Die Stadt Nanking lobte im Jahr 2005 einen Architektur-Wettbewerb für die Neugestaltung des Denkmals zur Erinnerung an das Massaker von Nanking aus. Nur wenige international bekannte Büros waren eingeladen, ihre Konzepte für die Planung eines erweiterten Erinnerungsortes einzureichen. Zu den Vorgaben gehörte die großflächige Umwidmung ganzer Stadtteile. Wie kaum anders zu erwarten, erhielt letztlich ein - international kooperierendes - chinesisches Büro den Zuschlag. Es wäre eine erstaunliche Emanzipation der politisch instrumentalisierten Erinnerungskultur Chinas gewesen, hätte man es externen Instanzen überlassen, die neue Kriegsgräuel-Gedenkstätte zu entwerfen.
Japans Einnahme der nationalchinesischen Kriegshauptstadt Nanking jährt sich am 13. Dezember 2007 zum 70. Mal. In dem Blutbad, das die japanischen Truppen sechs Wochen lang unter der Zivilbevölkerung anrichteten, kamen nach Angaben des internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten 300.000 Menschen um - viele auf grausamste Weise. Zehntausende Frauen wurden bei diesem Kriegsverbrechen vergewaltigt. Einer der Zeugen des Massakers war der "gute Nazi" John Rabe, der damals als Vertreter der Firma Siemens in Nanking lebte und zusammen mit einer kleinen Gruppe anderer Ausländer eine Sicherheitszone für viele Tausende Chinesen schuf. Sein 1.200 Seiten umfassendes Tagebuch, das die "Vergewaltigung Nankings" beschreibt, gilt als Beweisstück für die japanischen Kriegsverbrechen. Die detaillierten Aufzeichnungen des Deutschen werden ein wesentliches Ausstellungsobjekt in dem Museum sein, das zum Andenken an John Rabe gebaut werden soll.
Die Wurzel von Chinas Japan-Trauma reicht jedoch tiefer. 1895 hatte das aufstrebende Japan die zerfallende Qing-Dynastie besiegt. Durch den Vertrag von Shimonoseki - nach der Stadt in Japan benannt - musste China Gebiete abtreten und eine hohe Kriegsentschädigung zahlen. Vor allem aber war das Reich der Mitte nicht mehr die dominierende Macht Asiens - ein Schock, der noch bis in die Gegenwart hinein wirkt. Japans zweiter Einfall in China begann bereits 1931, als sich das wirtschaftlich und militärisch erstarkte Nippon in der Mandschurei festsetze und dort den Vasallenstaat Manchukuo errichtete. Der "Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke" wurde am 7. Juli 1937 von Japan als Vorwand dafür inszeniert, das restliche China anzugreifen. Der Chinesisch-Japanische Krieg, in dessen Verlauf die Japaner schnell so wichtige Städte wie Shanghai, Nanking und Guangzhou einnahmen, kostete zwischen 15 und 20 Millionen Soldaten und Zivilisten das Leben. Allein bei den extrem grausamen biologisch-medizinischen Experimenten der japanischen "Einheit 731" in der Mandschurei in den Jahren 1939 bis 1945 starben 3.000 chinesische Gefangene. Nicht nur aus der Mandschurei, vor allem auch aus Korea und anderen von Japan überfallenen Ländern, wie Malaysia, Burma und den Philippinen, wurden insgesamt mehr als 200.000 Frauen in Militärbordelle verschleppt und dort von den Soldaten des Tenno als so genannte Trostfrauen missbraucht. Viele dieser jungen Frauen kamen dabei erbärmlich um.
