Der Vietnamese Dang Quoc Huy ist 21 Jahre alt und studiert in Köln Betriebswirtschaftslehre und Deutsch - zusammen mit chinesischen Kommilitonen. Gegenseitige Antipathien oder Vorbehalte? "Die gibt es nicht", sagt der junge Mann. Zwar weiß Dang, dass es zwischen seinem Heimatland Vietnam und dem großen Nachbarn im Norden, China, nicht immer so harmonisch zuging. "Doch die Kriege und Auseinandersetzungen, das ist Vergangenheit, wir schauen in die Zukunft und lernen für ein gemeinsames Ziel. Wir wollen uns weiter entwickeln", sagt Dang
So wie Dang in Köln denken auch viele seiner Landsleute zwischen Hanoi und Saigon. Mit Streit und Rachegefühlen will man sich nicht mehr aufhalten in Vietnam, dem "kleinen Tiger" am Mekong mit seinen 82 Millionen Einwohnern und einem gegenwärtigen Pro-Kopf-Einkommen von etwa 600 US-Dollar jährlich. Stattdessen konzentrieren sich die Vietnamesen ganz auf ihre wirtschaftliche Entwicklung - und die kann nicht ohne die Chinesen gelingen. "Das Verhältnis zwischen Vietnam und China ist traditionell kompliziert", weiß Oskar Weggel vom Hamburger Institut für Asienkunde. "Einerseits war China für Vietnam immer einer der Hauptgegner, andererseits braucht man einander. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert."
Tatsächlich war Vietnam immer anders, als der Nachbar im Norden - und so ganz doch wieder nicht. Vietnam hat seine eigene Sprache und Kultur - die zugleich stark von China geprägt ist. Dazu hat schon allein die rund tausendjährige chinesische Herrschaft von 111 vor bis 938 nach Christus beigetragen, die zahlreiche Spuren hinterließ. Der vielbesuchte "Literaturtempel" (Van Mieu) in Hanoi, 1070 nach der Unabhängigkeit von China durch den vietnamesischen Kaiser Ly Thanh Tong zu Ehren des chinesischen Gelehrten Konfuzius erbaut und heute eine Touristen-Attraktion, ist dafür nur ein Beispiel von vielen.
Auch in der Neuzeit blieb das wechselvolle Verhältnis zu China, mit dem man immerhin 1150 Kilometer Grenze teilt, eine der Konstanten in Vietnams Politik. Seit 1950 unterhielten die beiden Staaten diplomatische Beziehungen, die aber immer wieder auf harte Proben gestellt und sogar abgebrochen wurden. So, als am 8. Januar 1979 vietnamesische Truppen Kambodschas Hauptstadt Pnom Penh eroberten und das von Pol Pot regierte Nachbarland besetzten. Es kam zu mehrmonatigen, bewaffneten Auseinandersetzungen mit China, das die Roten Khmer unterstützt hatte und dem der Machtzuwachs der Vietnamesen in Südostasien ein Dorn im Auge war. Zumal da Vietnam von der Sowjetunion, dem Rivalen Pekings, unterstützt wurde. Den Chinesen gelang es, auf vietnamesisches Territorium vorzudringen, allerdings unter großen eigenen Verlusten. Denn die Vietnamesen leisteten heftigen Widerstand. Die Chinesen mussten sich schließlich geschlagen geben. Erst 1989 zog sich Vietnam aus Kambodscha zurück. Zu einer Annäherung an China und schließlich der erneuten Aufnahme diplomatischer Beziehungen kam es 1991. Ein wesentlicher Grund dafür war der Zusammenbruch der Sowjetunion. Vietnam sah sich gezwungen, nach neuen Bündnispartnern Ausschau zu halten.
