksrepublik ist vor den USA der größte Exportmarkt für taiwanische Produzenten. Außerdem haben die Unternehmen der Inselrepublik weite Teile ihrer industriellen Fertigung auf das benachbarte Festland verlagert. Dreh- und Angelpunkt dieser Wirtschaftsbeziehungen ist die Sonderverwaltungsregion (SVR) Hongkong: Da der direkte Warenaustausch zwischen China und Taiwan noch verboten ist, geht ein Großteil des Handels über den Freihafen der SVR.
Die rasch zunehmende wirtschaftliche Integration ist noch relativ jung: In den 80er-Jahren investierte die taiwanische Wirtschaft noch massiv in die Nachbarländer Südostasiens, während die Finanzströme nach China vergleichsweise gering ausfielen. Seit Beginn der 90er-Jahre und insbesondere seit der asiatischen Finanzkrise 1997/98, von der China und Taiwan weniger betroffen waren, hat sich das Verhältnis taiwanischer Investitionen im asiatischen Raum zugunsten des chinesischen Festlands umgekehrt.
Wie beispielsweise der stellvertretende Arbeitgeberpräsident der Philippinen berichtet, haben die meisten taiwanischen Investoren dem Land den Rücken gekehrt und ihre Fabrikation nach China verlagert. Rund 80 Prozent aller von taiwanischen Unternehmen im Ausland getätigten Direktinvestitionen fließen inzwischen nach Aussagen des Wirtschaftsministeriums in Taipeh nach China.
Offiziellen Angaben zufolge waren dies 2005 rund sechs Milliarden US-Dollar. Nicht alle in China getätigten Investitionen werden jedoch den offiziellen Stellen zur Genehmigung vorgelegt. Schätzungen zufolge lag daher der tatsächliche Wert des Kapitaltransfers bei etwa zehn Milliarden US-Dollar. Zwischen 1990 und 2005 haben demnach taiwanische Unternehmen etwa 100 Milliarden US-Dollar im "Reich der Mitte" inves-tiert.
Die taiwanische Administration sieht diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Befürchtet wird eine zu starke Abhängigkeit von der Volksrepublik, die die langfristigen Sicherheitsinteressen der Insel beeinträchtigen könnte. Auch die Gewährung von direktem Waren- und Personentransport wird nach wie vor als Sicherheitsrisiko eingestuft.
Die Investoren aus Taiwan siedelten sich vorzugsweise im Perflussdelta - dem Herz der chinesischen Leichtindustrie - an. Sie kontrollieren dort weite Teile der Produktion von Computerhardware. Die meisten der in Südchina gefertigten Scanner, Drucker oder Motherboards stammen aus den Fabriken taiwanischer Firmen. Die Stadt Dongguan ist inzwischen fest in taiwanischer Hand. Die Bewohner der Inselrepublik haben dort sogar mit Genehmigung der chinesischen Behörden eigene Schulen und Krankenhäuser errichtet.
Der besondere Vorteil des Perflussdeltas liegt in der Nähe zu Hongkong. Da es weder regulären direkten Handel noch Personenverkehr zwischen Taiwan und China gibt, gehen die meisten Geschäftsleute den Umweg über die SVR. Zudem bietet Hongkong aufgrund seines Status als Freihafen und seines liberalen Finanzsektors ideale Bedingungen für Händler und Investoren. Ende 2005 hatten nach Angaben des Census and Statistics Department mehr als 130 Firmen aus Taiwan ihr asiatisches Hauptquartier dort angesiedelt.
Seit der Jahrtausendwende beklagt das Perflussdelta jedoch einen Rückgang des Engagements taiwanischer Investoren. Der Prozess der Fertigungsauslagerung ist insbesondere in der Elektronik- und Leichtindustrie weitgehend abgeschlossen. In der Bekleidungs- und Textilbranche sind auf der Insel im Prinzip nur noch die Hersteller von technischen Textilien anzutreffen. Der letzte produzierende Hersteller von Laptops verlagerte 2005 seine Produktion ins "Reich der Mitte".
In Zukunft werden insbesondere technologieintensive Branchen Teile ihrer Fertigung auslagern. Dabei interessieren sie sich zunehmend für das Yangzi-Delta. Mehr als die Hälfte der Direktinvestitionen in China konzentrierte sich 2005 auf Shanghai beziehungsweise die angrenzenden Provinzen Jiangsu und Zhejiang. Zehn Jahre zuvor lag die entsprechende Quote bei nur einem Viertel.
Taiwan wird dennoch ein wichtiger Industriestandort bleiben. Wenn es sich um die Produktion von Qualitätsprodukten handelt, ist China immer noch im Hintertreffen. Ebenso fehlt im Reich der Mitte ein engmaschiges Netz von qualifizierten Zulieferern, und die Infrastruktur lässt zu wünschen übrig. Technologieintensive und innovative Produkte lassen taiwanische Unternehmen daher auch in Zukunft überwiegend im Inland fertigen. Dort können sie auch auf ein breites Angebot an hervorragend ausgebildeten Technikern und Ingenieuren zurückgreifen.
