Vergessen scheint bei der Mehrheit der UNO-Mitglieder, dass die Menschenrechtskommissarin Louise Arbour noch im September 2005 bei einem Besuch in Peking vor allem die Zahl der Todesurteile und das System der "Umerziehung durch Arbeit" ohne ordentliches Gerichtsurteil kritisierte. Vergessen scheint auch, dass der UNO-Inspekteur für Folter, Manfred Novak, drei Monate später eine inhumane Behandlung von Häftlingen in China für "noch weit verbreitet" hielt und bei seinen vertraulichen Unterredungen mit Angehörigen von Folteropfern und Bürgerrechtlern "einen augenscheinlichen Grad an Angst und Selbstzensur" empfand.
Mein offizieller chinesischer Gesprächspartner hingegen sieht das Glas halbvoll. Die Verbesserung der Menschenrechtspraxis in seinem Land sei "ein Prozess". Die Europäer sollten nicht erwarten, dass China in 20 bis 30 Jahren erreiche, wozu sie rund 300 Jahre benötigt hätten. An die Versuche - vor allem der USA - in der früheren UNO-Menschenrechtskommission Resolutionen gegen einzelne Länder einzubringen, erinnert er sich nur ungern, denn das sei Druck von außen gewesen. Mit Respekt voreinander und gleichberechtigt diskutiere man gern, aber "dem anderen Ideologien und Werte aufzuzwingen", lehne man ab.
Diese Darstellung beschreibt auch Chinas Grundverständnis von den Vereinten Nationen: Generell soll die Staatengemeinschaft der Entwicklung der Menschheit, der Erhaltung des Weltfriedens und neuerdings dem Erreichen der Millenniumsziele zur Halbierung der Armut dienen, wird sozusagen aus der UNO-Charta zitiert, zugleich aber jede Einschränkung der Souveränität eines Mitgliedsstaates abgelehnt. Diese Auffassung - nicht etwa in erster Linie vordergründige wirtschaftliche Interessen - ist auch der Nährboden für Chinas Zurückhaltung im mächtigsten UNO-Gremium. Nicht erst 1999 vor der von der UNO nicht sanktionierten Kosovo-Attacke und vier Jahre später - am Vorabend des Angriffs der USA auf Irak - versuchte allen voran China als Veto-Macht im Sicherheitsrat, Kriege zu verhindern. Vor Alleingängen Washingtons ist freilich auch eine werdende Weltmacht nicht gefeit.
Erst allmählich scheint der Glaubenssatz der Nicht-Einmischung für die Pekinger Führung mit einem aktiven Engagement Chinas vereinbar - zumindest bei friedenserhaltenden UNO-Maßnahmen. Aber noch immer sind es nur ein paar tausend Soldaten aus dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, die überhaupt UNO-Blauhelm-Dienste verrichten - in Kambodscha, in Ost-Timor, in Haiti und im Kongo. Andererseits setzt die 1971 anstelle von Taiwan ("Nationalchina") in die Vereinten Nationen aufgenommene Volksrepublik China ihr Veto-Recht auf der weltweit beobachteten New Yorker UNO-Bühne äußerst sparsam ein. Bei bisher 120 sowjetischen/russischen, 76 US-amerikanischen, 32 britischen und 18 französischen Stimm-Blockaden hat die VR China nur fünfmal ihr Veto eingelegt. Das letzte Mal war das vor sieben Jahren und betraf die Verlängerung eines UNO-Truppenmandats in Mazedonien. Auch dabei war China nicht etwa gleichgültig gegenüber einer Friedenserhaltung. Die Verweigerung war vielmehr als Strafe für Skopje gedacht. Mazedonien hatte nämlich Taiwan anerkannt - nach beträchtlichen Finanzierungszusagen aus Taipei. Wie weiland Guatemala, dem deshalb zwei Jahre zuvor durch Pekings Veto UNO-Militärbeobachter verwehrt worden waren. Anders als vor allem die USA wedelt China auch hinter den Kulissen höchst selten mit dem Fächer seiner formalen Möglichkeiten, sondern kämpft stattdessen argumentativ zu Gunsten der eigenen Auffassungen vom Miteinander in der Staatengemeinschaft: Das geschieht gegenwärtig bei der Behandlung des Atomstreits mit Iran und durch die Respektierung der "frei gewählten Hamas-Regierung" der Palästinenser. Und das geschah in der Vergangenheit häufig immer dann, wenn die Souveränität eines Staates auch nur ansatzweise in den Klammergriff derer zu geraten drohte, die Sanktionen oder gar militärische Interventionen - auch wegen der Verletzung humanitärer Grundsätze - forcieren wollten. Peking will einzelne Länder weder ausgrenzen noch isolieren, sondern "beeinflussen, damit das Verhalten verbessert wird", wie es der Pekinger Diplomat als regierungsamtlicher Interpret chinesischer Außen- und Sicherheitspolitik ausdrückt.
