Die neue Rolle dieser beiden asiatischen Giganten auf dem Weltmarkt - jeder mit mehr als einer Milliarde Menschen - zwingt dazu, sie in der Welthandelsorganisation und damit auch in der Weltpolitik ernst zu nehmen. Es stellt sich aber auch die Frage, wie diese beiden Megastaaten, deren innere Stabilität zwar Schwächen, aber keinen Existenzkrisen ausgesetzt ist, unter den internationalen Rahmenbedingungen der Gegenwart miteinander auskommen, und welche Perspektiven sich für die Zukunft abzeichnen. Im Vordergrund aller indisch-chinesischen Gespräche auf der Regierungsebene stehen heute die Perspektiven des sich dynamisch entwickelnden Warenaustausches zwischen den beiden Ländern.
Rücken die feindlichen Brüder zusammen, um ihre Position in der Welt zu stärken? Der politische Klimawechsel, der mit der Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen einhergeht, lässt sich nicht übersehen. Bei früheren Begegnungen auf hoher und höchster Ebene ließ die chinesische Führung keine Gelegenheit verstreichen, um den geringeren Status Indiens in der internationalen Mächtekonstellation deutlich zu machen. Jetzt zeichnet sich eine andere Einschätzung des Nachbarn in Südasien ab - und eine andere Einstellung zu ihm. Die neue Beziehung findet in der gemeinsamen Aussage ihren Niederschlag, dass die beiden Länder eine "strategische und kooperative Partnerschaft für den Frieden und den Wohlstand" geschmiedet haben, in der sich beide Seiten paritätisch und auf gleicher Augenhöhe begegnen und auf dieser Grundlage zusammenarbeiten wollen.
Vielleicht ist diese Perspektive ein wenig zu optimistisch ausgefallen, aber es steckt doch ein Körnchen Wahrheit in dieser Prognose. Sie deutet eine längerfris-tige Entwicklung an, die das sich abzeichnende und in Teilen schon bestehende pluralistische Weltsystem der Zukunft mitprägen könnte und die den Perspektiven einer Hegemonialmachtposition, etwa der USA, Schranken aufzeigt. Welche Ausstrahlung haben Indien und China? Werden sie als Partner gesucht und respektiert? Werden hegemoniale Bestrebungen erwartet und gefürchtet?
Ohne prinzipielle Einschränkung lässt sich sagen, dass die praktische Kooperationsfähigkeit zwischen Indien und China als gegeben angesehen werden muss. Die aus der Geschichte herrührenden Konfliktfelder in den bilateralen Beziehungen bestehen auch heute, aber ihre dominante Rolle haben sie verloren - jedenfalls gegenwärtig und wohl auf längere Zeit.
Die internationale Mächte-Konstellation unserer Tage und der Umstand, dass Indien nun US-amerikanische Anerkennung als Nuklearmacht erfahren hat, also nicht mehr nuklear erpressbar ist, aber auch der selbstständig vollzogene Sprung Indiens an die Spitze des Weltniveaus auf dem Hochtechnologiesektor haben China zu einer anderen Einschätzung Indiens veranlasst. Indien wird sich weder von China noch von den USA in eine Frontstellung gegen die jeweils dritte Macht bewegen lassen - außer bei bestimmten Konfliktsituationen.
Mit ihrer Zusammenarbeit verdeutlichen die beiden Länder ihr Bemühen, aus ihrer untergeordneten Rolle im politischen und wirtschaftlichen Weltsystem unserer Tage zu einer mitgestaltenden Kraft zu werden, und zwar gestützt auf die eigenen zivilisatorischen, historisch gewachsenen Kraftquellen und gestützt auf ihre politische sowie wirtschaftliche Relevanz in der heutigen Welt.
In der von beiderseitigem Misstrauen geprägten, aber auch an hochtrabenden Hoffnungen reichen Geschichte der beiden Zivilisationsräume verdichtet sich zum ersten Mal mit Aussicht auf Bestand und Fortentwicklung ein Potenzial zur Kooperationsfähigkeit im bilateralen, regionalen und globalen Kontext.
Aus der Vergangenheit schwingt in beiden Zivilisationen der Grundtenor des Misstrauens gegenüber den Ländern mit, die in der einen oder anderen Form von der Vorstellung der Überlegenheit der westlichen Zivilisation geprägt sind und daraus eine führende, eine dominierende Rolle auch unter den Bedingungen der heutigen und zukünftigen Weltstrukturen ableiten. Angesichts der Interdependenz der Volkswirtschaften und der Sicherheitsbedürfnisse gegenüber Bedrohungen, die Ost und West gleichermaßen betreffen, wächst die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe im Rahmen eines pluralistischen Weltsystems. In dieser Hinsicht könnte Europa eine Vorreiterrolle zufallen. Während die Vereinigten Staaten, Indien und China der nationalen Unabhängigkeit als Allheilmittel zur Bewältigung internationaler Konflikte huldigen, drängen die Europäer auf ein vielschichtiges, nicht vom militärischen Denken dominiertes internationales Krisenmanagement und auf eine kooperative Vorgehensweise in der Aufbauphase von Staaten nach verheerenden Konflikten - wie in Afghanistan und im Irak, aber auch in Afrika.
