Als am 22. November 2005 die zweite Große Koalition auf Bundesebene vereidigt wurde, begleitete die öffentliche Meinung dies vor allem wohlwollend und ein wenig euphorisiert. Das lag nicht allein an den hohen Erwartungen, die an die neue Regierung mit ihrer überbordenden parlamentarischen Mehrheit geknüpft wurden, sondern auch an der Tatsache, dass mit ihr zum ersten Mal in den Geschichte der Bundesrepublik eine Frau und eine aus Ostdeutschland stammende Person zur Regierungschefin gewählt wurde. Bei der ersten Großen Koalition, welche Union und SPD im Bund zwischen 1966 und 1969 eingingen, war dies noch völlig anders: Ralf Dahrendorf sah beispielsweise das "Ende des parlamentarischen Regierungssystems" gekommen, und bereits 1949 hatte Konrad Adenauer nach der Wahl seine Ablehnung einer Großen Koalition mit der Notwendigkeit einer starken parlamentarischen Opposition sowie der Sorge um eine mögliche Entstehung einer nationalistischen, außerparlamentarischen Opposition begründet. 1
Doch welche Auswirkungen auf das Parteiensystem sind von einer Großen Koalition tatsächlich zu erwarten? Und was ist eigentlich unter einer Großen Koalition zu verstehen?
Seit der Regierungskoalition von 1966 auf Bundesebene werden unter Großen Koalitionen Regierungszusammenschlüsse aus den Unionsparteien und der SPD verstanden, die bis dahin noch als "Allparteienregierungen" fungierten. 2 Nach der Typologie der spieltheoretisch orientierten Koalitionstheorie werden als "Allparteienregierungen" diejenigen Regierungen bezeichnet, die über weit mehr als 50 % der Parlamentssitze verfügen ("surplus coalitions"). Gleichzeitig erfüllen Große Koalitionen die Erfordernisse von "minimal winning coalitions": Sie bilden Regierungen, die ihre Macht verlieren, wenn einer der beiden Koalitionspartner die Regierung verlässt. Das Kriterium, das den Zusammenschluss aus CDU/CSU und SPD zu einer Großen Koalition werden lässt, ist die Tatsache, dass es sich bei Christ- und Sozialdemokraten traditionell um die stärksten Parteien in den bundesdeutschen Parteiensystemen auf Bundes- und Landesebene handelt. Allerdings sind Parteiensysteme keine statischen Gebilde, sondern bilden gesellschaftliche Konfliktlinien ab, die sich im Zeitverlauf verändern können. So entstehen neue Parteien oder die vorhandenen tarieren sich in ihren Größenverhältnissen zueinander neu aus. Nach der Veränderung des bundesdeutschen Parteiensystems im Zuge der Wiedervereinigung stellt sich also die Frage, ob die aktuellen Regierungskoalitionen in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt als Große Koalitionen im oben genannten Sinne bezeichnet werden können. In allen drei Ländern bilden CDU und SPD die Regierung, in Sachsen und Sachsen-Anhalt angeführt von einem Ministerpräsidenten der CDU, in Brandenburg von einem der SPD. Jedoch hieß nach den Wahlen in allen drei Ländern die zweitstärkste Partei nicht SPD oder CDU, sondern PDS (bzw. Die Linke). Uwe Jun schlägt deswegen die Einordnung einer Koalition als "groß" vor, wenn keine der beteiligten Parteien zur Erreichung der Mehrheit entbehrlich ist und wenn die Koalition "die absolute Mehrheit der Mandate deutlich übertrifft", also über mindestens 70 % der Sitze im Parlament verfügt. 3 Streng genommen sind damit weder die eben genannten Koalitionen in Sachsen und Brandenburg noch die aktuelle Koalition in Sachsen-Anhalt als Große Koalitionen zu bezeichnen. In Sachsen verfügen die Regierungsparteien über gerade etwa 55 % der Landtagssitze, in Brandenburg über etwa 60 % und in Sachsen-Anhalt über immerhin 66 %. Bis auf den Sonderfall Sachsen verfügen diese Regierungen aber immer noch über weit mehr Parlamentsmandate, als für eine Mehrheit notwendig wären und können damit alle Parlamentsentscheidungen klar dominieren. Aus diesem Grund bezieht sich im Folgenden das Attribut "groß" auf die weit reichende parlamentarische Mehrheit Großer Koalitionen und nicht auf die elektorale Stärke der Regierungsparteien.
