Parallel zum alltäglichen Schönheitskult der letzten Jahrzehnte, der alle Merkmale einer technologisch und massenmedial gestützten kulturellen Hochkonjunktur aufweist, hat sich in Biologie und Psychologie eine Theorie der Schönheit entwickelt, die unsere ästhetischen Präferenzen - insbesondere gegenüber dem Körper des anderen, aber auch des eigenen Geschlechts - als Erbschaft unserer biologischen Evolution begreift. 1 Wissenspolitisch passt das Phänomen in die allgemeine Aufwertung biologischer und genetischer Erklärungsmuster, die in den letzten Dekaden zu beobachten war. Ich diskutiere im Folgenden einige der evolutionsbiologischen Hypothesen zu den lebensbegünstigenden Vorteilen von Schönheit und konfrontiere diese mit gegenläufigen Mechanismen, die Schönheit und Schädlichkeit, ja Schönheit und Tod verschränken. Die heutige Verehrung des perfekten Aussehens hat einen hohen Preis: Sie zeigt etliche Merkmale eines tyrannisch gewordenen Kults mit einem hohen Potenzial an pathologischen Effekten.
Evolutionäre Prozesse im Sinne Charles Darwins können mittel- und langfristig nur solche körperlichen Merkmale und Verhaltensmuster wählen`, die das Überlebensvermögen ("survival fitness") begünstigen. Dieses wird nicht oder allenfalls in zweiter Linie am Lebensalter von Individuen gemessen, sondern an ihrem Fortleben in den nächsten Generationen ("Reproduktionserfolg"). Darwins Frage war nun: Warum sind überhaupt sexuelle "Ornamente" entstanden und warum sind sie zwischen den Geschlechtern einer Spezies meist asymmetrisch verteilt? Was ist der Vorteil solcher Ornamente, wenn sie oft sogar so unpraktisch sind wie das paradigmatische Pfauenrad? Nach mehreren Jahrzehnten fortgesetzten Grübelns über diese Frage gab Darwin die Antwort: Die sexuellen Ornamente verschaffen Vorteile bei der Konkurrenz um sexuelle Partner. Mehr noch: Gäbe es nicht sexuelle Konkurrenz, gäbe es nicht die evolutionäre Fixierung immer extremerer Körperornamente. Sigmund Freud hat Darwins These, der evolutionäre Sinn körperlicher Schönheit sei das sexuelle Begehrtsein, direkt übernommen; seit Platos Definition des Schönen als des begehrten Objekts des Eros ist diese These vielfach variiert worden, bevor sie zur Basiserzählung der Evolutionstheorie körperlicher Schönheit geworden ist. Diese Erzählung` unterstützt nicht nur die Motive, die den heutigen Schönheitskult antreiben, sie verleiht ihm sogar den Charakter eines ewigen Naturzwangs.
Um die Möglichkeit der Entwicklung zu oft bizarren sexuellen Aussehensunterschieden ("Dimorphismen") denken zu können, unterstellte Darwin eine grundsätzliche Bereitschaft zur Bevorzugung überdurchschnittlicher und neuer Reize (heute als "Neophilie" weithin akzeptiert), zur Präferenz für Unterschiede um der Unterschiede willen. Nur solche variationsfördernden Dispositionen erlauben rasche Radikalisierungen bestimmter Trends des Aussehens ebenso wie Stillstand und Umkehr evolutionärer Attraktivitätspräferenzen. Die Natur "sexueller Wahl" darf kein fixes Ideal kennen, um stets aufs Neue und auf unvorhersehbare Weise selektiv bleiben zu können. Darwin sah daher gute Gründe dafür, sexuelle Aussehenspräferenzen - also den Motor der Evolution sexueller Ornamente am Körper der Lebewesen - wiederholt und systematisch mit den " Capricen der Mode" zu parallelisieren. Die Schönheitspräferenzen der einzelnen Spezies sind für ihn die naturgeschichtlichen Repräsentanten kultureller Moden. Sie sind inzwischen auch als wichtige Faktoren bei der Abgrenzung eng benachbarter und der Evolution neuer Arten identifiziert worden.