Der Rückblick auf das Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Staaten China und Indien, die in jeweils unterschiedlichem Umfang, aber in gewissem Sinne auch in paralleler Weise in die Abhängigkeit von Kolonialmächten gezwungen wurden, macht deutlich, dass die Spannungen zwischen den beiden Ländern, also auch die chinesische militärische Invasion im Jahr 1962 im Nordosten Indiens - Tawang und Desful - letztlich in der Kolonialzeit ihren Ursprung hatten. Die Grenze zwischen dem heutigen China und Indien geht auf die Grenzziehungen im Himalaja zurück, die Großbritannien in Vereinbarungen mit dem in lockerer Abhängigkeit von China stehenden Tibet Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in der Anwesenheit eines chinesischen Beamten aus Beijing festlegte - einschließlich verschiedener Wirtschaftskonzessionen für Großbritannien in Tibet selbst. Die auf den Karten markierte Grenze konnte wegen der ungünstigen Geländeverhältnisse nie durch Grenzsteine in die Realität übertragen werden. Die Grenze steht unter chinesischem Vorbehalt. Immer wieder wurde versucht. Mit vertrauensbildenden Maßnahmen, also durch Rück-nahme der Grenztruppen aus den Grenzbezirken auf beiden Seiten eine Entspannung der unbefriedigenden Situation herbeizuführen.
Indien hat die chinesische Landnahme in der Region Akzai Chin im Grenzgebiet Tibets zu Kaschmir-Jammu nicht anerkannt. China hat lange Zeit hindurch die Einverleibung von Sikkim in das indische Staatsgebiet nicht bestätigt und nimmt auch Anstoß an der Wahrnehmung der territorialen Sicherheitsinteressen Bhutans durch Indien. George Fernandes, Verteidigungsminister in der von Atal Bihari Vajpayee geführten Regierung der Bharatiya Janata Partei, begründete 1998 die Entscheidung zum Aufbau eigener Nuklearwaffenkapazitäten mit der atomaren Bedrohung durch China. Die Hoffnungen Indiens, durch den Verzicht auf eine eigene Nuklearrüstung einen Durchbruch zur weltweiten nuklearen Abrüstung zu erreichen, hatten sich im Laufe der Jahrzehnte als unrealistisch erwiesen. Dies waren Hoffnungen, die vor allem Ministerpräsident Jawaharlal Nehru gehegt hatte. Er hatte sich 1955 vergeblich um eine gemeinsame internationale Politik Chinas und Indiens bemüht und musste in den Zeiten des Kalten Krieges seine auf die Bildung eines Bündnisses der blockfreien Länder gerichtete Politik ohne Chinas Beteiligung voranbringen. Mit großer Bitternis wurde 1959 die Niederwerfung der buddhistischen Opposition des Dalai Lama in Tibet registriert und dem geistlichen Oberhaupt des Buddhismus Asyl in Indien gewährt, ohne ihn als Oberhaupt einer tibetischen Exilregierung anzuerkennen.
Neben dem Statusvorteil Chinas als einer von der Völkerrechtsgemeinschaft im Zusammenhang mit dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag anerkannter Nuk-learmacht zeichnet sich die internationale Stellung Chinas gegenüber Indien auch durch den Statusvorteil als Ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, also als Veto-Macht aus. Im Konfliktfall kann dies von großem Nachteil für Indien sein.
Der gravierende Unterschied im internationalen Status zwischen den beiden volkreichsten Nationen der Welt wird heute in erheblichem Umfang durch das weltweite Ansehen Indiens, seine erprobte demokratische Ordnung und durch seine aktive Teilnahme am kulturellen Austausch und Dialog mit anderen Kulturen kompensiert. Dazu trägt das in die Weltwirtschaft zurückkehrende Indien mit seiner weltoffenen Gesellschaft und Wirtschaftsleistung in eindrucksvoller Weise bei. Gleichwohl erscheint China den internationalen Wirtschaftsunternehmen noch als der attraktivere Partner für Direktinvestitionen; Indien holt jedoch mit Siebenmeilenschritten auf.
Der Autor war unter anderem Botschafter in Indien und Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Berlin.