Peenemünde
Die Gemeinde auf Usedom gilt als erste Station auf dem Weg zum Mond. Von den Schattenseiten erzählt das Historisch-Technische Informationszentrum.
Peenemünde auf der Ostsee- insel Usedom: Der blau-weiße Triebwagen der Bäderbahn hält neben tristen, mit Graffiti besprühten Mietshäusern - vom Vandalismus heimge-sucht, die Fassaden blättrig. Ein Ort ohne "Baedeker"-Stern und boomende Tourismusindustrie. Während der NS-Diktatur entstand hier eines der weltweit modernsten Technologiezentren und zugleich größten Rüstungsprojekte. Hier wurde unter Leitung von Wernher von Braun die so genannte "Vergeltungswaffe" V-2 entwickelt, wie sie in der Goebbelsschen Propagandasprache hieß.
Heute befindet sich auf dem ehemaligen Gelände der nationalsozialistischen Heeresversuchsanstalt das Historisch-Technische Informationszentrum (HTI). Das größte Industriedenkmal Mecklenburg-Vorpommerns ist Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt. Während lediglich vier Prozent aller deutschen Museen mehr als 100.000 Besucher im Jahr aufweisen können, pilgerten 2005 über 240.000 Besucher nach Peenemünde. Eine beeindruckende Erinnerungsstätte von internationaler Strahlkraft.
Am 11. Mai 2007 werde man eine einzigartige Denkmallandschaft eröffnen, erzählt Direktor Christian Mühldorfer, seit Januar 2006 neuer Museumsdirektor. Dann können Besucher auf einem Lehrpfad zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto 13 Orte der ehemaligen Heeresversuchsanstalt besichtigen, darunter das Sauerstoffwerk, das Konzentrationslager Karlshagen 1, Bahnsteige der Werkbahn und Teile des Flugplatzes - Orte, die der Öffentlichkeit bislang nicht zugänglich waren, weil nicht alle Minen und Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg beseitigt werden konnten. Tafeln werden hier über die Bedeutung und Geschehnisse an den jeweiligen Punkten informieren.
"Peenemünde war das erste historische Großforschungsprojekt der Welt", so Mühldorfer-Vogt. Unter anderem entstand hier der weltweit größte Windkanal, in dem man die 4,4-fache Schallgeschwindigkeit messen konnte. Fernab der Großstädte ließen die Nationalsozialisten Raketen konstruieren und über die Pommersche Bucht verschießen. Am 3. Oktober 1942 gelang der erste erfolgreiche Start einer Fernrakete in den Weltraum.
"Es sind Menschen mittleren und höheren Alters, die hierher kommen", weiß der Museumsführer und Historiker Hans Knopp zu berichten: "Und es sind viele Technikfreaks unter ihnen, die den ,Geburtsort der Raumfahrt' erleben wollen." Aufgabe des Museums sei, diese Menschen auch mit den Schattenseiten zu konfrontieren. Und die gibt es reichlich. Rund 22.000 V-1- und 3.000 V-2-Raketen wurden während des Zweiten Weltkrieges auf Städte in Belgien, Holland, England und Frankreich abgefeuert. Den Kriegsverlauf konnten die vermeintlichen Wunderwaffen jedoch nicht beeinflussen. Über 20.000 Zwangsarbeiter kamen bei ihrer Produktion ums Leben - mehr als der verbrecherische Einsatz Opfer forderte. Bis zu 12.000 Menschenleben forderten die Raketenangriffe auf London, Antwerpen und andere Städte.
Heute gilt die V-2 gilt als Vorläufer aller militärischen Langstreckenwaffen - und der zivilen Weltraumträgerraketen. Wie soll man das bewerten, fragt der 45-jährige Historiker: "War es die Wiege der Raumfahrt oder die Hölle, weil hier ja Massenvernichtungswaffen konzipiert wurden?" Peenemünde sei ein janusköpfiger Ort des technischen Fortschritts gewesen, der gleichzeitig von Weltmachtstreben und Menschenverachtung des NS-Regimes zeuge, sagt Mühldorfer-Vogt.
Gleich am Museumseingang steht sie, die zigarrenförmige "Wunderwaffe" mit der Bezeichnung "Aggregat 4". Daneben dutzende Museumsbesucher mit ihren Digitalkame-ras. Anschlagsbereit für das Gruppenbild mit V-2. Im Hintergrund steht das Herzstück des HTIs, die Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerkes. Zwischen 1939 und 1942 wurde es erbaut, um den ungeheuren Energiebedarf der V-2-Produktion zu decken.
