Aus diesem Ritual des Umgangs mit anderen Völkern wurde China erst durch die europäischen Kolonialmächte und durch das Trauma des verlorenen "Opiumkriegs" (1841/42) unsanft herausgerissen. Als das Land nach Jahrzehnten "halbkolonialer" Demütigung, außenpolitischer Hilflosigkeit und ständiger Bürgerkriege endlich an eine eigene Außenpolitik denken und wieder über das eigene Stammgebiet hinaus blicken konnte, sah es sich von "Nationen" umgeben, die es in dieser Form früher zum Teil noch gar nicht gegeben hatte (Pakistan, Sowjetunion) und deren Zahl überdies noch ständig zunahm, bis die Zahl 15 erreicht war. Kein anderer Staat der Welt, nicht einmal das von neun Ländern umgebene, und daher immer schon besonders exponierte Deutschland, hat eine auch nur annähernd so große Schar von Nachbarn aufzuweisen wie das neue Reich der Mitte.
Eine Politik der Grenzziehungen war hier offensichtlich unausweichlich geworden, kam allerdings nur in den 60er und in den 90er-Jahren wunschgemäß voran. Die erste dieser Phasen fiel in die Zeit nach der Gründung der Blockfreien-Bewegung 1955 im indonesischen Bandung. Damals wollte China sich mit möglichst vielen ebenfalls gerade aus westlicher Kolonialherrschaft entlassenen Nationen arrangieren. Fünf überaus formell aufgezogene "Grenzverträge" kamen damals zustande, nämlich mit Birma (1960), mit Nepal (1961), mit der Mongolei (1962), mit Afghanistan (1963) und mit Pakistan (1963). Da China sich jedoch ausgerechnet zu dieser Zeit mit dem "sozialistischen Bruderstaat" Sowjetunion überwarf, wurden alle weiteren Abgrenzungsgespräche gegenstandslos.
Kein Wunder, dass die Volksrepublik China an acht der rund100 Grenzfehden beteiligt war, die drei Jahrzehnte später, nämlich zu Beginn der 90er-Jahre die Welt beunruhigten, und zwar an drei Stellen gegenüber Vietnam, an zwei gegenüber der Sowjetunion, an zwei gegenüber Indien und an einer Stelle gegenüber Japan. Es erscheint paradox, aber ausgerechnet zu dieser Zeit kamen besonders viele Grenzvereinbarungen unter Dach und Fach, nachdem nämlich die Sowjetunion 1991 von der Landkarte verschwunden war und der "Ostblock" sich aufgelöst hatte. Nun gab es plötzlich ein kleinlaut gewordenes Russland, drei "neue" zentralasiatische Nachbarstaaten (Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan) und zwei aus dem untergegangenen Comecon herausgefallene und bindungslos gewordene "sozialistische" Staaten an Chinas Südflanke, nämlich Vietnam und Laos.
Um in dieser historisch singulären Situation kein Vakuum entstehen und vor allem die USA auf dem asiatischen Kontinent nicht ungehindert Einzug halten zu lassen, war Eile geboten. Das Ergebnis dieses Zwangs zur Konfliktbereinigung waren "Grenzabmachungen", die China jetzt gleich im halben Dutzend, nämlich mit sechs Nachbarn abschloss: mit Russland (1994 und 1998), mit Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan (1995), mit Laos (1991) und mit Vietnam (1999 und 2000).
All diese Abmachungen waren defensiv ausgelegt, zielten auf Wirkung gegen "Terrorismus" und auf Gewinn an Stabilität und wurden deshalb auch akribisch umgesetzt. Gemeinsam mit Russland wurden beispielsweise 175 Landkarten ausgearbeitet, 2.084 Grenzmarkierungen (entlang der 4.195 km langen "Ost-" - und der 54 km langen "Westgrenze" - im Pamirbereich) gesetzt und nicht zuletzt im Verlauf der gesamten chinesisch-russischen Flussgrenze 2.444 Inseln demarkiert, von denen 1.163 an Russland und 1.181 an China fielen.
