Brücke der Kulturen
Die Ostsee könnte ein Meer des Friedens werden - bislang war sie das nie
Sand und Wind, Strandkörbe, Sozialdemokratie und immer dieses Licht: Die Ostsee ist ein Meer der Sommerfrische. Besonders in Deutschland nimmt man das kleine Meer im Norden viel zu oft nur als Urlaubsidylle wahr. Dabei bildete sie zusammen mit dem Mittelmeer über tausend Jahre die Brücke zwischen West und Ost. Sie war ein Raum des freien Austauschs: von Gütern, Ideen und Überzeugungen. Über das kleine Meer spannte sich ein Netzwerk, das verwandte Hafenstädte zu einem Ganzen verband. Übers Wasser bildete sich gleichsam ein virtueller urbaner Raum.
Weil der Seeweg so viel leichter zu befahren war als die oft miserablen Straßen, lagen sich Reval, das heutige Tallinn, und Lübeck, Stockholm und Riga bis ins 18. Jahrhundert näher als beispielsweise Paris und Berlin; auch kulturell. Erst der Bau der Eisenbahn machte den Landweg ebenbürtig. Die Ostsee-Städte besannen sich auf ihr Hinterland - und büßten dafür ihre Weltläufigkeit ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich wurde die Ostsee zur Verlängerung des Eisernen Vorhangs nach Norden, eine hermetisch dichte Grenze. Damit geriet die Ostseeküste erst recht zur Provinz.
1991 ist diese Grenze der politischen Blöcke gefallen. Seither wächst das kleine Meer wieder zusammen, vor allem wirtschaftlich. Und politisch: Seit dem EU-Beitritt von Estland, Lettland, Litauen und Polen 2004 gehört die ganze Ostsee - mit Ausnahme der Stadt St. Petersburg und der Exklave Kaliningrad - zur Europäischen Union. Die Ränder aller Seiten sollen wieder zu einer Mitte werden. Die Zahl der Fähr- und Flugverbindungen hat sich vervielfacht, man baut Brücken - über den Öresund zwischen Dänemark und Schweden, nun auch über den Fehmarnbelt von Deutschland nach Dänemark - und eine Gas-Pipeline von Russland nach Deutschland. Und der Kulturbetrieb organisiert Begegnungen, Festivals, Austauschprogramme, Schriftsteller-treffen. Nur die Leser und Zuhörer fehlen: Wer in Deutschland kennt den estnischen Großschriftsteller Jaan Kross?
Die Ostsee-Anrainer sind kleine, eigenwillige, skeptische Völker. Etwas scheu, bescheiden, bodenständig, schweigsam, zuweilen bockig und patriotisch, fürchten sie um ihre Souveränität. Das alte Selbstbewusstsein ihrer einst polyglotten Städte kehrt nicht wieder. Sie pochen auf ihre Eigenständigkeit, Einmaligkeit und auf Unterschiede, die ein Außenseiter leicht übersieht.
Dabei ahnt ein Fremder, etwa ein Chinese, wenn er über die im Juni 2000 eingeweihte Öresund-Brücke von Kopenhagen nach Malmö fährt, kaum, dass er eine Grenze überschreitet. Er hört es auch nicht: In Skåne, dem Süden Schwedens, spricht man einen Dialekt, dessen Melodie die Nähe des Dänischen verrät. Bloß ein Däne weiß sich in Malmö in einem anderen Land als in Kopenhagen.
Für unseren Chinesen verändert sich auch mit dem Grenzübertritt von Flensburg nach Dänemark wenig. Oder von Deutschland nach Polen, von Usedom nach Svinemünde, also von Vorpommern in Deutschland nach Westpommern in Polen. Oder zwischen Polen und Litauen. Und wenn er seine Erinnerungsfotos sortiert, dürfte es ihm schwerfallen, die Altstädte von Tallinn, Stockholm, Visby, Riga, Danzig, Stralsund und Greifswald auseinanderzuhalten. Und in allen spiegelt sich Lübeck.
Damit soll nicht behauptet werden, die Kulturen der Ostseevölker seien austauschbar. Das waren sie nie und werden es nicht: Traditionell aß man am Ostufer der Ostsee schwarzes Sauerteigbrot, am Westufer jenes flache Brot, das im Knäckebrot weiter existiert. Und im Süden Hefebrot. Aber solche Unterschiede verfließen, es gibt kaum Brüche. Die Ostsee ist wie ein Farbenkreis: Deutschland ist polnischer als Dänemark, Schweden dänischer als Deutschland, Finnland schwedischer als Dänemark...
So viel kulturelle Nähe ist nicht erstaunlich: Skåne war lange dänisch, Schleswig auch, Litauen polnisch, Vor- und Hinter-Pommern preußisch und zuvor schwedisch. Und die meisten Hafenstädte an der Ostsee sind Gründungen der Hanse.