Meist wird in Untersuchungen über das Phänomen von Regierungen aus SPD und CDU/CSU auf die einzige Große Koalition auf Bundesebene vor 2005 verwiesen, die von 1966 bis 1969 vom CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger geführte Regierung. Doch auch in den bundesdeutschen Ländern gab es bis heute eine Vielzahl an christ- und sozialdemokratischer Zusammenarbeit: Von bis heute insgesamt 252 demokratisch legitimierten Regierungen auf Bundes- und Landesebene waren und sind 52 - und damit ein Fünftel - Große Koalitionen. Dabei veränderten die Wiedervereinigung 1990 und das Hinzukommen von fünf neuen regionalen Parteiensystemen nichts an deren Verteilung: Sowohl nach 1990 in der Bundesrepublik als auch davor in Westdeutschland und West-Berlin waren ein Fünftel aller Regierungen Große Koalitionen. 53 % von den altbundsrepublikanischen fanden allein in der Zeit zwischen 1946 und 1950 statt, nach 1970 bis zur Wiedervereinigung gab es dagegen keine einzige CDU-SPD-Regierung mehr. 4 In der alten Bundesrepublik waren Große Koalitionen also vor allem typisch für die direkte Nachkriegszeit, in den Phasen der konsolidierten Demokratie mit ihrem Zweieinhalbparteiensystem in den 1960er und 1970er Jahren sowie in der Pluralisierungsphase der 1980er Jahre waren hingegen Koalitionen aus einer großen und einer kleinen Partei die übliche Regierungsform. Dieser Befund entspricht auch der Einschätzung von Wichard Woyke, demnach Große Koalitionen "eigentlich nur in Krisenzeiten" gebildet würden, da sie dem Sinn des parlamentarischen Systems - einer Mehrheitsregierung bei gleichzeitiger, starker Opposition - widersprechen. 5
Aus diesem Grund gelten Große Koalitionen sowohl bei den potenziell beteiligten Parteien als auch in der öffentlichen Meinung als "ultima ratio" bundesdeutscher Regierungsbildung, gleichzeitig erhofft man sich vom Zusammengehen der beiden Großparteien jedoch die Erledigung lange aufgeschobener Strukturreformen. 6 Insgesamt sind Große Koalitionen also eher als Ausnahme-Regierungen auf den verschiedenen bundesdeutschen Ebenen zu betrachten. Jedoch ist ihr zahlenmäßiger Abstand zur bislang am häufigsten gebildeten Regierungskonstellation - Koalitionen unter Führung der SPD mit jeweils einem kleinen Partner (FDP oder Bündnis 90/Die Grünen) - nicht allzu groß: Er beträgt lediglich 52 zu 65 Fälle. 7
Über die Auswirkungen Großer Koalitionen wurden bislang vielfältige Erwartungen geäußert, die sich vor allem auf den einen Fall einer Großen Koalition auf Bundesebene in den 1960er Jahren stützen. Die schwerwiegendsten davon betreffen mögliche Folgen für die parlamentarische Demokratie an sich, künden also vom Aussetzen der Dualität zwischen Regierung und Opposition und der Unmöglichkeit eines Regierungswechsels, da einer der beiden Koalitionspartner in jedem Fall Teil der darauf folgenden Regierung sein wird. Als weiteres werden der Output Großer Koalitionen als gering bewertet und Regierungen dieser Art mit der Erwartung struktureller Entscheidungsunfähigkeit und parteipolitischer Blockade verbunden. 8 Aber auch bezogen auf die Entwicklung des Parteiensystems lassen sich theoretisch mögliche Folgen Großer Koalitionen plausibel begründen: Ausgehend von dessen Angebotsstruktur, also den Entwicklungen, die durch die Entscheidungen der Parteien selbst initiiert werden, erläuterte Eckardt Barthel bereits 1971, dass der Zwang zum Kompromiss innerhalb einer Großen Koalition bewirke, dass sich die beiden beteiligten Parteien in der Mitte ihrer Positionen treffen müssten und sich somit im Verlauf der gemeinsamen Regierungszeit stark angleichen würden. 9 Auf der Nachfrageseite, also bezogen auf die Orientierungen und das Verhalten der Wahlbevölkerung, habe die verstärkte Mitteorientierung der beiden Großparteien eine Abwanderung ihrer jeweiligen Anhänger an den rechten und linken Rändern zur Folge, wodurch es bei einer Großen Koalition gerade nicht zu einer Integration breiterer Wählerschichten durch die Regierungsparteien komme, sondern sich stattdessen eine verstärkte Polarisierung der Anhängerschaft ergebe. Die so entstehende Unzufriedenheit mit den regierenden Parteien dürfte zum einen zu einer vermehrten Wahlenthaltung führen, da die beiden Großparteien keine Auswahl zwischen zwei alternativen Angeboten erlauben, zum anderen ließe sich dadurch die Stärkung der jeweiligen Ränder des Parteiensystems erwarten. Das daraus folgende Anwachsen von Kleinst- und Kleinparteien würde also zu einer Pluralisierung des Parteiensystems führen. Damit einher ginge eine Abschwächung der beiden Koalitionsparteien, die somit immer weniger Zustimmung bei Wahlen erreichen könnten. Nach diesen Ausführungen müssen die Auswirkungen einer Großen Koalition auf das Parteiensystem als schwerwiegend betrachtet werden und sie lassen ein Repräsentationsdefizit und einen Stabilitätsverlust für das Parteiensystem wahrscheinlich erscheinen.
