Gleichzeitig ist Singapur aber auch ganz anders als China: Der Stadtstaat am Äquator ist ein Zwerg mit bedrohlich niedriger Geburtenrate, bietet flächendeckend westlichen Lebensstandard, ist praktisch korruptionsfrei und hat eine Regierung, die Scheindemokratie mag, ethnische Minderheiten schützt und wahre Religionsfreiheit garantiert.
Singapurs Aufstieg vom armen Sumpfgebiet mit Rassenunruhen zur reichen, friedlichen Multikulti-Metropole gehört zu Asiens beeindruckendsten Erfolgsgeschichten. Seit 1970 verdoppelt sich das Bruttosozialprodukt pro Einwohner alle zehn Jahre. Singapurs Boom ging dem breiten Wirtschaftserwachen Südostasiens voraus. Malaysias Mahathir und Indonesiens Suharto kopierten die Erfolgsformel: innere Strenge und äussere Öffnung - Wirtschaft zuerst. Kopierte später auch China? Simon Elegant und Michael Elliot vom US-Magazin TIME sind davon überzeugt: "Chinas Führer kommen seit drei Jahrzehnten nach Singapur, um zuzuhören, um zu lernen und um zu bewundern. Fortschritt, Ordnung und begrenzte Freiheit ist die Maxime derer, die in China seit dem Tod von Mao Zedong geherrscht haben. Es ist eine Philosophie, die ihren modernen Ursprung und ihre Quellen in Singapur hat."
In Singapur stellen Nachfahren chinesischer Auswanderer die Dreiviertel-Mehrheit. Sie leben zusammen mit malaiischen, indischen und kaukasischen Minderheiten. Errungenschaften sind zu nicht geringem Teil Verdienst des Herrschers Lee Kuan Yew. Ja, er herrscht. Auch heute, da er Minister und sein Sohn Premier ist, fällt keine wichtige Entscheidung ohne Zustimmung von Lee Kuan Yew. Singapur ist sein "Kind". Niemand unterschätzt Lees Einfluss, doch ihm haftete nie ein fieser Autokraten-Ruf an. Das liegt an gelebter Weltoffenheit, Minderheiten-Schutz, Respekt aller Religionen und daran, dass ein wirkungsvoller Grad an Demokratie Lees Herrschaft begleitet. In Singapur ist Freiheit zu gering, um die Allmacht der Regierungspartei zu gefährden. So wie in China. Gleichzeitig ist Freiheit in Singapur groß genug, um Teil des Global Village zu sein, in dem Menschen lernen, forschen, arbeiten und relativ zufrieden leben können. Anders als in China.
Lee Kuan Yew, 82 Jahre alt, führte Singapur in die Unabhängigkeit. Seine People's Action Party (PAP), die Sozialismus als Plattform hatte und bald vergaß, ist seit Staatsgründung an der Macht. Lees Urgroßvater war 1862 aus Chinas Guangdong-Provinz ausgewandert, sein Vater und er selbst wurden britisch gebildet. Chinesische Wurzeln und Erziehung, westliche Bildung: Lee scheint das seiner Meinung nach Beste aus beiden Welten angenommen und beim Staatsaufbau eingesetzt zu haben. Er agiert wie der Patriarch einer asiatischen Großfamilie: autoritär, gemeinwohlorientiert, streng und fordernd, mit hohen Ansprüchen an sich selbst und an seine Zöglinge. Er lebt Disziplin sowie Ehrgeiz vor und verlangt beides von den Singapurern. Schwerverbrecher werden erhängt. Weltweit vollstrecke zwar China am häufigsten die Todesstrafe, berichtet Amnesty International (AI). Doch gemessen an der Einwohnerzahl habe Singapur möglicherweise die höchste Exekutionsrate der Welt.
Lee war früh klar, dass seine Insel als isoliertes Eiland keine und als offener, regionaler Knotenpunkt eine große Zukunftschance hätte in seiner Lage an der Seestrasse von Malakka, durch die per Schiff ein Viertel des Welthandels geht. Singapurs Hafen war lange Haupteinnahmequelle des Staates und bleibt trotz Wirtschaftsdiversifizierung wichtig. Es war die Vision von Lee, Singapur als Regionalstandort für Auslandsfirmen aller Art zu etablieren. Er begann, sie zu locken, als es noch keine Tigerstaaten gab und China noch quasi abriegelt war. In Singapur stellen Ausländer mittlerweile gut ein Viertel der Bevölkerung. 3.000 internationale Firmen sind am Ort ansässig. Ihre Mitarbeiter kommen gerne auf die sichere, saubere Insel.