Nachdem auf diese Weise die Grenzen zu elf Nachbarstaaten eindeutig bestimmt worden waren, blieben nur noch vier Ländergrenzen ungeregelt, nämlich gegenüber Nordkorea sowie gegenüber Indien, Bhutan und Sikkim. Überraschend kamen nach der Jahrtausendwende auch hier drei neue Überlegungen ins Spiel, die auf die Grenzfragen nicht ohne Auswirkung bleiben konnten, nämlich der damals weltweit aufbrandende - und auch Chinesen sowie Inder erfassende - Antiterrorismus, ferner die beiderseitige Entschlossenheit, den USA Zugänge nach Zentralasien so weit wie möglich zu verbauen und nicht zuletzt der gemeinsame Wunsch, in Zukunft nun doch etwas stärker zusammenzuarbeiten, sei es nun wirtschaftlich - zum Beispiel im IT-Bereich - oder aber politisch. Im letzteren Fall müsste freilich das alte, bereits von Deng Xiaoping vorgeschlagene Grenztauschgeschäft nun endlich einmal in Angriff genommen werden, demzufolge China in dem von ihm 1962 besetzten "Ostabschnitt" der gemeinsamen Grenze (Aksai Chin-Ebene), Indien aber im "Westabschnitt" freie Hand bekommen sollte. Auch würde dabei die 1975 erfolgte Eingliederung Sikkims in die Indische Union von China nachträglich anerkannt.
Für Nordkorea schließlich wünscht sich Peking die Fortsetzung des Status quo, das heißt der Eigenständigkeit dieses Landes. Wenn nämlich Nordkorea von Südkorea "geschluckt" würde, geriete auch der Norden der noch geteilten Halbinsel unter US-Einfluss.
In scharfem Kontrast zu den Fragen bei Landgrenzen stehen die Auseinandersetzungen Chinas mit seinen maritimen Nachbarn im Ost- und im Südchinesischen Meer.
Immerhin geht es hier um zwei Probleme, zu denen sich China bisher noch keine definitive Meinung hat bilden können, nämlich um uralte, von Pekings Mandarinen aber stets als Nebensache betrachtete Aspekte der Meerespolitik einerseits und um überaus moderne Aspekte "strategischer" Ressourcen andererseits, die erst in unserer Zeit Bedeutung erlangt haben, nämlich um Öl und Gas. Verschärft werden beide Faktoren noch dadurch, dass sich der Streit mit zwei Nachbarvölkern abspielt, von denen China seit jeher "Respekt" erwartet, von denen es in den vergangenen 100 Jahren aber immer wieder düpiert worden ist, nämlich von den Japanern und den Vietnamesen.
Hauptgegner bei Ansprüchen auf das Ostchinesische Meer und auf die dort - zwischen Taiwan und Okinawa - gelegene unbewohnte Insel Senkaku (chinesisch "Diaoyutai") ist Japan. Seit Jahren kommt es um dieses Eiland, unter dem Erdöllagerstätten vermutet werden, immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen. Daran sind nicht zuletzt wagemutige Staatsbürger aus China, Taiwan, Hongkong und Japan beteiligt, die öffentlichkeitswirksam Landungen durchführen, nationale Wimpel aufpflanzen und dabei oft TV-Teams im Schlepptau führen.
Nicht weniger leidenschaftlich umstritten sind die Archipele im Südchinesischen Meer, von denen China allerdings drei, nämlich Dongsha ("Ostsand"), Zhongsha ("Zentralsand") und Xisha (Paracelinsel) bereits fest unter Kontrolle hat.
Was die vierte Gruppe, nämlich die Spratlys (Nansha, "Südsand") anbelangt, so werden sie von gleich sechs Konkurrenten beansprucht, nämlich von Brunei, China, Malaysia, Taiwan, Vietnam und von den Philippinen. Einige der größeren Inseln sind von den Rivalen bereits militärisch besetzt worden. Im Zeitraum 1988 bis 1992 haben die Volksrepublik China und Vietnam darum sogar militärisch gekämpft. Alle Beteiligten begründen ihre Ansprüche mit historischen Argumenten ("Erstbesetzung eines vorher unbewohnten Eilands").
Hat sich bei den Landgrenzen eine im großen und ganzen friedliche Klärungs- und Einigungspolitik entfalten können, so stehen bei den Seegrenzen die Zeichen auf Sturm. Es bleibt unvergessen, dass der Besitzwechsel der Paracelinseln im Januar 1974 militärisch erzwungen wurde, als China nämlich die damalige südvietnamesische Besatzung - sehr zur Empörung des zu dieser Zeit mit China verbündeten Nordvietnam - in einer Nacht- und Nebelaktion überrannte. Mit der Nachfolgerin des untergegangenen Südvietnam, der Sozialistischen Republik Vietnam, hat China mittlerweile zwar die erwähnten zwei Arten von Grenzen - die zu Lande und die Demarkierung im Golf von Tonking -, vertraglich fixiert, doch ist die Frage der Archipele absichtlich offen gelassen worden.
Hier, bei den Inseln im Meer, fühlt sich China offensichtlich noch nicht genügend saturiert, um schon jetzt endgültige Lösungen festzulegen. Oskar Weggel
Der Autor ist Emeritus des Instituts für Asienkunde, Hamburg.