Nun gilt es jedoch, empirisch nach möglichen Belegen für die genannten Vermutungen zu den Auswirkungen Großer Koalitionen zu suchen. Als Datengrundlage sollen hierfür alle 16 Großen Koalitionen im Bund und in den Ländern seit 1990 dienen, von denen jedoch sechs noch nicht beendet sind - darunter auch die derzeitige Bundesregierung. Dementsprechend konnten diese Sechs noch keine Nachfolgeeffekte bei darauf folgenden Wahlen aufzeigen. So verbleiben letztlich für die hier zu untersuchende Auswahl zehn Fälle Großer Koalitionen seit 1990.
Schaut man sich die Entwicklung der Wahlbeteiligung in den Bundesländern an, die seit 1990 mindestens einmal von einer Großen Koalition regiert wurden, dann zeigt sich ein im Großen und Ganzen recht einhelliges Bild: Die Wahlbeteiligung sinkt in allen Ländern im Zeitverlauf, unterbrochen nur in einzelnen Fällen von leichten, jeweils gut erklärbaren Anstiegen der Partizipation. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet das Land Mecklenburg-Vorpommern, wo die Wahlbeteiligung bis 1998 kontinuierlich von einem relativ niedrigen Niveau 1990 (64,7 %) 10 aus steigt, seit 2002 jedoch abrupt sinkt, zunächst um 8,8 % und 2006 nochmals um 11,4 %. Insgesamt fügen sich die Ergebnisse jedoch in den seit einiger Zeit in der Wahlsoziologie analysierten Trend einer vermehrten Wahlenthaltung auf Bundes- und Landesebene ein. 11 Doch wie steht es nun mit dem Anteil der Wahlenthaltungen im direkten Anschluss an Große Koalitionen in den Ländern? In den zehn untersuchten Fällen ergibt sich ein eher wechselhaftes Bild: Abbildung 1: Veränderungen der Wahlenthaltung nach großen Koalitionen Quelle: Eigene Darstellung.
Nach sechs von zehn Großen Koalitionen steigen die Nichtwähleranteile - am heftigsten am Ende der Großen Koalition in Thüringen 1999 -, in vier Fällen verringern sie sich. In Berlin, Brandenburg und Bremen finden die einzigen Fälle von erhöhter Wahlbeteiligung sogar nach Großen Koalitionen statt, wobei zumindest für Berlin und Bremen gilt, dass diese Bundesländer seit 1990 die meiste Zeit von einer solchen Parteienkonstellation regiert wurden und es somit kaum andere Gelegenheiten zur Erhöhung der Wahlbeteiligung gegeben hat.
Gibt es also einen Effekt Großer Koalitionen auf die Wahlteilnahme? Die vier "abweichenden" Fälle, in denen nach einer Großen Koalition die Wahlenthaltung abgenommen hat, sind bis auf eine Ausnahme leicht zu erklären: Die mit Abstand niedrigste Wahlenthaltung nach einer Großen Koalition dürfte an der Gleichzeitigkeit des Landtagswahltermins in Mecklenburg-Vorpommern mit dem der Bundestagswahl 1998 liegen. Neben der stärkeren Mobilisierungskraft von Bundestagswahlen gegenüber Landtagswahlen im Allgemeinen sorgte die Wahl von 1998, bei der die CDU-FDP-Regierung nach 16 Jahren von der ersten rot-grünen Regierung auf Bundesebene abgelöst wurde und in deren Vorfeld eine dominante Wechselstimmung in der Wahlbevölkerung herrschte, in ganz Deutschland für eine erhöhte Wahlteilnahme um 3,2 %. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2001 in Berlin handelte es sich dagegen um eine vorgezogene Landtagswahl, die genau genommen nicht das Ende einer Großen Koalition markierte. Diese stürzte nämlich bereits im Juni 2001 aufgrund des Berliner Bankenskandals, in dessen Folge die SPD bis zur Wahl am 21. Oktober einen Minderheitensenat mit Bündnis 90/Die Grünen bildete. Insgesamt dürften die Ereignisse des Jahres 2001 die Berlinerinnen und Berliner also verstärkt an die Wahlurne gezogen haben. Der Anstieg um 1,2 % der Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl in Bremen 2003 nach der zweiten Legislatur der Großen Koalition dürfte eher zufälligen Faktoren geschuldet sein, und zuletzt fand die Wahl in Brandenburg 2004, bei der ebenfalls die Wahlenthaltung gesenkt werden konnte, ähnlich wie die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern 1998 unter dem starken Eindruck bundespolitischer Einflüsse statt. Dabei handelte es sich um die erste Stimmabgabe in der Region nach den Sozialstaatsreformen der rot-grünen Bundesregierung, die auf dem Höhepunkt der nationalen Protestwelle einer Abstimmung über die so genannte "Hartz IV"-Regelung glich, was viele ehemalige Nichtwählerinnen und Nichtwähler zur Stimmabgabe veranlasst haben dürfte.