Singapurer leben seit Ende der 60er-Jahre in Frieden. "Falls unsere Balance aus Sicherheit und Stabilität zerstört wird, ist es fraglich, ob wir Singapur alleine wieder zusammensetzen können," glaubt Lee. Außen herrscht regelmäßig Spannung bei Beziehungen mit den islamisch geprägten Nachbarn Malaysia und Indonesien, dem Staat mit der größten Muslim-Bevölkerung überhaupt. Das klitzeklein dazwischen liegende Singapur gibt mehr für seine Streitkräfte aus als die beiden Nachbarn zusammen und hat Asiens modernste Militärausrüstung. Ein Konzept der "totalen Verteidigung" schließt Zivilisten mit ein, die USA stehen sicherheitspolitisch nahe. Im Inneren agieren Beamte des "Internal Security Department" (ISD). Im Spitzelstaat Singapur können Verdächtige verhaftet und zwei Jahre lang ohne Anklage gefangen gehalten werden. Das ISD führt Bewältigung einer "kommunalen Herausforderung" als eine seiner Aufgaben an. Gemeint ist, den Frieden zwischen Ethnien und Religionsgemeinschaften zu bewahren. Im multiethnischen Singapur leben Buddhisten, Taoisten, Christen, Moslems, Atheisten und Hindus. Zwischen 1950 und 1969 kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit Gewalt. Schlimmster Tag und Auftakt zu Unruhen, die eine Woche anhielten, war der 21. Juli 1964. Insgesamt wurden damals bei Kämpfen zwischen Chinesen und Malaien 36 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt. Seitdem predigt und befiehlt die Regierung Toleranz. Rassistische Bemerkungen und solche, die eine Religion diffamieren, sind strafbar. Der 21. Juli wird als "Tag der Rassenharmonie" begangen, dabei wird auch daran erinnert, was auf dem Spiel steht: der Wohlstand aller. Ergebnis der Harmonie-Politik ist Frieden und tatsächlich ein allgemeines Wohlgefühl, das sich aus dem Wissen aller ergibt,staatlich akzeptiert und geschätzt zu sein. Gleichzeitig bleibt es dabei, dass die Volksgruppen privat überwiegend unter sich, Mischehen selten und die Chinesen dominant sind.
Singapur wird immer moderner und erfolgreicher. Universitäten und Gesundheitseinrichtungen sind ausgezeichnet. Die verarbeitende Industrie, besonders Elektro- und Chemiebranchen, tragen zusammen mit dem Handel eine Wirtschaft, die im ersten Quartal 2006 um knapp zehn Prozent wuchs. Kommunikation, Transport sowie Finanz- und andere Dienstleistungen steuern gut ein Drittel zum Bruttosozialprodukt bei. Die Biomedizinische Produktion steigt schnell. Singapur will für Hightech stehen und ist auf einem gutem Weg dahin. Offizielles Ziel ist eine "kreative, diversifizierte, globalisierte Wirtschaft". Politisch soll die Scheindemokratie beibehalten werden. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind nicht in Sicht. Lee mag westliche Demokratiestandards nicht. Sie böten, siehe Indien bis vor kurzem, keine Entwicklungsgarantie oder seien, siehe Philippinen, kontraproduktiv. Sein Sohn, Premier Lee Hsien Loong, stellt klar: "Ich sehe ein westliches Regierungsmodell nicht als Ziel an. Singapurs System funktioniert." Wie es funktioniert, zeigte die jüngste "Parlamentswahl" im Mai. Knapp die Hälfte der Wahlkreise gingen ohne Urnengang an die regierende PAP, weil die gegängelte und eingeschüchterte Opposition dort keine Kandidaten fand. Trotzdem gewann die Opposition insgesamt 33,3 Prozent der Stimmen. Doch damit erhielt sie aufgrund eines regierungsfreundlichen Wahlsystems nur zwei der 84 Parlamentssitze. So wie 2001.
Singapurs Pseudo-Volksherrschaft scheint Chinas Führung zu interessieren. "Sie haben uns studiert", sagt Lee Kuan Yew, "sie wollen wissen, wie wir trotz Mehrparteienwahlen und pluralistischen Ansichten an der Macht bleiben". Lee hat nie erklärt, China habe in der Vergangenheit Singapurs Weg kopiert und könne dies in Zukunft weitergehend tun. Peking schaffe sein eigenes Modell. Gleichzeitig glaubt Lee, dass China seine Demokratie-Versuche auf dem Land ausdehnen werde: "Solange sie die Gesamtkontrolle behalten, werden sie weiter experimentieren. Ich denke nicht, dass sie glauben, dass ihre Enkel in einem unveränderten System leben werden."
Der Autor ist freier Journalist, Jakarta.