Warum aber soll die Bevorzugung schöner vor weniger schönen Objekten ein adaptiver Mechanismus sein? Darwins Antwort lautete: Es bedarf eines Mechanismus, der die sexuelle Wahl leitet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die meisten Tiere keine lange Phase der Werbung und des Sich-Kennenlernens durchlaufen, sondern sich in sehr kurzen Zeitfenstern für oder gegen einen Partner entscheiden (müssen). Bei manchen Arten gibt es einen hohen Anteil gewaltsamer Konkurrenz um sexuelle Partner, doch wird der Sieger keineswegs automatisch vom weiblichen Tier akzeptiert; bei sehr vielen Arten nun findet diese Konkurrenz ganz oder teilweise mittels grundsätzlich beliebiger Systeme von Körperzeichen statt, die ausschließlich zum Zweck der sexuellen Selbstanpreisung entstanden sind. Bei Vögeln kann dies zur Paarungszeit das Vorführen des Federschmucks, der Gesangs-, der Tanz- und manchmal auch skurriler Baukünste sein. Darwin hat eben diese Bevorzugung auf der Basis sexueller Ornamente und ästhetischer Künste der Selbstdarstellung im Unterschied zur "natürlichen Selektion" als "sexual selection" bezeichnet und in den Gesangs-, Tanz- und Baukünsten etlicher Tiere bereits einen Übergang von der Präferenz für gegebene körperliche Vorzüge zu artistischen Leistungen, letztlich zur gezielten Hervorbringung von Kunst als einem Medium vorteilhafter Selbstdarstellung gesehen.
Darwin glaubte, dass der Attraktivitäts- und damit zugleich Selektionsvorteil besser ausgebildeter Körperornamente auf einem sich selbst tragenden Mechanismus beruht: Es ist für Pfauenhennen - wohlgemerkt rein evolutionär, das heißt ohne jede Beteiligung intentionalen Handelns - schon allein deshalb vorteilhaft, männliche Pfauen mit noch etwas längeren Federn und noch perfekter symmetrischen Mustern zu wählen, weil die anderen Pfauenhennen das launischerweise auch tun; Moden, so Darwin, haben die kapriziöse Eigenschaft eines letztlich unableitbaren Entstehens und einer raschen Verbreitung bei gleichzeitiger Tendenz zum maximalen Ausreizen einer einmal eingeschlagenen Richtung. Ist einmal eine Population von einer solchen Präferenz für bestimmte Körperornamente erfasst, dann ist zu erwarten, dass Nachwuchs, der die leicht übertriebenen Ornamente erbt, wiederum Vorteile in der sexuellen Konkurrenz hat usw. Am Körper fixierte Aussehensmoden, so Darwin, bedürfen daher keiner anderen vernünftigen Begründung als die der Attraktion, die von rein kulturellen Kleidungsmoden ausgeht. (Einige neodarwinistische Hypothesen, die körperliche Attraktivität einfach mit Gesundheit, Fertilität und "guten Genen" gleichsetzen, dürfen daher nicht mit Darwins eigener Lehre verwechselt werden.)
Bei der großen Mehrheit der Tierarten sind die weiblichen Exemplare unscheinbar, die männlichen dagegen stärker, oft spektakulär ornamentiert. Darwin folgerte - und ist darin inzwischen vielfach bestätigt worden -, je schöner das männliche Geschlecht einer Spezies sei, desto stärker unterliege es der Wahl durch das weibliche, denn anders hätten die fraglichen Ornamente nie in ein solches Extrem getrieben werden können. Wo immer wir heute hochornamentierte männliche Tiere - Paradiesvögel, Hirsche, Löwen usw. - sehen, haben wir es also mit dem evolutionären Niederschlag fortgesetzter Akte der "weiblichen Wahl" ("female choice"), des weiblichen "Geschmacks" an immer extremeren Ornamenten zu tun. Oder allgemeiner: Das jeweils schönere' Geschlecht einer Spezies sieht mit Rücksicht auf seine sekundären, teilweise auch die primären sexuellen Merkmale letztlich genau so aus, wie das andere Geschlecht es über viele Generationen gewollt' hat. Diese Theorie beinhaltet natürlich gewaltigen Sprengstoff für die Diskussion menschlicher Körperpolitik.