Ob die sechs restlichen Fälle, die nach Großen Koalitionen bei der darauf folgenden Wahl erhöhte Wahlenthaltungen anzeigen, für eine generelle Kausalität zwischen CDU-SPD-Bündnissen und Wahlenthaltungen sprechen, lässt sich stark bezweifeln. Schließlich sank beispielsweise in Berlin die Wahlbeteiligung nach der ersten rot-roten Koalition aus SPD und PDS im September 2006 ebenfalls um 10 % und in Baden-Württemberg und Brandenburg sank die Wahlbeteiligung fast kontinuierlich bei allen Wahlen, ganz egal, welche Parteien zuvor die Landesregierung stellten. Auch wenn man sich das Niveau der Nichtwählervermehrung anschaut, stechen zwar die Veränderungen nach Großen Koalitionen in ihrer Stärke vor allem in Berlin, Bremen und Thüringen deutlich hervor, doch Berlin und Bremen wurden, wie bereits erwähnt, über fast die gesamten 1990er Jahre hindurch von Großen Koalitionen regiert, so dass der starke Anstieg nach einer der CDU-SPD-Regierungen keine Aussagen über den Zusammenhang zwischen Großen Koalitionen und Wahlenthaltungen erlauben. Lediglich in Thüringen ist ein deutlich höheres Niveau des Wahlenthaltungsanstiegs nach der Großen Koalition von 1994 bis 1999 zu verzeichnen gegenüber der CDU-FDP-Regierung 1994 (-3,1 %) sowie der ersten CDU-Alleinregierung 2004 (+6,0 %).
Ob es sich in Folge von Großen Koalitionen zeigen lässt, dass die Wählenden systematisch die beiden Regierungsparteien abstrafen und dafür Parteien an den Rändern des Parteiensystems sowie Kleinstparteien stärken, soll nun am Beispiel der zehn abgeschlossenen Großen Koalitionen seit 1990 untersucht werden.
Verluste sowohl bei CDU und SPD nach gemeinsamer Regierungstätigkeit und damit eine Schwächung der Volksparteien ergaben sich in vier der zehn Fälle, nämlich in Berlin nach der ersten Großen Koalition 1995, in Brandenburg 2004 und nach den beiden letzten Großen Koalitionen in Bremen 2003 und 2007. Dort hatten SPD und CDU nach ihrer ersten gemeinsamen Legislatur von 1995 bis 1999 an Wählerzuspruch sogar noch zulegen können, verspielten danach jedoch sukzessive ihren Kredit. In allen anderen fünf Fällen von Regierungskooperation zwischen CDU und SPD musste jeweils einer der beiden Partner bei der darauf folgenden Wahl Verluste hinnehmen, und zwar bis auf eine Ausnahme immer in einem solchen Ausmaß, dass diese von der anderen Regierungspartei durch eigene Gewinne nicht aufgefangen werden konnten. Lediglich in der zweiten Großen Koalition in Berlin von 1995 bis 1999 gewann die CDU mehr Stimmen hinzu (3,4 %), als die SPD an Stimmen verlor (-1,2 %). Den spektakulärsten Niedergang nach einer Großen Koalition erlebte die Berliner CDU 2001, als sie aufgrund des Berliner Bankenskandals 17 % bei der Abgeordnetenhauswahl einbüßte (SPD +7,3 %) sowie die Thüringer SPD 1999, als sie nach ihrer Beteiligung am Regierungsbündnis mit der CDU 11,1 % verlor und die CDU durch ihren Gewinn von 8,4 % der Stimmen fortan eine Alleinregierung bilden konnte. Nach den fünf Großen Koalitionen, die in eine Alleinregierung oder in ein Bündnis aus einer großen und einer kleinen Partei geführt haben, ging übrigens die SPD in drei Fällen als künftige Regierungspartei hervor, 12 die CDU außer in Thüringen 1999 nur noch in Baden-Württemberg in einer Koalition mit der FDP.