Diese mittelalterliche Kaufmannsgemeinschaft, die zu einem mächtigen Städtebund heranwuchs - der nie so deutsch war, wie es die deutsche Geschichtsschreibung gerne sähe, sondern auch slawisch und nordisch -, zog als merkantile Großmacht ihr Handelsnetz bis ins russische Nowgorod. Die Hanse suchte den direkten Zugang zu Russlands Ressourcen. Einst waren das Felle, später Weizen - heute sind es Öl und Gas.
Die Ostsee war international und "globalisiert", Jahrhunderte, bevor wir diesen Begriff erfanden. Die Hanse-Mitglieder genossen Handelsfreiheit, die Luft ihrer Städte machte Handwerksgesellen und Spielleute, also Musiker frei. Sie durften sich in allen Hansestädten zur Arbeit niederlassen. Die Hanse war als Bund offen und flexibel, sie folgte dem fast postmodernen Prinzip: so viel Bürokratie wie nötig, so wenig wie möglich. Sie schuf gleichsam eine "(Nord)Europäische Union à la carte": ein Marktplatz übers Wasser, über den auch "Kulturtechniken und Tugendsysteme" ausgetauscht wurden, wie der finnische Historiker Matti Klinge schrieb.
In der Euphorie nach dem Kollaps der Sowjetmacht 1991 spukte die Idee eines nordosteuropäischen Bundes durch die Köpfe, der sich die Hanse zum Vorbild nehmen sollte: eine "Hanse" des 21. Jahrhunderts. Dazu riefen Dänen und Deutsche den Ostseerat ins Leben, ein Gremium, das seit dem Beitritt aller Ostsee-Anrainer - außer Russland - zur EU viel an Bedeutung verloren hat. In Brüssel möchte man den Ostseerat lieber vergessen, weil er Russland zu viel Einfluss zugesteht.
Unser Chinese wiederum könnte, wenn er von einem Ostseeland ins andere reist, allerdings auch zuviel in die Architektur hineinlesen: Der Ostseeraum war bisher nie eine politische Einheit von Dauer. Ihre Anrainer sind eher Nachbarn als Verwandte. Alle Versuche in der Geschichte - zumal der Schweden im Dreißigjährigen Krieg -, alle drei Ufer zu beherrschen, hatten wenig Bestand. Zwar gelang dem Dreikronen-Reich, beide Gegenufer zu erobern, aber das schwedische Ostseereich - das Mare Lutheranum - hielt dem Frieden nicht stand.
In einer freiwilligen, friedlichen Vereinigung von Nationalstaaten, die sich von einer zentralen Hauptstadt regieren lassen, haben die Ostsee-Anrainer sich erst mit dem EU-Beitritt Polens, Litauens, Lettlands und Estlands 2004 gefunden.
Die Gelegenheit zu einer Wiederbelebung der Hanse-Strukturen ist damit verspielt: Es wird im Norden kein Europa der vielen Geschwindigkeiten geben; auch keine Einheit in Vielfalt. Die EU ist mit ihrer ganzen Wucht der großen Lösungen eingefahren und mit viel Geld, mit dem sie kleine lokale Unternehmen stützt. Vielleicht ist das richtig, angesichts des großen Ziels der EU: die Sicherung eines permanenten Friedens in Europa. Dafür bedarf es stabilerer Strukturen, als eine schlanke flexible neue Hanse sie erlauben könnte.
Die Ostsee-Anrainer sind Nachbarn, Freunde müssen sie nicht sein. Was wissen die Schweden über Finnland? Wenig. Was weiß man in Deutschland über Polen, Litauen oder Dänemark? Nachbarn teilen sich eine Nachbarschaft; sie sind sich vertraut, ohne sich zu gut kennen. Als Nachbarn müssen sie sich vertragen, zuweilen miteinander handeln. Das Prinzip der Hanse - so viel Koordination wie nötig, so wenig wie möglich - bot sich für eine solche Nachbarschaft geradezu an. Heute indes sollen diese Nachbarn zusammen haushalten. Als Modell sollten wir die Hanse auch daher vergessen, weil die Ostsee ebenso zu einem Meer der Nato geworden ist.
Der letzte Anrainer, der nicht zur EU gehört, ist Russland. Und obwohl man dies im Westen ungern liest, gehören die russischen Ostseegebiete ebenfalls zum Farbenkreis. Sie hinken dem Westen höchstens hinterher. Auf die Dauer kann eine Nachbarschaft an der Ostsee nur gelingen, wenn ihre Anrainer Russland als Nachbarn akzeptieren. Wenn sie ihren Raum zuweilen mit den Augen unseres Chinesen betrachten - mit ein bisschen Distanz. Nur dann kann sie eine Idylle für die Sommerfrische bleiben, jenes Meer des Friedens, das sie in ihrer Geschichte bisher nie war.
Christoph Neidhart ist Autor des Buchs "Ostsee. Das Meer in unserer Mitte" und seit 1. Juli Japan-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Tokio.