Ein Referat vollkommen neu aufzubauen, quasi neu zu erfinden und mit Leben zu füllen - diese Chance gibt es im Deutschen Bundestag nicht häufig. Sven Vollrath bekam sie Anfang 2006 und ist seither Überstunden gewohnt. Der 37-Jährige ist Referatsleiter des "Verbindungsbüros des Deutschen Bundestags bei der Europäischen Union". "Die Personen sind neu, das Verfahren ist neu, die Dienstleistungen sind neu", sagt Vollrath und freut sich über die Herausforderung. Hier kann er gestalten.
Verbindungen zwischen Brüssel und Berlin gibt es zuhauf und auf vielen Ebenen, sollte man meinen. Wozu also ein weiteres Büro? Doch Vollraths Referat schließt eine Lücke. Die Weichen für die nationale Gesetzgebung werden zunehmend in Brüssel gestellt. "Die Bundestagsabgeordneten waren über viele Prozesse in der EU einfach nicht ausreichend informiert", erinnert sich der promovierte Historiker. Und damit waren sie für ihre Aufgabe, ihre Regierung auch in deren Europapolitik zu kontrollieren, nicht immer gut gerüstet.
Besonders deutlich wurde dies 2005, als die EU-Kommission den Entwurf für eine Europäische Dienstleistungsrichtlinie vorlegte und damit unter den deutschen Parlamentariern einen Sturm der Entrüstung enftfachte. Wären die Abgeordneten besser über die Entscheidungsprozesse in Brüssel aufgeklärt gewesen, hätten sie bereits früher ihre Bedenken geltend machen können. "Aber in der Masse an Dokumenten, die aus Brüssel kommen, ging selbst das Wichtigste manchmal unter", erinnert sich Vollrath. Sein Team sorgt nun dafür, dass dergleichen nicht mehr passiert. Das ist umso wichtiger, als den nationalen Parlamenten mit der neuen EU-Struktur mehr Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden sollen als bisher.
Das Referat PA1 ist eine Art Frühwarnsystem für die deutschen Parlamentarier. "Wir halten Abgeordnete, Ausschüsse und Fraktionen über die wichtigen EU-Themen auf dem Laufenden", sagt Vollrath, "und geben Hinweise, was sie im Auge behalten sollten." Warnen kann jedoch nur, wer die Lage genau beobachtet. Durch rund 800 Vorlagen und 30.000 weitere Dokumente plus Folgepapiere aus Brüssel arbeitet sich das Team des PA1 jährlich. In den ehemaligen Räumen des Umweltministeriums am Schiffbauerdamm treffen die Dokumente elektronisch oder auch waschkörbeweise ein. Hier werden sie sortiert, mit Hilfe einer neuen Datenbank mit dem klingenden Namen "Sysivus" archiviert, gelesen, gewichtet und bewertet.
Welche EU-Vorhaben haben Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt, das Bildungs- oder Gesundheitssystem? Wie stellen sich andere EU-Länder dazu? Vollrath nennt als Beispiel den Klimaschutz: Wenn Brüssel über die Absenkung des CO2-Ausstoßes diskutiere, sei das für Deutschland von höchster Bedeutung, eine Änderung des Fischereiabkommens mit der Republik Kiribasi wohl eher nicht. "Was die Fraktionen aber für wichtig halten, entscheiden sie natürlich selber", fügt der Referatsleiter hinzu. In jeder Sitzungswoche erstellt das Verbindungsbüro zudem einen "Bericht aus Brüssel", den die Parlamentarier Montag früh in ihrem Email-Eingang finden.
Das Brüsseler Verbindungsbüro des Referats liegt nur fünf Minuten vom Europaparlament entfernt. "Ich bin wahrscheinlich der einzige Referatsleiter mit zwei Dienstsitzen", sagt Sven Vollrath. Jede Woche fliegt er von Tempelhof in die belgische Hauptstadt. Dort sind seit Anfang 2007 fünf Bundestagsangestellte und neun Fraktionsmitarbeiter aktiv, unterstützt von ihren 16 Kollegen in Berlin.
Verbindungen schaffen - das war auch vor dieser Tätigkeit Sven Vollraths Anliegen. 1998 kam er zum Deutschen Bundestag, war zunächst persönlicher Referent des Abgeordneten Wolfgang Thierse und später sein Büroleiter als Bundestagspräsident. In dieser Position war Sven Vollrath eng in den Prozess um die Entstehung des Holocaust-Mahnmals involviert. Mit dem gleichen Engagement hat er sich nun der Kommunikation zwischen Brüssel und Berlin verschrieben - und mit ihm seine Mitarbeiter in Berlin und Brüssel. "Wir sind hier ein Team von überzeugten Europäern", sagt Sven Vollrath.