Bei der Frage, ob nach Großen Koalitionen die jeweiligen Parteien am linken und rechten Rand des Parteienspektrums von der vermeintlichen Schwäche der beiden Regierungsparteien profitieren können, ergibt sich folgendes Bild: Nach acht der zehn untersuchten Regierungsbündnisse aus CDU und SPD erfuhr der linke Rand des Parteiensystems, als den hier die im Bundestag und in verschiedenen Landtagen vertretene PDS bzw. Linkspartei betrachtet werden soll, zum Teil starken Zuwachs. In einem Bundesland, nämlich in Baden-Württemberg, trat die PDS weder zu Beginn noch am Ende der Großen Koalition zur Wahl an. Bleibt also lediglich ein Fall, in dem die PDS nicht von der Großen Koalition profitieren konnte: 2003 in Bremen verlor sie nach der zweiten SPD-CDU-Legislatur 1,2 % der Stimmen.
Nicht ganz so erfolgreich, insgesamt aber auch mit positiver Bilanz gestalten sich dagegen die Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Stimmenentwicklung der Parteien am rechten Rand: 13 Nach sechs der zehn hier betrachteten Großen Koalitionen konnten diese Parteien in der Summe meist eher geringe Stimmengewinne verzeichnen, die höchsten davon 1998 in Mecklenburg-Vorpommern und in Bremen 2003 mit jeweils 3,4 %. Verluste mussten die rechten Parteien dagegen in Bremen 2007, in Berlin 2001 und 1995 sowie in Baden-Württemberg 1996 hinnehmen, wobei in Bremen die Verluste vor allem auf das Konto der Schill-Partei gehen, die 2007 nicht mehr zur Landtagswahl antrat, und sich in Baden-Württemberg die Verluste am rechten Rand auf einem sehr hohen Stimmenniveau ereigneten: Dort sanken die Republikaner von 10,9 % (Wahl 1992) auf 9,1 % (1996) und blieben damit auch nach der Großen Koalition eine starke Oppositionspartei im Südwest-Landtag.
Doch gerade bei rechtsradikalen Parteien deuten nicht allein deren Gewinne und Verluste auf Auswirkungen Großer Koalitionen hin, sondern auch die Frage, ob sich die Wahrscheinlichkeit durch eine Regierungslegislatur von CDU und SPD erhöht, dass sie Landtagsmandate erringen. Jedoch zogen in keinem der betrachteten Fälle rechtsextreme Parteien erst nach einer Großen Koalition in den Landtag ein, in Baden-Württemberg übersprangen die Republikaner bereits 1992, in Brandenburg die DVU bereits 1999 die Fünf-Prozent-Hürde - und damit jeweils vor Beginn der Großen Koalition. Auch in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD bei den Landtagswahlen 2004 bzw. 2006 jeweils zum ersten Mal in den Landtag einzog, gingen diesen Erfolgen andere Regierungskonstellationen voraus: in Sachsen eine CDU-Alleinregierung und in Mecklenburg-Vorpommern eine rot-rote Koalition aus SPD und PDS/Linkspartei.