Eine weitere Folgerung: Je größer der Schönheitsabstand zwischen den beiden Geschlechtern einer Spezies, desto mehr unterliegt das jeweils schöne Geschlecht' einer scharfen Konkurrenz innerhalb des eigenen Geschlechts. Hohe Schönheitsgrade, hoher gleichgeschlechtlicher Konkurrenzdruck und hohes Risiko des Scheiterns beim Gewähltwerden durch das andere Geschlecht hängen also direkt miteinander zusammen. Die unscheinbaren Pfauenhennen bekommen alle einen Pfau und haben einen relativ einheitlichen Reproduktionserfolg; von den schönen Männchen kommen dagegen nur die allerschönsten zum Zug, während die große Mehrheit aus der Evolution herausfällt. Dieser buchstäbliche survival of the prettiest übt einen enormen Druck aus. Wenn man dieses Geschehen nicht von der winner takes all-Seite betrachtet - was die Evolutionstheorie allerdings fast immer tut -, dann ist es allemal bequemer, zum relativ unscheinbaren Geschlecht zu gehören, das aus anderen Gründen als Schönheit über die Macht der Wahl verfügt. Außerdem erfährt die Lebensbahn der schönsten' Tierarten nach einer kurzen Periode des Glanzes einen besonders steilen Knick in sexuellem Erfolg und sozialer Rolle. Individuen weniger ornamentierter Arten leben meist länger, haben länger Anteil am Theater von Werbung und Paarung und erfahren keine gleichermaßen dramatische Entthronung durch ihre jüngeren Nachfolger. Die höchsten Grade der Schönheit und der schönheitsgestützten Belohnungen werden insofern teuer bezahlt. Etliche Lebensläufe alternder Diven scheinen diese Regel zu bestätigen.
In der Folge Darwins hat die Evolutionsbiologie eine damit zusammenhängende Regel entdeckt: Je stärker sich der Ornamentierungsgrad zwischen den Geschlechtern einer Spezies unterscheidet, desto geringer ist der Anteil der Elternarbeit ("parental investment") auf der Seite der schönsten und sexuell erfolgreichsten Individuen. Der polygame Pfau etwa trägt zu seinem Nachwuchs nichts bei als den sexuellen Akt selbst. Für diejenigen Spezies, in denen die weiblichen Tiere die schönen sind, wurde grundsätzlich dasselbe festgestellt: "Beautiful females work less." Ein entferntes Echo dieser allgemeinen Regel wurde sogar in der heutigen menschlichen Population gemessen. Die schönsten Frauen werden in attributionstheoretischen Tests regelmäßig nicht für die besten Mütter gehalten. In Parametern wie "Sorge um andere", Zuverlässigkeit und der Bereitschaft hart zu arbeiten, schneiden sie signifikant schlechter ab als durchschnittlich aussehende Frauen. Die Evolutionstheorie sieht also starke Evidenzen dafür, dass es einen evolutionären Regelkreis folgender Art gibt: Große Schönheitsdifferenzen zwischen den Geschlechtern einer Spezies korrelieren mit großen Differenzen im "parental investment", im Beitrag zur Arbeit am Nachwuchs; wo die Geschlechter dagegen etwa gleich schön' sind, sagt die Evolutionstheorie eine etwa gleiche Arbeitsverteilung voraus. Für diesen Regelkreis gibt es im Tierreich die verrücktesten Beispiele. Die heute verbreitete Überzeugung, dass Schönheit vieles leichter mache, dass sie in Liebe, Beruf und sonstigem sozialen Leben unverdiente Vorteile verschaffe, die andere schwer erarbeiten müssen, findet hier einen evolutionstheoretischen Rückhalt.
