Das Glückwunschtelegramm Heinrich Lübkes war voll des Lobes. Der Bundespräsident schrieb 1960 an den hochbetagten General nach Hamburg: "Mit ihrem Namen verknüpfen sich nicht nur Erinnerungen an militärische Leistungen, sondern auch die damit verbundene aufrechte menschliche Haltung." Der frühere Verteidigungs- minister Kai-Uwe von Hassel (CDU) sah etwas später in dem "unbesiegten Verteidiger Deutsch-Ostafrikas" Paul von Lettow-Vorbeck gar "ein Leitbild".
Der Militär Lettow-Vorbeck selbst rechnete sich in seinen unzähligen Schriften zu, als Kommandierender der Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika zwischen 1914 und 1918 in "unseren Kolonien für das Wohl der Mohren" gesorgt zu haben. Das unter seinem Namen herausgegebene, auch von vielen Erwachsenen gelesene Jugendbuch "Heia Safari" hatte eine Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren und war Schullektüre im Dritten Reich. Seine Vaterstadt Saarlouis machte den Sohn eines Offiziers 1956 zum Ehrenbürger. In der alten Bundesrepublik sind unzählige Straßen nach ihm benannt. Zwei Bundeswehrkasernen tragen bis heute seinen Namen.
Lettow-Vorbeck ist also kein Unbekannter. Umso mehr muss es verwundern, dass über diesen Mann bislang keine historisch-kritische Biografie existiert. Was wir über Lettow-Vorbeck wissen, das wissen wir überwiegend von ihm selbst. Und dessen Aussagen in eigener Sache seien höchst tendenziös, so der junge Oldenburger Historiker Uwe Schulte-Varendorff in seiner nunmehr vorgelegten, kritischen Monografie über den General. Lettow-Vorbeck, von seinen zahlreichen Verehrern "der Löwe von Afrika" genannt, war ein Mann, der sich in seinen Schriften als Freund der Afrikaner darstellte, als ritterlicher Offizier und nicht zuletzt als Anti-Nazi. Kaum etwas davon stimme, resümiert Schulte-Varendorff in seinem äußerst faktenreichen und lesenswerten Buch.
So gehört es bis heute zu den deutschen Kolonialmythen, dass die Askari, afrikanische Soldaten in deutschem Sold, immer treu zur kaiserlichen Armee gestanden hätten. Falsch, sagt Schulze-Varendorff: "Spätestens ab 1916 häuften sich die Desertionen und gefährdeten in zunehmendem Maß die Kampfkraft der Truppe." Fast jeder fünfte sei damals, obwohl auf Flucht die Todesstrafe stand, desertiert. Eine andere Legende lautet, die deutschen Kolonialherren hätten die Afrikaner besser behandelt als die Briten oder Franzosen. Auch dies relativiert der Autor. Mit zunehmender Dauer des Weltkriegs fielen auch bei den Deutschen "alle Hemmungen". Der Krieg in Ostafrika, den die Verantwortlichen in Berlin nicht wollten, wohl aber ihr Vorposten und Kommandeur Lettow-Vorbeck, "kostete die Zivilbevölkerung Deutsch-Ostafrikas insgesamt über 700.000 Menschenleben, was ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach". Das oft zugunsten Lettow-Vorbecks vorgebrachte Argument, sein Kampf in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, habe durch die dabei geschickt angewandte Guerilla-Taktik eine hohe Zahl feindlicher Truppen in Afrika gebunden, lässt der Autor nicht gelten: Die von den Briten überwiegend ins Feld geschickten afrikanischen und indischen Soldaten wären in Europa ohnehin nicht eingesetzt worden.
Weil es mit der Kommunikation nicht klappte, ergab sich Lettow-Vorbecks Afrika-Truppe erst, als in Europa längst die Waffen schwiegen. So kam es zu seinem Markenzeichen: "Im Felde unbesiegt." Freikorps und Nationalsozialisten hofierten den Mann, der sich nicht lange bitten ließ. Nach dem Weltkrieg beteiligte er sich an führender Stelle am Kapp-Lüttwitz-Putsch gegen die junge Weimarer Republik. Später engagierte er sich, obwohl selbst formal nie Mitglied der NSDAP, im In- und Ausland als nimmermüder Vortragsreisender des Nationalsozialistischen Reichskolonialbundes. 1939 ernannte Hitler den damals 69-jährigen ehrenhalber zum General der Wehrmacht. In den 50er-Jahre reiste Lettow-Vorbeck mit unverändert völkischem Weltbild im Auftrag deutscher Illustrierten nach Afrika und stillte den Lesehunger der Deutschen nach "schwarzer Exotik".
Für die vorliegende sachlich-nüchterne Biografie hat der Autor unter anderem Lettow-Vorbecks Tagebücher aus dessen Afrika-Zeit ausgewertet. Dabei fördert er durchaus Neues zutage. So stammt offenbar das dem General zugeschriebene Buch "Heia Safari" gar nicht aus dessen eigener Feder, sondern war eine Auftragsarbeit seines Freundes und engen Weggefährten Walter von Ruckteschell.
Schulte-Varendorff konzentriert sich ganz auf den militärischen und politischen Werdegang. Auf die Persönlichkeit seiner Figur geht der Autor in seiner Biografie leider zu wenig ein: Was war er für ein Mensch, dieser Lettow-Vorbeck? Da hätte der Autor sich ruhig ein wenig bei Klaus Theweleit bedienen können, der den "Pardon-Wird-Nicht-Gegeben-Militär" schon vor vielen Jahren in seine "Männerphantasien" aufgenommen hat. Dennoch: Dieses Buch ist wichtig. Es stürzt den einstigen Volkshelden Lettow-Vorbeck - zu Recht - von dem Sockel, auf den der Militär unter dem Beifall vieler Umstehender einst selbst gestiegen ist.
Uwe Schulte-Varendorff: Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck. Eine Biographie. Ch. Links Verlag, Berlin 2006; 240 Seiten, 24,90 Euro.