Als weiterer Indikator für eine Ausdifferenzierung des Parteiensystems gilt das Anwachsen der Kleinst- und Kleinparteien, sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer elektoralen Stärke. Was die Anzahl der an Wahlen teilnehmenden Parteien betrifft, so steigt diese nach fünf der zehn betrachteten Großen Koalitionen seit 1990, nämlich in Baden-Württemberg von 15 auf 18 Parteien, in Berlin zwischen 1990 und 1995 von zehn auf 19 Parteien, in Brandenburg von neun auf 15 Parteien, in Bremen zwischen 1999 und 2003 von neun auf 14 Parteien und in Thüringen von elf auf 13 Parteien. In vier der restlichen Fälle nimmt das elektorale Parteiensystemformat sogar ab, und in Mecklenburg-Vorpommern treten sowohl vor als auch nach der Großen Koalition jeweils 13 Parteien zu den Landtagswahlen 1994 und 1998 an. Bei der Hälfte aller Fälle ist also eine Ausweitung des Parteiensystems, wie es sich den Wählenden in der Abstimmungskabine darstellte, festzustellen. Doch machten die Wählenden auch jeweils von dem erweiterten Parteienangebot Gebrauch und stärkten in Folge Großer Koalitionen die Kleinstparteien? 14 Hier zeigt sich ein genau geteiltes Bild: In der Hälfte der betrachteten Fälle konnten die üblicherweise unter "Sonstige" zusammengefassten Parteien ihre Stimmenanteile ausbauen (Berlin 1995, Brandenburg 2004, Bremen 2003, Mecklenburg-Vorpommern 1998 und Thüringen 1999), nach fünf der untersuchten Großen Koalitionen mussten diese Parteien in der Summe Einbußen hinnehmen. Auch scheinen diese Ergebnisse nichts mit der jeweiligen Anzahl der bei der Wahl angetretenen Parteien zu tun zu haben; jedenfalls lässt sich kein Zusammenhang der beiden Faktoren feststellen. Eine vorsichtige Kausalität ließe sich höchstens in Bezug auf die Wahlergebnisse der beiden Koalitionsparteien CDU und SPD herstellen, immerhin wachsen die Stimmenanteile der Kleinstparteien in drei der Fälle zum Teil erheblich, in denen beide Regierungsparteien jeweils Stimmen verloren. 15
Auch die Veränderungen bei den für die Analyse verbleibenden Kleinparteien (FDP und Bündnis 90/Die Grünen) lassen nicht auf Auswirkungen der Großen Koalitionen schließen: Fünf Mal konnten jeweils Liberale wie Bündnisgrüne nach Großen Koalitionen wachsen, davon vier Mal bei denselben Wahlen. Ebenfalls in fünf Fällen wiesen die beiden Parteien auch zusammen eine positive Stimmenbilanz auf. Nach vier der zehn betrachteten Großen Koalitionen verliefen die Stimmenveränderungen bei FDP und Grünen genau spiegelbildlich zu den Wahlbilanzen der beiden Regierungsparteien: 2004 gewannen die kleinen Parteien in Brandenburg zusammen 3,1 %, während CDU und SPD gemeinsam 14,5 % verloren, 2003 und 2007 gewannen FDP und Grüne 5,6 % bzw. 5,3 %, während CDU und SPD 7,6 % und 9,6 % verloren und 1999 verlief die Bilanz in Bremen genau umgekehrt: FDP und Grüne verloren zusammen 5,1 %, während CDU und SPD 13,7 % der Wählerstimmen hinzu gewannen.
Neben diesen Einzelanalysen über die Veränderungen in den Parteiensystemen nach Großen Koalitionen lässt sich eine verstärkte Pluralität am einfachsten über die aggregierte Parteiensystemeigenschaft der Fragmentierung nach Laakso und Taagepera darstellen, bei der mit Hilfe einer statistischen Analyse die Anzahl und die Stärke der Parteien - gemessen an ihren jeweiligen Stimmenanteilen - in Relation zueinander gebracht werden. 16 Danach ist der Fragmentierungsindex nach sieben CDU-SPD-Regierungen angestiegen - das jeweilige Parteiensystem hat sich also ausdifferenziert - in drei Fällen (Berlin 1999, Bremen 1999 und Thüringen 1999) sank die Fragmentierung, das jeweilige Parteiensystem unterlag - bezogen auf die Größenrelationen zwischen allen Parteien - also einer Konzentration.
Wie sieht es nun mit den wahrscheinlichen Auswirkungen der Großen Koalition auf Bundesebene auf das bundesdeutsche Parteiensystem aus?
Was wir bei allen Landtagswahlen 2006 und 2007 bereits erleben konnten, ist eine jeweils auffällig hohe Nichtwählerquote. Die ersten drei Landtagswahlen im März 2006 nach der Bildung der CDU/CSU-SPD-Bundesregierung führten sogleich zu einigen Negativrekorden: Sowohl in Baden-Württemberg (46,6 % Nichtwählende) als auch in Sachsen-Anhalt (55,6 %) und Rheinland-Pfalz (41,8 %) gab es bei keiner Landtagswahl zuvor so hohe Nichtwähleranteile wie 2006. In Sachsen-Anhalt wurde sogar die niedrigste Wahlbeteiligung auf Länderebene seit Bestehen der Bundesrepublik gemessen, in Baden-Württemberg der niedrigste Wert für ein westdeutsches Bundesland. Auch in Berlin (42 % Nichtwählende) und Mecklenburg-Vorpommern (40,9 %) lag die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im Herbst 2006 deutlich unter den vorherigen Werten, genauso wie in Bremen im Mai 2007 (42,4 %). Plausibel ist ein Zusammenhang mit der Großen Koalition auf Bundesebene durchaus, da ein starker Mobilisierungsgrund für Landtagswahlen - die machthabende Partei auf Bundesebene abzustrafen und stattdessen in den Ländern die Bundesopposition zu stärken - nicht zur Verfügung stand. So ging es bei den Landtagswahlen eher um Landespolitik denn um bundespolitische Kontroversen, was erfahrungsgemäß weniger Menschen interessiert und zur Stimmabgabe mobilisiert. Nach den Analysen der beendeten Großen Koalitionen in den 1990er Jahren kann keine eindeutige Vorhersage für die Entwicklung der Wahlbeteiligung nach der Großen Koalition getroffen werden: Bei einigen Fällen konnte zwar ein Grund für den Anstieg der Wahlenthaltung in einer vorangegangenen Großen Koalition vermutet werden, jedoch entsprechen die Entwicklungen auch einem längerfristigen Trend. So ist es in jedem Fall wahrscheinlich, dass auch auf Bundesebene die Wahlbeteiligung weiter sinken wird.