Der Mensch unterliegt nach Darwin schon lange nicht mehr sexueller Wahl' nach Aussehenspräferenzen. Kultur hat die bei den Tieren verbreitete Schönheitswahl weitgehend entmachtet. Abgesprochene Heiraten, Frauentausch zwischen Clans, Familienallianzen, Religionszugehörigkeit und soziale Standesrücksichten sorgten dafür, dass reine Aussehenspräferenzen weitaus weniger partnerwahlbestimmend waren als bei den meisten Tieren. Aber gerade seit dem frühen 19. Jahrhundert mehren sich Anzeichen für eine grundlegende Änderung. Traditionelle soziale Determinanten der Partnerwahl verlieren seither immer mehr an Bedeutung. Das rein individuelle Gefallen' gewinnt komplementär an Macht - und damit nicht allein die Erwartung von Einstellungskompatibilitäten und teilbaren Selbstentwürfen, sondern auch die Orientierung an Aussehensvorzügen. Die "Mode", diejenige der Kleidung und diejenige des Körpers selbst, beerbt die traditionellen Codes für Partnerpräferenzen (Religion, Familie, Stand usw.). In einer Welt, die zunehmend alle sozialen Rahmungen verzehrt, stehen die obdachlosen' Individuen nur noch als abstrakte einzelne Körper da - und suchen und finden eine Art Religionsersatz am Sosein des Körpers selbst. Diese Entwicklung kann als Rückkehr in die Zeiten tierischer Schönheitswahl gedeutet werden, als überraschender Kurzschluss von hochkultureller Moderne und archaischen Zeiten.
Frühere Kleidungsmoden waren in einem höherem Maße Verkleidungen des Körpers; sie erlaubten es auch weniger perfekten' Körpern, über bestimmte Schnitte, Stoffe, Ornamente und Dresscodes an kulturellen Attraktivitätsmustern zu partizipieren. Im 20. Jahrhundert dagegen, vollends in seiner zweiten Hälfte, hat sich eine Bekleidungsmode durchgesetzt, die körperliche Mängel' nicht mehr wohlwollend zudeckt, sondern unbarmherzig verstärkt und insofern als ein "Handicap" mit Wahrheitswert funktioniert (Amotz Zahavi). Präsentiert und verlangt wird letztlich überall ein plastisch-schöner nackter Körper. Die Bloßlegung der biologischen Substanz lässt die Kleidungsmode zur Agentin einer Biopolitik ästhetischer Selektion werden. Gibt es insofern eine Konvergenz von heutiger Moderne und der harten Selektion in evolutionären Zeiten? Ist die biologische Evolutionstheorie daher vielleicht tatsächlich das passende Theorieangebot für postmoderne Zeiten?
Darwins Diagnose, dass die menschliche Kultur die Schönheitswahl seit langer Zeit weitgehend entmachtet habe, bringt für die "evolutionären Zeiten" der Menschwerdung zwangsläufig eine gegenläufige Hypothese mit sich: In diesen muss es sexuelle Selektion nach Aussehensmerkmalen gegeben haben, denn sonst hätten die sekundären sexuellen Unterschiede (Dimorphismen) der menschlichen Geschlechter sich nicht entwickeln können. Hinreichende Anzeichen für eine solche sexuelle Selektion nach ästhetischen Vorlieben sieht Darwin zumal in den markanten Aussehensabweichungen des Menschen von seinem Vorgänger gegeben: in der Bloßlegung der zuvor mit dunklem Fell bedeckten Haut und in Ornamenten wie Haupthaar und Bartwuchs. Was immer sonst die Leistung der menschlichen Haut sein mag, Darwin erkennt in ihrer Entstehung auch und nicht zuletzt eine modische' Abgrenzung von unseren engsten Verwandten. Die nackte Haut teilt die Pfauenrad-Merkmale der relativen Schädlichkeit - denn sie gibt weder den mechanischen noch den thermischen Schutz des Affenfells - und des ästhetischen Differenzgewinns um der Unterscheidung willen: "Der Mensch - und insbesondere die Frau - erfuhr aus ästhetisch-ornamentalen Gründen eine Entfernung der Körperbehaarung."
