Eigentlich wird der Saal im Potsdamer "Haus der Pioniere" als Kino und Theater benutzt. Er ist düster und ein bisschen schäbig. Am 21. September 1994 sitzen dort 150 ehemalige DDR-Bürgerrechtler im Licht der Glühbirnen. Schon seit zwei Tagen streiten und diskutieren sie. Am Ende vereinen sie die zersplitterten Bürgerrechtsgruppen der DDR zu einer neuen Partei, dem Bündnis 90. Diskussionsleiter Erhard O. Müller erinnert sich noch gut: "Es herrschte Aufbruchsstimmung", sagt er. "Doch es gab noch viel zu klären." Das Treffen ist der vorläufige Endpunkt einer bewegten Debatte. Sie beginnt zwei Jahre zuvor, im September 1989. Damals bilden sich die Bürgerbewegungen Neues Forum (NF) und Demokratie Jetzt (DJ). Schon seit 1986 besteht die Initiative für Freiheit und Menschenrechte (IFM). Die Gruppen fordern mehr Einfluss auf politische Entscheidungen, beteiligen sich an Demonstrationen und bilden Diskussionsforen. Doch die Regierung der DDR will keinen Dialog. Das Neue Forum wird verboten. "Wir wollten mit politisch Verantwortlichen ins Gespräch kommen, aber das hat nicht funktioniert", sagt der NF-Mitbegründer Frank Eigenfeld 1999. "Deshalb haben wir gesagt: Leute, mischt euch ein! Ihr müsst selbst aktiv werden. Egal, an welcher Stelle ihr steht, werdet mündig." Nach dem Fall der Mauer stellt sich die Frage, wie es mit den Bürgerrechtsgruppen weitergehen soll. In einem Jahr würden die ersten gesamtdeutschen Wahlen stattfinden. Wollte man als Partei antreten und sich zusammenschließen? Die Bürgerrechtler sind skeptisch. "Viele hatten Angst, dass sie dann nicht mehr frei sein würden, dass man sie einem Fraktionszwang unterwirft", sagt Cornelia Behm. Sie war Mitglied bei Demokratie Jetzt und sitzt heute für die Grünen im Bundestag. "Es gab große Vorbehalte dagegen, wirklich eine Partei zu werden", erzählt sie. Für die Bundestagswahl 1990 wird deshalb nur eine Listenverbindung zwischen NF, DJ, IFM und den ostdeutschen Grünen vereinbart. Sie bekommt den Namen Grüne/Bündnis 90-BürgerInnenbewegung. In Ost und West bleiben die Wahlgebiete getrennt, es gilt jeweils eine Fünf-Prozent-Klausel. Die westdeutschen Grünen zeigen sich vom plötzlichen Zusammenbruch der DDR überrascht und werben mit dem Slogan "Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Klima." Bei den Wählern kommt die Kampagne nicht gut an. Die West-Grünen erhalten weniger als fünf Prozent der Stimmen und verpassen den Einzug in den Bundestag. Grüne/Bündnis 90-BürgerInnenbewegung kann acht Abgeordnete ins Bonner Parlament schicken. Einer davon ist NF-Mitglied Werner Schulz. Er warnt damals öffentlich, dass die Bürgerbewegungen der DDR bedeutungslos werden, wenn sie sich nicht vereinen. "Das Bündnis 90 ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass wir immer dann erfolgreich waren, wenn wir uns zusammengeschlossen haben", sagt er. Gegner der Parteigründung halten dagegen: Mit einer "Quasi-Partei" werde die Bürgerbewegung verraten, wettert die Künstlerin und NF-Aktivistin Bärbel Bohley. Bei den Grünen West hofft man auf eine Verbindung der ostdeutschen Bürgerbewegungen. Mit einer Partei Bündnis 90 könnten sie sich zusammenschließen und eine gesamtdeutsche Grüne Partei bilden. Der Weg in den Bundestag wäre wieder frei. Gemeinsam würden sie 1994 die Fünf-Prozent-Hürde schaffen und als richtige Fraktion in den Bundestag ziehen. Wenn nicht, wäre die gesamte Grüne Bewegung gefährdet, fürchten die westdeutschen Grünen. Der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer bringt die Sorgen auf den Punkt: "Wir dürfen nie wieder getrennt antreten und nie wieder getrennt geschlagen werden", warnt er im September 1991, kurz vor dem Treffen der Bürgerbewegungen in Potsdam. Am 15. September trifft das Neue Forum eine Entscheidung. In Bernburg beschließen seine Delegierten, dass sie sich keiner Partei anschließen wollen. Das Neue Forum soll weiter eigenständig bleiben. Den Mitgliedern ist jedoch freigestellt, ob sie zum Bündnis 90 wechseln wollen. Etwa die Hälfte des NF entscheidet sich zum Übertritt. Damit ist der Weg frei für die Gründungskonferenz im Potsdamer "Haus der Pioniere" am 21. September 1991. Diskussionsleiter Erhard O. Müller war Mitglied der westdeutschen Grünen. "Die Stimmung war trotz aller Konflikte sehr gut", sagt er. IFM und DJ hätten nahezu geschlossen hinter dem Projekt gestanden. "Einen späteren Zusammenschluss zur gesamtdeutschen Grünen Partei hatten wir damals schon alle im Hinterkopf", sagt Müller. Er wurde 1993 verwirklicht.