Mit einer solchen Sichtweise wird auch die "Pflege normaler Beziehungen" mit international an den Pranger gestellten Staaten wie Sudan und Zimbabwe begründet. "Wir sind der Meinung, dass die Zusammenarbeit im Interesse der Bevölkerung beider Seiten ist." Das heiße aber überhaupt nicht, auf Kritik zu verzichten, wenn durch Verstöße gegen die Charta der Vereinten Nationen die Interessen eines anderen Landes verletzt würden. Gerade in Afrika gründet Chinas Langmut gegenüber zweifelhaftem Regierungshandeln in einigen Ländern nicht zuletzt auf Dankbarkeit. Afrikanische Nationen bildeten die Speerspitze der Bewegung, die vor 35 Jahren die Volksrepublik in die UNO hinein und Taiwan hinaus manövrierte. Trotz eigener Armut revanchierte sich Mao Zedong damals mit Projekten zur Wasserversorgung, Sportstätten, chinesischen Ärzten, Studienplätzen für junge Afrikaner in der Volksrepublik und mit anderen Formen der Entwicklungshilfe. Manche Beobachter sehen diese Achse früher Kooperation gar als Wiege für Chinas späteren Werdegang als Leit-Nation für die Länder der so genannten Dritten Welt.
Im Konzert der fünf Ständigen Sicherheitsratsmitglieder empfindet sich Peking freilich keineswegs als Solist für die Entwicklungsländer oder die einst als Gruppe 77 beschriebenen Nationen, die in ihrer politischen Ausrichtung nicht so recht einzuordnen sind. Im Gegenteil will die Volksrepublik eine Reform des höchsten UNO-Gremiums gerade mit der Stärkung der Vertretung ärmerer Staaten verbinden. Der Vorschlag Brasiliens, Indiens, Japans und Deutschlands, für sich selbst und zusätzlich zwei UNO-Mitglieder aus Afrika einen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat zu gewinnen, ist China allerdings "wegen der Art und Weise der Vorlage" nach wie vor nicht geheuer - und das nicht nur wegen der nachhaltigen Abneigung gegenüber Tokio. Man sei weder auf eine Zahl der zusätzlichen Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat noch auf bestimmte Staaten festgelegt. Schon deshalb könne in Peking niemand gegen Deutschland als Ständiges Mitglied sein, lautet das diplomatisch geschickt formulierte Zwischenfazit. Im Übrigen sei die Reform des Weltsicherheitsrats zwar wichtig, dürfe aber andere wichtige Aufgaben nicht überlagern. Und wieder enthält die Liste - neben der allgemeinen Befürwortung friedenserhaltender Maßnahmen und Instrumente - den neu geschaffenen Menschenrechtsrat als Forum multilateralen Miteinanders auch in diesem Bereich. "Wir wollen, dass Länder voneinander lernen", beteuert der erfolgreiche Diplomat aus Peking und nennt als Beispiel den zwischen seinem Land und der Bundesrepublik seit einigen Jahren praktizierten "Rechtsstaats-Dialog".
Schließlich äußert er noch eine Hoffnung für die anstehende Neubesetzung der UNO-Spitzenposition: Der nächste Generalsekretär möge nicht nur - wie ohnehin erwartet wird - aus Asien kommen, sondern sich dem Multilateralismus auf allen Ebenen verpflichtet fühlen. So wie Kofi Annan das tue und stets getan habe. Die Globalisierung führe zu immer engeren Beziehungen untereinander und damit zur Notwendigkeit einer immer besseren Zusammenarbeit. "Alle Länder brauchen die UNO. China legt großen Wert auf deren Autorität und Stärke."
Der Autor war langjähriger ARD-Hörfunkkorrespondent in New York und arbeitet heute in Berlin.