Heutige Praktiken der Körperhaar-Entfernung versteht Darwin daher als kulturelles Echo eines archaischen Selektionsdrucks, sich optisch möglichst gründlich von unseren behaarten Vorgängern zu unterscheiden. Die menschliche Haut bezeugt sozusagen am Ursprung des menschlichen Körpers eine modernistisch-minimalistische Ästhetik, die mit dem Mittel der Entfernung zuvor vorhandener Hüllen arbeitet. Sie macht es möglich, auf den bloßgelegten Körper die Bekleidung als ein zweites Ornamentsystem zu applizieren. Mehr noch: Die nackte Haut als das kardinale Ornament des Menschen ist in den meisten Umgebungen überhaupt nur zu ertragen, wenn sie durch künstlichen Schutz ergänzt wird. Insofern ist die nackte Haut zugleich ein Ursprung der Kultur.
Nach evolutionsbiologischem Konsens impliziert die Schönheitsbewertung stets zugleich eine positive Zuschreibung (Attribution) hoher sexueller Fruchtbarkeit und führt auch direkt zu messbar höherem Reproduktionserfolg. Die menschliche Kultur, zumal unsere heutige, scheint diese Verbindung von Schönheit und Reproduktionserfolg erheblich geschwächt, wenn nicht unterbrochen zu haben. Experimente haben wiederholt gezeigt, dass etwa die als bestaussehend bewerteten Frauen regelmäßig weder für besonders fruchtbar noch für besonders geeignete Mütter gehalten werden. Langfristige Partnerentscheidungen sind daher auch wesentlich schwächer mit Aussehenspräferenzen korreliert als kurzfristige Blicke auf potenzielle Sexualpartner. Es gibt sogar eine ganze Fülle von Mechanismen, die dafür sorgen, dass besonders gut aussehende Individuen keineswegs die Glückskarte der Evolution gezogen haben. Diese Kehrseiten werden gern übersehen und von der Schönheitsindustrie systematisch verdeckt.
Auf der Ebene des Bewusstseins stellt sich das Versprechen der Schönheit nach allen einschlägigen Erhebungen heute als ein universelles Glücksversprechen dar: bessere Partnerchancen, leichteres Berufsleben, höheres soziales Prestige usw. Deshalb wollen immer mehr Menschen ihrem Aussehen nachhelfen, ja an sich selbst durch shaping-Bemühungen aller Art die Rolle der Evolution übernehmen, welche die große shaping-Agentur der Naturgeschichte war. Nehmen wir einmal an, die Evolutionsbiologie ästhetischer Präferenzen habe nicht nur generell Recht, sondern beschreibe auch korrekt Mechanismen, die bei Menschen noch immer wirksam sind. Dann kann man sich gleichwohl sehr schnell klarmachen, wie leicht die gleichen Mechanismen, die nach evolutionstheoretischer Standardtheorie dem Leben und Überleben dienen, in der heutigen Kultur in die Depression und sogar in tödliche Pathologien führen können.
Ein erstes Beispiel: Von Immanuel Kant über Charles Darwin und Francis Galton bis heute schreibt die Anthropologie dem Menschen das Vermögen zu, auf der Basis der tatsächlich gesehenen Körper durchschnittliche Gattungsbilder zu erzeugen, die Basis aller Attraktivitätserwartung sind. Der materiale Fundus dieser Vergleichsarbeit war von den Urzeiten bis noch ins 19. Jahrhundert auf das direkte Lebensumfeld begrenzt und insofern notwendig realistisch'. Der gleiche "averaging mechanism" führt unter den Bedingungen der heutigen Lebenswelt zu extrem verstärkten Diskrepanzen zwischen empirischen und idealen' Körpern. Mediale Bildwelten induzieren einen Dauerkonsum hochunwahrscheinlicher, zumeist aufwendig präparierter Model-Körper aus aller Welt. Die tendenzielle Abnahme persönlicher Interaktion zugunsten des Medienkonsums verstärkt die Tendenz, dass der gesamte Fundus gesehener und zu einem fiktiven Durchschnitt ausgemittelter Körperwahrnehmungen immer mehr durch hochselektive