1999 einigten sich China und Vietnam schließlich auf den Verlauf ihrer Landesgrenzen und die lange strittige Abgrenzung im Golf von Tonkin. Dagegen ist der Streit um einige Inseln im südchinesischen Meer bis heute nicht ganz geklärt. Zwar sind die Inseln eigentlich unbedeutend, aber der Staat, dem sie gehören, kann große Teile des südchinesischen Meeres mit seinen Ölvorkommen als Hoheitsgebiet für sich beanspruchen. Immer wieder kam es in der Vergangenheit auch zu Auseinandersetzungen um Fischerei-Rechte zwischen China und Vietnam.
Und doch: Trotz all dieser Konflikte war und ist der Teilzeit-Gegner China auf politischer und wirtschaftlicher Ebene auch ein Vorbild für Vietnam. Das gilt insbesondere für die Reformpolitik des "Doi Moi", die 1986 eingeleitet wurde und die wirtschaftliche Öffnung bei gleichzeitiger Beibehaltung des kommunistischen Systems und des Alleinherrschaftsanspruchs der Partei beinhaltet. Vietnams "Doi Moi" folgt damit dem Modell der 1978 von Deng Xiao Ping initiierten chinesischen Reformpolitik. Nur: Von den Vietnamesen wird das nicht gerne zugegeben. "Immer an das Muster China denken, aber nicht darüber sprechen", das ist laut Asien-Forscher Weggel die Devise in Hanoi.
Offensichtlicher ist da schon die vietnamesisch-chinesische Annäherung im Alltag am Mekong. Vorbei sind die Zeiten, in denen versucht wurde, die chinesische Minderheit, die rund zwei Prozent der Bevölkerung ausmachten, zwangsweise zu assimilieren. Auch von den einstigen Feindseligkeiten gegenüber den chinesischen Handeltreibenden mit ihrer starken wirtschaftlichen Position in Vietnam ist nicht mehr viel zu spüren. Stattdessen sendet das staatliche vietnamesische Fernsehen regelmäßig Chinesisch-Lektionen, und der Dong Song Market, der zentrale Markt von Hanoi, ist voll mit billiger chinesischer Ware. Aus China kommen ebenfalls die meisten Touristen, die Vietnam und seine Reiseziele besuchen, die sich allmählich zu Fremdenverkehrsorten entwickeln.
Das bilaterale Handelsvolumen ist deutlich angewachsen, von nur 32 Millionen US-Dollar 1991, dem Jahr der chinesisch-vietnamesischen Wiederannäherung, auf 6,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004. Ehrgeiziges Ziel ist es, bis zum Jahre 2010 diese Summe auf zehn Milliarden US-Dollar zu steigern. Nach Einschätzung Weggels kann das durchaus gelingen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der immer noch beträchtliche Schmuggel an der chinesisch-vietnamesischen Grenze erheblich eingedämmt wird. Dazu gibt es nun eine Kooperationsvereinbarung zwischen beiden Ländern.
Und so haben sich die einst politisch-geographischen Auseinandersetzungen zwischen China und Vietnam heute hauptsächlich auf den Weltmarkt verlagert. Denn dort treten beide Länder als Konkurrenten auf - zum Beispiel in der Schuhproduktion. Zwar liegt Vietnam hinter dem großen Nachbarn aus dem Norden als Exporteur noch zurück, marschiert aber in die gleiche Richtung - und will so schnell wie möglich Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) werden. Damit sind für Vietnam aber auch Gefahren verbunden, denn die weitere Öffnung seines heimischen Marktes könnte auch eine Überschwemmung mit chinesischen Produkten, wie billiger Elektronik zum Beispiel, bedeuten. Teile der vietnamesischen Textilindustrie sind ohnehin durch die chinesische Konkurrenz zusammengebrochen. Und so gilt in Vietnam mit Blick auf China noch heute, was schon immer Gültigkeit hatte: Auf den Riesen im Norden muss man immer ein wachsames Auge haben - Annäherung hin oder her.
Die Autorin ist freie Journalistin, Köln.