Blickt man dagegen auf die untersuchten Pluralisierungsindikatoren von Parteiensystemen, kann nur bei der Frage nach der Stärkung der politischen Ränder ein deutlicher Zusammenhang zwischen Großen Koalitionen und dem Erfolg der Linkspartei/PDS festgestellt werden. Lediglich in einem der zehn untersuchten Fälle konnte die PDS nicht von der vorherigen Großen Koalition profitieren. Auch nach der vergangenen Bundestagswahl zeigt sich weiterhin dieser Trend: Bei der Abwahl der Großen Koalition in Bremen im Mai 2007 gelang es der Linkspartei, zum ersten Mal in ein westdeutsches Parlament einzuziehen und 8,4 % (+6,7 %) der abgegebenen Stimmen für sich zu gewinnen. Am rechten Rand gab es dagegen nur in drei Fällen nennenswerte Zuwächse nach Großen Koalitionen und bei den sechs Landtagswahlen seit Herbst 2005 konnte die NPD lediglich in Mecklenburg-Vorpommern einen Erfolg (7,3 %) verzeichnen, allerdings im Anschluss an eine rot-rote Landesregierung, nicht an eine Große Koalition. Auch die Ergebnisse der Untersuchungen zur Entwicklung der beiden Volksparteien und der Klein- und Kleinstparteien bestätigen die These von der zwingenden Ausdifferenzierung des Parteiensystems nach einer Großen Koalition nicht. Meist lassen sich lediglich in Einzelfällen klare Zusammenhänge finden. Lediglich auf einer statistischen Aggregatebene bestätigt sich der Zusammenhang zwischen Großen Koalitionen und einer darauf folgenden Pluralisierung des Parteiensystems: Die Fragmentierung steigt nach sieben der zehn untersuchten CDU-SPD-Regierungen.
Nach dem Blick auf die Großen Koalitionen seit 1990 kann zusammenfassend also Entwarnung gegeben werden: Die Auswirkungen von Großen Koalitionen auf das jeweilige Parteiensystem lassen sich nur in den wenigsten Fällen als schwerwiegend bezeichnen, und gar ein Stabilitätsverlust des Systems, wie zu Beginn vermutet, konnte nicht festgestellt werden. Jedoch können aktuelle Tendenzen hin zu einer Pluralisierung des Parteiensystems und einer fortschreitenden Repräsentationskrise der Volksparteien ebenso wenig geleugnet werden. Dass deren Ursache allerdings in der Großen Koalition auf Bundesebene zu finden wäre, ist nahezu ausgeschlossen. Vielmehr traten all diese Entwicklungen bereits vor der Bildung der Regierung aus Union und SPD auf und entpuppen sich sogar als Anlass für deren Zusammenarbeit.
Allerdings ist es durchaus wahrscheinlich, dass die angesprochenen Tendenzen von der Großen Koalition im Bund noch verstärkt werden. Denn die vorgenommene Untersuchung geht von der Prämisse einer generellen Vergleichbarkeit von Landes- und Bundesparteiensystemen und damit von der Autonomie der jeweiligen Systemebene aus. Dass es zwischen den beiden Ebenen jedoch starke Interdependenzen gibt - vor allem durch Einflüsse der Bundesebene auf die Entwicklung der Landesparteiensysteme - wurde in der Wahlforschung unter dem Stichwort "Landtagswahlen als bundespolitische Zwischenwahlen" hinreichend bewiesen. 17 Aus diesem Grund ist zu erwarten, dass die Verstärkereffekte einer Großen Koalition auf Bundesebene weitreichender sein werden als die Auswirkungen Großer Koalitionen auf das jeweilige Parteiensystem auf Landesebene.
1 Vgl. Klaus
Hildebrand, Die erste Große Koalition 1966 bis 1969.