Ausnahmeerscheinungen geprägt wird; entsprechend schwächer wird die Rückkopplung zu realen Durchschnittskörpern. Eben diese Rückkopplung war aber vermutlich gerade die evolutionäre Funktion des Mechanismus der Durchschnittsbildung. Insofern hat unsere Kultur dafür gesorgt, dass eine ehemals adaptive Fähigkeit geradezu systematisch nicht mehr liefert, wofür sie evolutionär gewählt wurde: das stabilisierende Muster eines durchschnittlichen Gattungs-Phänotyps. Aufgrund des medial verzerrten Inputs' resultiert die gleiche Operation nunmehr in der Fixierung extrem überdurchschnittlicher Körper als Richtschnur ästhetischer Bewertung. Der eigene und die wirklichen gegengeschlechtlichen Körper erscheinen deshalb regelmäßig nur noch als Mängelwesen, die dringend zu bearbeiten sind. Von hier aus wird verständlich, warum langfristige statistische Erhebungen seit den späten 1960er Jahren einen deutlich depressiven Abhang des heutigen Schönheitskults sichtbar machen. Doch nicht nur das Streben nach unerreichbaren Schönheitsidealen, auch die positive Gabe herausragenden Aussehens hat starke Negativ-Effekte:
1. Die Kehrseite des Begehrtseins besonders attraktiver Frauen ist die (antizipierte) Annahme ihrer Kälte und Unzugänglichkeit, übrigens auch ihrer bourgeoisen', Geld- und statusorientierten, materialistischen' Einstellung und ihrer mangelnden Sympathie für weniger Begünstigte und sozial Schwächere. Wie experimentelle psychologische Studien ergeben haben, werden hohe Schönheitswerte assoziativ mit erhöhter Neigung zu Untreue, herabgesetztem Verantwortungsgefühl, Eitelkeit, destruktivem Narzissmus und neurotischen Verhaltensmustern verbunden, dagegen mit sehr niedrigen Werten auf den soziometrischen Skalen für "emotionale Stabilität", "Familie, Liebenswürdigkeit, Gewissenhaftigkeit" und "concern for others". Auf diesen Skalen schneiden Frauen mit höherem Körpergewicht und niedrigeren Attraktivitätswerten eindeutig besser ab - ein weiterer Grund dafür, dass die Beziehungen von Schönheit und Begehrtsein durchaus widersprüchlich sind. Der erhöhte Stressfaktor, der mit einem besonders attraktiven Partner assoziiert wird, begünstigt insbesondere bei langfristigen Partnerentscheidungen eine Tendenz, ausgesprochene Schönheit eher zu vermeiden. Konsistent ist der Befund, dass die beste und ausgewogenste Vorteilsbilanz insgesamt durch durchschnittliches Aussehen - oder durch geringfügiges Übertreffen des Durchschnitts - erreicht wird. Viel Leiden, viele Selbstwertprobleme und viele fruchtlose Bemühungen könnten vermieden werden, wenn diese Einsicht sich gegen die Omnipräsenz von Modelkörpern in den Medien durchsetzen könnte.
2. Besonders gut aussehende Individuen neigen dazu, sowohl ihr sexuelles Begehrtsein als auch ihre beruflichen Erfolge in erster Linie oder ausschließlich ihrem Aussehen zuzuschreiben. Ihr "Ich", sofern es nicht identisch mit ihrer physischen Erscheinung ist, profitiert entsprechend wenig oder gar nicht von ihren Erfolgen. Studien haben gezeigt, dass besonders gut aussehende Frauen berufliche Komplimente nur dann nicht als verschobene Komplimente hinsichtlich ihres Aussehens aufnehmen, wenn die Anerkennung von jemandem kam, der sie noch nicht gesehen hatte. In Freundschaft und Liebe ist die Problemlage keine andere: Die Gutaussehenden wollen auch für ihre Persönlichkeit' geschätzt und geliebt werden, glauben aber, dass eigentlich' nur ihr Körper begehrt wird. Diese Mechanismen sorgen dafür, dass das Konto des "Ich" tendenziell leer bleibt und sich keineswegs parallel zu den (vermuteten) Erfolgen der körperlichen Erscheinung entwickelt.