Das Massaker von Nanking und seine Interpretation ist für das Verhältnis zwischen China und Japan von grundlegender Bedeutung. Diese Interpretation könnte kaum gegensätzlicher ausfallen. Die außenpolitischen Beziehungen zwischen der größten Handelsmacht Asiens und China, das dabei ist, seine internationale Rolle im 21. Jahrhundert neu zu definieren, ist aktuell schlechter denn je. China klagt an, dass Japan sich - trotz Dutzender formaler Entschuldigungen - jenseits reiner Rhetorik nie wirklich zu seiner Schuld bekannt habe, dass es Entschädigungen nicht für notwendig halte und sich politisch und gesellschaftlich nicht mit seiner Schuld auseinandersetze, ja, sie sogar verleugne. Besonders empörend sind aus chinesischer Sicht die alljährlichen Besuche japanischer Staatsführer am Yasukuni-Schrein. Der shintoistische Tempel im Zentrum Tokios gilt den asiatischen Nachbarn als Inbegriff des japanischen Militarismus, da dort nicht nur der etwa 2,5 Millionen Kriegstoten gedacht wird, sondern in einer Nebenhalle auch 14 verurteilte Kriegsverbrecher gewürdigt werden.
Zusätzlich angefacht wurde der Zorn auf chinesischer Seite immer wieder durch die unrühmliche japanische Schulbuchpolitik. Seit Jahrzehnten werden den Schülerinnen und Schülern in den Unterrichtstexten die japanischen Gräueltaten unterschlagen und die eigenen militärischen Angriffe als Akte der Verteidigung dargestellt. Die Wut, die in der chinesischen Bevölkerung über Japans fehlende Aufarbeitung seiner verbrecherischen Vergangenheit wohl tatsächlich vorhanden ist, wird von der Pekinger Regierung in "spontanen" Demonstrationen gegen Japan kanalisiert. Dahinter steht das Interesse Chinas, Japan an der fortschreitenden Normalisierung seiner weltpolitischen Rolle zu hindern - zum Beispiel an der Verwirklichung von Tokios Ambitionen auf einen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Im April 2005 gerieten solche anti-japanischen Protestkundgebungen allerdings außer Kontrolle. Sie richteten sich bald nicht mehr nur gegen japanische Geschäfte und Einrichtungen, sondern auch gegen innerchinesische Missstände. Es zeigte sich schnell, wie wenig die Regierung der Volksrepublik tatsächlich bereit ist, kritische Fragestellungen zuzulassen. In Bezug auf die eigene Vergangenheitsbewältigung hält Peking viele Tabus aufrecht, um Wahrnehmungsmechanismen und Wertvorstellungen eines historisch und kulturell festgelegten Gedächtnisbegriffes weiterhin zu kontrollieren, um das zurückliegende Jahrhundert der Demütigungen Chinas in eine Phase der nationalen Identitätsfindung umzumünzen. Japan spielt dabei die Rolle des zentralen Antagonisten.
Das Japan-Trauma der Chinesen als Individuen kann, anders als das Chinas als Nation, tatsächlich nicht artikuliert werden. Abgesehen davon, dass diejenigen, die es erfahren haben, wie die Hinterbliebenen des Holocaust bald ganz gestorben sein werden, ist in der Volksrepublik - anders als in Korea oder Taiwan - noch immer kein öffentlicher Raum für individuelle Erinnerung vorhanden. Allein die moderne bildende Kunst und die Literatur haben sich diesen Freiraum inzwischen geschaffen. Mo Yan beispielsweise hat in seinem großen Roman "Das rote Kornfeld", der spätestens in der Verfilmung von Zhang Yimou weltbekannt wurde, in Bezug auf Japans Krieg gegen die chinesische Bevölkerung einen Fixpunkt des kollektiven Gedächtnisses geschaffen. Auf japanischer Seite hat sich unter anderen Haruki Murakami in seinem Welt-Bestseller "Mister Aufziehvogel" mit dem Thema der Besatzung der Mandschurei auseinandergesetzt.
Erinnerung ist aber lebendig, sie unterliegt laufend Umformungen; Geschichte kommt durch einen Prozess zustande. In China gibt es die "Agora" noch nicht, die Fragen zu stellen, durch die ein dialogischer Aufklärungsprozess mit dem Erzfeind Japan in Gang gesetzt werden könnten. Die Strategien beider Seiten machen es undenkbar, dass ein japanisch-chinesisches Lehrbuch zur modernen Geschichte publiziert werden könnte, in dem chinesische Historiker zu Japan und japanische zu China schreiben. Japan könnte tatsächlich, wie von China immer wieder gefordert, vom Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Polen oder Frankreich lernen. China aber auch.
Die Autorin ist Sinologin und Redakteurin bei DW-online.