Gefährdung oder Bewährung der parlamentarischen
Demokratie in der Bundesrepublik?, in: Zeitschrift für
Parlamentsfragen, 37 (2006) 3, S. 611 - 625.
2 Lothar Probst, Große Koalitionen
als Sanierungsmodell? Erfahrungen aus Bremen, in: Zeitschrift
für Parlamentsfragen, 37 (2006) 3, S. 626 - 640.
3 Uwe Jun, Koalitionsbildung in den
deutschen Bundesländern. Theoretische Betrachtungen,
Dokumentation und Analyse, Opladen 1994.
4 Vgl. Richard Stöss,
Regierungswechsel und Strukturwandel des Parteiensystems in der
Bundesrepublik Deutschland, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann
(Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel.
Leviathan Sonderheft 12, Opladen 1991.
5 Wichard Woyke, Koalition, in: Uwe
Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen
Systems, Opladen 2003.
6 Uwe Jun, Parteiensystem und
Koalitionskonstellationen nach der Bundestagswahl 2005, in: Frank
Brettschneider/Oskar Niedermayer/Bernhard Weßels (Hrsg.), Die
Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der
Wahlergebnisse. Wiesbaden 2007.
7 Vgl. R. Stöss (Anm. 4).
8 Vgl. Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser,
Die vergessene Regierung. Die große Koalition 1966 bis 1969
und ihre langfristigen Wirkungen, Bonn 1991.
9 Vgl. Eckardt Barthel, Hat die
Große Koalition in der BRD zu einer Korrosion des
Parlamentarismus geführt? Diplomarbeit der Freien
Universität, Berlin 1971. Vgl. dazu auch U. Jun (Anm.
6).
10 Alle Daten und Wahlergebnisse
stammen von den jeweiligen statistischen Landesämtern und den
Wahlreporten von Infratest dimap.
11 Jüngste Studien hierzu von
Michael Eilfort, Wahlenthaltung: Ein vielschichtiges Phänomen
mit wachsender Politischer Bedeutung, in: Beate Hoecker (Hrsg.),
Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest, Opladen
2006 sowie Oscar W. Gabriel/Kerstin Völkl, Auf der Suche nach
dem Nichtwähler neuen Typs. Eine Analyse aus Anlass der
Bundestagswahl 2002, in: Frank Brettschneider/Jan van
Deth/Edeltraud Roller (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden
2004.
12 In Berlin seit 2001 in einer
Koalition mit der PDS bzw. der Linkspartei, in Bremen 2007 mit
Bündnis 90/Die Grünen und in Mecklenburg-Vorpommern ab
1998 in einer Koalition mit der PDS bis 2006, seitdem führt
sie dort wieder eine Große Koalition an. Dabei wandelte sich
die SPD in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern jeweils vom
Juniorpartner in der Großen Koalition zur Regierungspartei,
die den Ministerpräsidenten bzw. den Regierenden
Bürgermeister stellt.
13 Zu ihnen werden all diejenigen bei
Wahlen angetretenen rechtsradikalen Parteien gezählt, die es
bislang mindestens in einem Bundesland zu einer Vertretung im
Landtag geschafft haben, also Republikaner, DVU, NPD und
Schill-Partei.
14 Als Kleinstparteien sollen hier all
diejenigen Parteien gelten, die zu der entsprechenden Wahl
angetreten sind, jedoch noch nie bundesweit den Sprung über
die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben, also auch die
Rechtsparteien Republikaner, DVU, NPD und Schill-Partei, die
bereits in einzelnen Landtagen vertreten waren. Würde die
Landtagsvertretung als Kriterium genutzt, würden sich in den
einzelnen Bundesländern jeweils unterschiedliche
Kleinstparteien-Definitionen ergeben.
15 In Berlin 1995 konnten die
Kleinstparteien 5,1 % hinzugewinnen, während CDU und SPD
gemeinsam 9,8 % verloren; in Brandenburg 2004 beträgt das
Verhältnis +6,9 % zu -14,5 % und in Bremen 2003 +3,3 % zu -7,6
%.
16 Vgl. Oskar Niedermayer, Zur
systematischen Analyse der Entwicklung von Parteiensystemen, in:
Oscar W. Gabriel/Jürgen W. Falter (Hrsg.), Wahlen und
politische Einstellungen in westlichen Demokratien, Frankfurt/M.
1996.
17 Vgl. dazu zusammenfassend Frank
Decker, Höhere Volatilität bei Landtagswahlen? Die
Bedeutung bundespolitischer "Zwischenwahlen", in: Eckhard
Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005.
Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, München 2006.