3. Herausragend attraktive Schülerinnen, so das Resultat einer Langzeitstudie, fühlten sich 20 Jahre später im Durchschnitt weniger glücklich als ihre ehemaligen Mitschülerinnen. Die Lebensläufe von Filmstars und Models sind reich an Beispielen für den Konflikt von Schönheit und persönlicher "happiness". Etliche Philosophen und Psychoanalytiker diagnostizieren einen kausalen Zusammenhang von herausragender Schönheit einerseits und langfristiger Vereinsamung, Depression und Verzweiflung andererseits.
4. Eine spezifische "Erkrankung der Schönheit" an sich selbst ist erst seit den 1980er Jahren zunehmend untersucht worden: ihre Tendenz zu Selbstverkennung und negativer Selbstbewertung. Die neuere medizinische Forschung hat unter dem Sammelbegriff Körperbildstörungen ("body image disorders") Erkrankungen diagnostiziert, die auf einer systematischen Unterschätzung des eigenen Aussehens in Relation zu imaginären Wunschbildern des schlanken oder muskulösen Körpers beruhen. Die davon Betroffenen sind in der Regel bereits besonders schlank oder besonders muskulös. Im Feld idealer Maße gibt es aber immer noch diesen oder jenen Mangel, diese oder jene Steigerungsfähigkeit, so dass gerade die relative Nähe zur Perfektion ein unglückliches Bewusstsein von Mängeln verstärken kann und ein Vergleichszwang mit (vermeintlich) noch Perfekteren jeden positiven Transfer zwischen Aussehen und Selbstgefühl verhindert.
5. Statt Mittel zum Zweck erhöhten Begehrtwerdens zu sein, neigt die obsessive Arbeit am eigenen Aussehen dazu, sich in sich selbst festzubeißen. Spiegelzwang und überkritische Selbstbeobachtung erweisen sich dann als eine selbstzerstörerische Falle: Das mit Schönheitssteigerung verbundene Ziel sozialen und beruflichen Erfolgs' wird immer weiter aufgeschoben und kann sogar völlig zugunsten des zwanghaft gewordenen Wegs dorthin aufgerieben werden.
6. Etliche Studien diagnostizieren eine negative Korrelation zwischen dem Wissen und der Sorge um die eigene Schönheit und gelebter Sexualität. Je schöner ein Individuum ist und je mehr es sich um diese Schönheit sorgt, desto größer ist die Gefahr, dass die Vorteile des guten Aussehens durch neurotisierende Effekte auf das sexuelle Verhalten erkauft werden.
7. Mehrere Experimente haben ergeben, dass es keine statistisch signifikante Korrelation von physischer Attraktivität und Selbstachtung gibt. Ebenso wenig verhilft gutes Aussehen zu erhöhten Werten für allgemeines Wohlbefinden, Zufriedenheit und subjektives Glücklichsein mit dem eigenen Leben. Höhere physische Attraktivität ist demnach generell von der bereits genannten doppelten Attributionskrise bedroht. Persönliche Eroberungen und berufliche Erfolge werden latent nur dem Aussehen zugeschrieben, so dass das Konto des Ichs immer gleich arm und gleich leer bleibt.
8. Die Verwandlung des eigenen Körpers in einen Gegenstand aufwendiger und ständig kontrollierter Bearbeitung wird im heutigen Feld hypertropher Körperideale leicht eine Quelle wachsender Unzufriedenheit. Jeder Erfolg der Schönheitsarbeit wird schnell durch die Kehrseite der verfeinerten Expertise entwertet: durch die negative Erkenntnis dessen, woran es immer noch mangelt. Hinzu kommt eine gesteigerte Abhängigkeit vom Kontrollblick in den Spiegel und damit die unablässige Sorge, ob und wie weit das angestrebte Bild auch hier und heute erreicht wird. Wie statistische Erhebungen über inzwischen vier Jahrzehnte ergeben haben, ist die strukturelle Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen praktisch linear mit den Ausgaben für Schönheitsvermehrung angewachsen.
1 Der vorliegende
Text fasst einige Argumentationslinien zusammen, die ich
ausführlich in meinem Buch Das Versprechen der Schönheit
(Frankfurt/M. 2003) entwickelt habe. Für nähere Details
und Nachweise der Zitate sowie der herangezogenen Forschung
verweise ich auf dieses Buch.