Deutschland 2007. Die Politiker übernehmen besondere Verantwortung in der Europäischen Union. Verantwortung vor wem? Transnationale Unternehmen suchen nach dem rechten Weg zum Erfolg. Welche Regeln gelten dabei global? Forschungseinrichtungen streben nach internationaler Reputation. Auch bei Experimenten mit menschlichen Stammzellen? Klar ist: Es bewegt sich etwas in diesem Land. Gut so. Aber in welche Richtung soll es gehen?
Zeit, sich mit Ethik zu beschäftigen, mit Moral gar. Mit den "weichen" Themen also, wie das heute heißt. Nicht so bei Hans Jonas, dem großen Philosophen des letzten Jahrhunderts. Der schreibt in seinem Buch "Prinzip Verantwortung" über die Ethik: "Was dem Thema einigermaßen gerecht werden soll, muss dem Stahl und nicht der Watte gleichen. Von der Watte guter Gesinnung und untadeliger Absicht, der Bekundung, dass man auf Seiten der Engel steht und gegen die Sünde, gibt es in der ethischen Reflexion unserer Tage genug." Das war vor einem Vierteljahrhundert. Es könnte heute geschrieben sein. Ethische Reflexion ist wieder ein Thema - in Managerkreisen, in der Medizin, der Hirnforschung, im Arbeitsleben, in der Kunst. Kurzzeitige Ausflüge der Gesellschaft in gänzlich morallose Gefilde werden meist schnell wieder angeödet verlassen. Stichwort New Economy zur Jahrtausendwende. Stichwort öffentliche Ausländerhetze, die aufbricht und dann glücklicherweise wieder in Peinlichkeit versinkt. Ethik ist wichtig. Aber wie Stahl?
Ethik beschäftigt die Menschen, manche früher, manche später. Neben der Politik - der Frage, wie man einen Staat führt - und der Ökonomie - der Frage, wie man ein Unternehmen führt -stellt sich irgendwann die Frage: Wie führe ich mein Leben? Macht mich das glücklich? Als Antwort gibt es watteweiche Beruhigungsmethoden wie die Mitgliedschaft bei Transparency International oder den ganz persönlichen Besuch im Altersheim zu Neujahr. Und es gibt ein paar stahlharte Überlegungen, die meist einen hohen Einsatz - das Leben - fordern, und als Profit nur eines versprechen: das Leben.
Die Fragen, woran sich Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und der Einzelne ausrichten, sind immer in Umbruchszeiten besonders knackig. "Globalisierung" ist so ein Megatrend, der nach Maßstäben, nach Orientierung, nach Sitte und Anstand fragen lässt. Die Auflösung und Neuformierung von Religionen ist ein solcher Trend. Die Vereinzelung und gleichzeitige Vermassung durch Medien verändert Lebenserfahrungen und schafft Bedarf nach Leitlinien für das Verhalten in der Gesellschaft. Der demographische Wandel fordert Entscheidungen heraus, wie wir mit den Alten, den Kindern, der Familie künftig umgehen wollen. Ethik ist dann kein Brimborium, das notfalls auch wegfallen könnte, wenn es gerade an Geld oder Zeit mangelt. Sie gleicht dem Stahl, der einer Gesellschaft oder einem Leben ein Gerüst verleiht.
Lang und manchmal ätzend sind die Debatten über die richtige, die angebrachte Moral. Der schnellere Weg zur Ethik führt über deren Abwesenheit. Es ist wie mit deren Geschwistern Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit: Das sind hehre Worte, und die klügsten Philosophen können sie nicht genau definieren. Doch komisch: Jeder kleine Gauner weiß doch ganz genau, wann er lügt, wie der Schriftsteller Amos Oz beobachtet hat. Vernachlässigte Kinder, betrogene Ehepartner, gemobbte Mitarbeiter, eingekerkerte Regimegegner, diffamierte Politiker wissen unmittelbar, dass Ethik mehr ist als ein wohlmeinender Begriff. Grundnahrungsmittel eher als Zuckerwatte. Stets gefährdet, aber immer noch verlässlicher als Geld. Kein fertiges Regelwerk, sondern spannungsreiches Feld für freie Entscheidungen. Keine Geschmacksfrage, sondern etwas, was dem Leben Geschmack und Würze verleiht.
Der Autor ist freier Journalist in Leutkirch.