Andere Städte fransen aus an ihren Rändern, flachen ab zu Einfamilienhäusern und Kleingärten. Nicht so Berlin-Marzahn, das Plattenbauviertel im Nordosten der Hauptstadt. Wie eine Steilküste schieben sich die klobigen, elfstöckigen Wohnblocks dicht an das brandenburgische Flachland heran. Bis zum Ende der DDR wurden am Ostrand Berlins mehr als 100.000 Plattenbauwohnungen auf der grünen Wiese errichtet.
Inzwischen sind die damals gepflanzten Bäume und Sträucher groß geworden. Die Jugendlichen, die hier aufwachsen, ziehen weg, sobald sie alt genug sind. Ein paar bleiben dennoch, so wie Robin Trentow. Ausgebeulte Jeans, geräumiger Pullover, die Baseballkappe im Gesicht - ein Plattenkind. "Ick und woanders wohnen?", fragt der 18-Jährige in breitem Berliner Dialekt. "Nö!" Bis er eine Lehrstelle gefunden hat, macht er weiter mit beim "11. Himmel", Berlins ungewöhnlichster Pension. Sie befindet sich im 11. Stock eines Marzahner Plattenbaus. Mit acht Euro pro Nacht, inklusive Frühstück, ist sie gleichzeitig auch die günstigste.
Der Fahrstuhl hält laut ratternd schon im 10. Stock. "In den Himmel kommt man nur zu Fuß", scherzt Marina Bikádi, die als Sozialarbeiterin vom Kinderring e.V. die Plattenbaupension betreut. Im zugigen Treppenhaus riecht es nach kaltem Beton. "Die Pension soll eine Oase sein. Wir laden die Skeptiker ein, die noch nie in einer Platte waren, um ihnen zu beweisen, dass man auch hier gut leben kann." Vielen gilt Marzahn als Ghetto, ein Image, das verändert werden soll. Und die zwölf Kids zwischen neun und 18, die hier mitarbeiten, haben auch noch was davon: "Sie lernen Disziplin, soziales Verhalten und können sich beruflich orientieren", sagt Bikádi.
Der "11. Himmel" ist 99 Quadratmeter groß und gehört zu jenen Wohnungen, die im Wohnungsbauprogramm der DDR für kinderreiche Familien vorgesehen waren. Nach jahrelangem Leerstand - die "Kinderreichen" sind längst weggezogen - bekam der Kinderring die Fünf-Raum-Wohnung mietfrei überlassen. Bikádi lud Kids aus den Blocks ringsum dazu ein, die Zimmer zu gestalten. Nun sieht jedes anders aus: Eins ist mit Hängematten ausgestattet. Es heißt "Bett im Kornfeld", denn die Wände sind mit wogenden gelben Feldern bemalt. Herzstück aber ist die "Königinnensuite", in der schwere Perserteppiche jedes Geräusch verschlucken. Rote Seidentücher spannen sich über das riesige Himmelbett, bestickte Kissen liegen wie Kunstwerke darauf. Weil schwere Vorhänge den Ausblick auf den tristen Nachbarblock abschirmen, kommt man sich hier wie ein König vor. Das "Ankleidezimmer" nebenan, mit Schminktisch und alter Kommode, verströmt dagegen den Charme der 20er-Jahre. Ein Besuch im 11. Himmel - ein Ausflug in die Geschichte.
Einen Ausflug in die Umgebung steht am nächsten Morgen auf dem Programm. Robin wird zum Stadtführer, zeigt seinen Gästen die schönen Seiten in seinem kantigen Kiez. Zuerst geht es zur Wuhle, einem Bach, der sich durch die Platten schlängelt. "Manchmal angeln da sogar welche", sagt er. Schon halb in den Feldern steht ein künstlicher Kletterfelsen, an dem die Marzahner das Abseilen aus 17 Metern Höhe trainieren. Auf dem Rückweg geht es vorbei an den "Terrassen", jenen Plattenbauten, deren obere Stock-werke abgetragen wurden. Dieses Verfahren zur Wohnraumreduktion nennt sich "Stadtumbau Ost" und wird heute wegen des Bevölkerungsschwundes in fast jeder ostdeutschen Trabantenstadt angewandt. Aus Elf-Geschossern werden zwei- oder dreistöckige kubistische "Villen", die aussehen wie hingewürfelt. Am Ende des Rundgangs köpft Robin erstmal eine Cola. Das viele Laufen hat ihn durstig gemacht.
Die Kids des Viertels können jederzeit beim "11. Himmel" einsteigen. Wer Dienst hat, trägt als Arbeitskleidung einen roten Pullover mit der Aufschrift "Pensionär"; wer korrekt ist, trägt auch das passende Käppi dazu. "Einige ziehen das auch in der Schule an, da sind sie dann natürlich wer." Marina Bikádi ist stolz auf ihre Pensionäre, mit denen sie auch regelmäßig Exkursionen unternimmt. "Im Dezember waren wir im Hilton Hotel am Gendarmenmarkt", sagt die 13-jährige Sarah. "Also, ich fand das ja dort ziemlich nullachtfünfzehn. Da sind unsere Zimmer besser!" Sie kennt sich aus, schon seit zwei Jahren ist sie dabei. "Wir machen die Betten, räumen auf und putzen. So'ne Pension macht echt Arbeit!" Besonders spürt sie das am Wochenende, wenn andere ausschlafen können. Dann steht sie auf, geht zum Bäcker und bereitet den Gästen das Frühstück vor.
Unter den Berlin-Besuchern mit einem Sinn fürs Besondere ist der "11. Himmel" ein Geheimtipp. Für Feiertage und Wochenenden muss man auf Monate im Voraus buchen. Besonders beliebt ist die Plattenpension bei jungen Westeuropäern und Westberliner Senioren. Beides Gruppen, die Zeit ihres Lebens noch nie einen Fuß in eine Platte gesetzt haben. "Das Schärfste war das Rentnerehepaar aus Charlottenburg, das irgendeine runde Hochzeitsnacht hier verbracht hat", erinnert sich Robin.
www.pension-11himmel.de, Telefon: 030 / 937 720 52, Wittenberger Straße 85, 12689 Berlin