Jahrzehntelang war der Weg ins Exil für viele Tibeter illegal und gefährlich: Die Flucht von chinesischem Staatsgebiet ins indische Dharamsala führte über unwegsame Bergpässe des Himalaya nach Süden. Seit Indien und China dort 1962 einen blutigen Grenzkrieg ausfochten, war das Gebiet Sperrzone, die Grenze geschlossen. Noch in diesem Monat soll nun der erste offizielle Grenzübergang, der 4.545 Meter hohe Nathula-Pass, 460 Kilometer südlich von Lhasa, wieder für den Handel geöffnet werden. Eine entsprechende Vereinbarung hatten Peking und Neu Delhi bereits 2003 geschlossen und damit auch ihren jahrzehntelangen Streit über den Verlauf der 2.000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze beigelegt. Peking erkannte, praktisch stillschweigend, das Königreich Sikkim als indisches Gebiet an, im Gegenzug schrieb Neu Delhi Tibet als Teil des kommunistischen Riesenreiches fest.
"Wir hoffen, dass die in Tibet lebenden Tibeter künftig auch ihre Verwandten in Indien besuchen können und umgekehrt", erklärte ein Sprecher der tibetischen Exilregierung in Dharamsala. Noch ist das Wunschdenken, denn Peking will mit der Grenzöffnung weniger den Personenverkehr als den regionalen Handel wiederbeleben. Seit der politischen Annäherung zwischen den beiden asiatischen Giganten bieten sich auch wirtschaftlich neue Perspektiven, beide zusammen verfügen über den größten Binnenmarkt der Welt und ein Drittel der Weltbevölkerung als Konsumenten. Allein im vergangenen Jahr wuchs das bilaterale Handelsvolumen um mehr als ein Drittel auf 18,7 Milliarden US-Dollar. Eisenerz und Lebensmittel aus Indien, sowie Wolle, Kräuter und Elektrogeräte aus China sollen künftig über den Nathula-Pass transportiert werden, allerdings bedarf es noch der Genehmigung aus Neu Delhi, um die schmale, kurvenreiche Bergstraße auszubauen. Zusätzlich soll die neue Eisenbahn von Golmud nach Lhasa, die am 1.Juli eingeweiht wurde, Tibet besser an die chinesische Zentrale anbinden.
Indien ist nur das jüngste Beispiel für Pekings Strategie, seine politischen und militärischen Grenzen systematisch zu befrieden. Es ist China gelungen, alle einstigen Sperrzonen entlang seiner 22.000 Kilometer langen Landgrenzen in Handelskorridore zu verwandeln, über die ein reger Austausch mit den 15 Nachbarstaaten begonnen hat. Grenzkonflikte wie 1979 mit Vietnam und 1969 mit der Sowjetunion wurden durch bilaterale Abkommen in den vergangenen Jahren beendet, die Demarkierung der chinesisch-russischen Grenze im Osten an den Flüssen Amur und Ussuri soll im Jahr 2007 abgeschlossen sein.
Peking und Moskau hinkten allerdings der ökonomischen Realität hinterher, als sie im Oktober 2004 mit ihrem Grenzvertrag einen endgültigen Schlussstrich unter die Vergangenheit zogen. Seit Ende der 80er-Jahre war chinesisches Kapital in Grenzorte wie Suifenhe, Heihe und Manzhouli geflossen, seit 2000 pumpte Peking im Zuge seiner Politik der wirtschaftlichen Revitalisierung des Nordostens Millionen in seine Peripherie, was den Grenzhandel erst recht aufblühen ließ. Davon profitierten in erster Linie die chinesischen Händler.
Das einst unscheinbare Dorf Heihe am Amur hat sich zu einem Vorposten der chinesischen Wirtschaftsmacht entwickelt, dagegen scheint das russische Blagoweschtschensk auf der anderen Grenzseite in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein.
Während man auf russischer Seite vergeblich eine "chinesische Infrastruktur" sucht, hat sich Heihe von Kopf bis Fuß auf die russische Nachfrage eingestellt: die Angebotspalette ist von Kleidung bis Haushaltselektronik auf russischen Bedarf ausgerichtet, das chinesische Verkaufspersonal spricht die Sprache der Nachbarn, an jeder Ecke bieten Bars und Massage-Salons Entspannung für russische Grenzgänger.
Schuld an dieser ungleichen Entwicklungspolitik sind vor allem die geografischen Unterschiede: Moskau hielt es bisher nicht für nötig, Fördergelder an eine riesige Region zu verschwenden, in der auf einer Fläche von 12,8 Millionen Quadratkilometern nur acht Millionen Menschen leben,von denen immer mehr abwandern. Es fürchtete aber gleichzeitig eine Überfremdung Sibiriens durch illegale chinesische Einwanderer, denn auf der anderen Grenzseite warten bis zu 100 Millionen Chinesen in den Nordostprovinzen auf ihren Anteil am großen Kuchen des wirtschaftlichen Fortschritts. Russische Politiker schürten diese Angst vor einer "Gelben Gefahr" nach Kräften. Noch im Juni schätzte das Moskauer Innenministerium die Zahl der chinesischen Migranten im Fernen Osten auf 700.000, während westliche Experten von höchstens 300.000 ausgehen. Erst im April hatte Moskau die strikte Visumspflicht für Chinesen aufgehoben, nachdem die Zahl chinesischer Touristen in Russland im vergangenen Jahr um fast ein Drittel gesunken war. Andere protektionistische Hürden blieben: In Heihe wartet man noch immer auf den russischen Startschuss zum Bau einer Brücke über den Grenzfluss, die bereits seit 1995 in Planung ist.
Auf chinesischer Seite führt die Spur des Grenzhandels direkt ins Herz der Hauptstadt. Rund um den Pekinger Ritan-Park blüht ein russisches Viertel, wo zahllose Speditionsfirmen sich auf den Transport chinesischer Konsumgüter über die Grenze spezialisiert haben. In der Handelsbilanz schlägt sich das nicht nieder: Peking importiert weitaus mehr als es ins Nachbarland liefert. Für China ist die bilaterale Zusammenarbeit von strategischer Bedeutung, es muss seine Energieversorgung sichern und ist deshalb vor allem an den russischen Gas- und Öl-Vorräten interessiert.
Die Situation an der gemeinsamen Grenze spiegelt jedoch deutlich den Wandel im Kräfteverhältnis: Peking ist vom kleinen zum großen Bruder geworden, das chinesische Bruttosozialprodukt ist bereits viermal größer als das russische. Je mehr sich Russland aus seinen traditionellen Einflussgebieten zurückzieht, umso stärker bemüht sich China, diese geostrategischen Lücken zu füllen .Dazu soll aus chinesischer Sicht auch die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) dienen, zu der außer China und Russland die zentralasiatischen GUS-Staaten Kirgisien, Tadschikistan, Kasachstan und Usbekistan gehören. Ziel ist eine Freihandelszone und eine "Energiestraße", die von den zentralasiatischen Ölfeldern durch China bis zum Pazifik führen soll. Für Peking geht es um mehr als neue Handelsrouten: Sichere Grenzen und gute Nachbarschaftsbeziehungen schaffen die Stabilität, die es für seine Modernisierungspolitik im Inneren braucht.
Die Autorin ist ARD-Korrespondentin in Peking.