Die Fabriken in China beziehen ihre Kernkomponenten daher vorwiegend aus der Inselrepublik. Laut chinesischer Zollstatistik belief sich der bilaterale Warenaustausch 2005 auf mehr als 90 Milliarden US-Dollar. Mit Exporten in Höhe von rund 75 Milliarden US-Dollar erzielte Taiwan im Handel mit China einen Überschuss von 58 Milliarden US-Dollar. Die Insel hat nach Aussagen eines Sonderberichts der Welthandels-organisation (WTO) ihren langjährigen Handelsbilanzüberschuss mit Europa und insbesondere mit den USA über massive Fertigungsauslagerungen nach China "exportiert".
Vorangetrieben werden könnten weitere Verlagerungen auf das Festland durch den weltweiten Trend zur Bildung von bilateralen Freihandelsabkommen - so genannten Free Trade Agreements (FTA) -, der auch in Asien erkennbar ist. Taiwan, seit 2002 zumindest Mitglied der WTO, ist aufgrund des Widerstands der Volksrepublik von diesen Vereinbarungen bislang ausgeschlossen. China hat bereits ein FTA mit der Gemeinschaft südostasiatischer Staaten (ASEAN) abgeschlossen und ist als begehrter Partner für Freihandelsabkommen mit zahlreichen weiteren Ländern im Gespräch. Taiwans Exporte nach China und zu dessen FTA-Partnern verteuern sich durch solche bilateralen Vorzugsvereinbarungen. Gleichzeitig werden Ausfuhren aus eigenen Fabriken auf dem Festland in diese Länder begünstigt.
Ein Großteil der Handels- und Finanzströme zwischen China und Taiwan wird über den Flug- und Containerhafen und die Banken Hongkongs abgewick-elt. Die Geschäftswelt Taiwans drängt angesichts der hohen Transaktionskosten auf eine Aufhebung der bestehenden Beschränkungen. Bislang gab es allerdings nur vereinzelt Verbesserungen. So sind Direktimporte von bestimmten chinesischen Lebensmitteln möglich, und Geschäftsleute können über die vorgelagerten Inseln mit dem Schiff direkt in die Provinz Fujian fahren.
Die internationalen Firmen in Taiwan mahnen jedoch eine umfassende Öffnung an. Allen voran hat die US-Handelskammer (Amcham) in Taipeh die Regierung unmissverständlich zum Handeln aufgefordert. Landeskenner erwarten jedoch unter der amtierenden Regierung keinen einschneidenden Kurswechsel. Frühestens 2008/09 könne die Geschäftswelt mit Erleichterungen rechnen - es sei denn, der angeschlagene Präsident Chen träte vorzeitig zurück.
Die Aufnahme direkter Handels- und Verkehrsverbindungen würde nach Einschätzungen von Ökonomen vor allem die Wettbewerbsfähigkeit der taiwanischen Industrie stärken. So könnten sich in Taiwan Forschung und Entwicklung sowie die Fertigung von Hochtechnologie und Qualitätsprodukten, die derzeit aufgrund der langen Transport- und Verkehrswege teilweise zusammen mit der lohnintensiven Montage nach China ausgelagert werden, auf Dauer halten.
Hongkong wird der eigentliche Verlierer einer Annäherung zwischen Taiwan und China sein. So dürften die Umsatzzahlen des Container- und Flughafens merklich zurückgehen, sobald es einen direkten Handelsweg gibt. Die SVR muss sich daher auf ihre Rolle als Logistikdrehscheibe zwischen dem Westen und China konzentrieren. Ebenso wird sie noch stärker auf Finanzdienstleistungen setzen müssen.
Das verarbeitende Gewerbe Hongkongs wird dagegen von der Landkarte verschwinden. Bereits 2005 trug es nur noch rund drei Prozent zur Entstehung des Bruttoinlandsproduktes bei. Die SVR hat nahezu ihre gesamte Produktion nach China verlagert. Nach Einschätzung des Trade Development Council (TDC) existieren im benachbarten Perflussdelta bis zu 100.000 Fabriken im Besitz von Hongkonger Investoren.
Im Gegenzug gründen chinesische Unternehmen Niederlassungen in Hongkong, lassen sich dort an der Börse notieren oder kaufen Anteile an Hongkonger Gesellschaften. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren verstärken, da die Firmen vom Festland Zugang zum Kapitalmarkt benötigen beziehungsweise über ausreichend Liquidität für Übernahmen und Beteiligungen verfügen. Einer Umfrage des Greater Pearl River Delta Business Council zufolge beabsichtigen 50.000 chinesische Unternehmen in Hongkong zu investieren.
Hongkong und das Perflussdelta bilden inzwischen eine ökonomische Einheit. Während auf chinesischer Seite produziert wird, sind in der SVR Dienstleistungen wie Marketing, Beschaffung oder Finanzen angesiedelt. Laut TDC kaufen beziehungsweise vertreiben die in Südchina gelegenen Fabriken rund 80 Prozent ihrer Vor- oder Fertigprodukte mit Hilfe eines Hongkonger Händlers. Diese Rolle als Brückenkopf dürfte die SVR auch in Zukunft weiter spielen.
Der Autor ist Mitarbeiter der Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai) in Hongkong.