Heute beherbergt das gigantische Gebäude eine ständige Ausstellung mit Dokumenten, Filmen und Fundstücken, Rauminszenierungen, Musik- und Intervieweinspielungen. Eindrucksvoll und informativ wird dabei der verhängnisvolle Pakt zwischen Wissenschaft und Militär dokumentiert. Auf dem weitläufigen, 12.000 Quadratmeter großen Freiluft-Areal des Informationszentrums sind Kampflugzeuge, Hubschrauber, rostige Düsentriebwerke und Raketen aller Art zu sehen.
Peenemünde ist ein geschichtsträchtiger Ort mit militärischer Tradition. König Gustav Adolf von Schweden landete hier 1630 während des 30-jährigen Krieges. Die Rote Armee, die NVA und die Bundeswehr waren hier stationiert. Im kollektiven Gedächtnis ist Peenemünde aber weniger als militärisches Großprojekt präsent denn als erste Station auf dem Weg zum Mond. In den 1990er-Jahren hatte die Gemeinde damit geworben, dass hier das Tor zum Weltraum gestanden habe. "Die Wiege der Raketen wurde den Opfern zum Sarg" mahnt ein kleines Schild vor der Kapelle gegenüber dem Museumseingang. Eines der wenigen Gebäude, das aus alten Peenemünder Tagen erhalten geblieben ist.
Die Faszination, die von Peenemünde ausgeht, ist ungebrochen. Ein Publikumsmagnet, ein Mythos, aber auch ein Lernort mit ganz besonderen Herausforderungen. Gerade habe das Museum eine so genannte "Walter Schleuder" erworben, erzählt Mühldorfer-Vogt - ein mobiles, 48 Meter langes Katapult zum Abschuss der V-1. Das Kriegsgerät werde restauriert, danach ausgestellt. Aber damit fangen die Probleme erst an: "Weil es natürlich nicht darum geht, diese beiden Module, Schleuder und V-1, als Waffe zu glorifizieren. Das ist der schmale Grad, auf dem wir permanent wandern: Die Besucher erwarten, spannende Ausstellungsstücke zu sehen. Aber wir haben einen Bildungsauftrag, und das heißt, wir wollen keine Sensationsheischerei betreiben." Im Mittelpunkt des Museums stehe die Auseinandersetzung mit der militärisch-technischen Vergangenheit, die Ambivalenz von Ethik und Wissenschaft, so der HTI-Leiter. Dass dieser Ort zum Wallfahrtsort für Rechtsradikale werden könne, bestreitet der Museumsdirektor vehement: "Die alten Peenemünder, die hier einmal gearbeitet haben, werden immer weniger und kommen einmal im Jahr. Die sind aber nicht mit alten Nazis gleichzusetzen. Was junge Nazis betrifft, da war ich auch etwas skeptisch am Anfang. In meiner Amtszeit gab es keine Zwischenfälle."
Über sechs Millionen Euro haben das Land Mecklenburg-Vorpommern und der Bund seit 1996 in Aufbau und Sanierung des Museumsprojektes investiert. Die Mitarbeiter um Direktor Mühldorfer Vogt wollen das Bildungs- und Kulturprojekt weiter entwi-ckeln. Dafür sind weitere Investitionen nötig, die das Museum als Eigenbetrieb der kleinen 300-Seelen-Gemeinde Peenemünde nicht aufbringen kann.
Dennoch, und darauf ist man beim HTI stolz, werden 85 Prozent der laufenden Kosten durch die Einnahmen wieder eingespielt. Damit gehört es zu den wirtschaftlichsten Museen Deutschlands. Gleichwohl versuche man das HTI auf privatwirtschaftliche Füße zu stellen, so Mühldorfer-Vogt. Gespräche in Richtung einer Stiftung würden bereits mit Land und Bund geführt. Aber die ziehen sich schon seit Jahren ohne erkennbare Ergebnisse hin. Die Zeit drängt. In einem Jahr verfüge das Historisch-Technische Informationszentrum über keine Rücklagen mehr, so der Direktor und prognostiziert: "Wenn man es darauf ankommen lassen sollte, dass wir in ernste Schwierigkeiten kommen, dann wäre der internationale Flurschaden enorm."