17.04.2002
Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum
fünfjährigen Bestehen des Fernsehsenders Phoenix am 17.
April 2002 (Berlin, Atrium der Bundespressekonferenz)
Es gilt das gesprochene Wort
"Eigentlich heißt es ja: Wer seinen fünften Geburtstag feiert, der steckt noch in den Kinderschuhen. Der hat die Schulreife noch nicht erreicht, aber seine Familie arbeitet daran. Fünfjährige werden gemocht und liebevoll umsorgt.
In der Medienwelt ist natürlich alles ganz anders: Da gehen die Uhren schneller, da sieht so manches sehr früh sehr alt aus, da werden Gesten der Zuneigung misstrauisch beäugt. Neue Sender, neue Formate haben kaum noch eine "Kindheit", kaum noch Zeit zu wachsen. Aber sie haben Pflichten, der Druck auf sie ist enorm. Da heißt es bald schon "Top oder Flop": Entweder die Formate finden Zuspruch, decken einen vermuteten Bedarf ab, machen sich unentbehrlich. Oder sie dümpeln eine Zeit lang vor sich hin und verschwinden wieder.
Nicht so Phoenix, dem ich meine Zuneigung, meine Anerkennung gerne bekunde: Dieser öffentlich-rechtliche Sender hat sich bemerkenswert schnell zu einer kompetenten, zuverlässigen Quelle der aktuellen politischen Information innerhalb unserer sehr ausdifferenzierten Medienlandschaft entwickelt. Mit seinen Live-Übertragungen aus dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und dem Europäischen Parlament, mit seinen politischen Informationssendungen, Analysen und Gesprächsrunden, mit seiner hochwertigen Dokumentarfilmkultur findet der Sender mehr und mehr die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Von Phoenix ausgestrahlte Übertragungen und Kommentare werden geschätzt als Alternativen zum gefälligen Häppchenjournalismus, zum Infotainment, zum Diktat der Schlagzeile.
Und so ist es nur konsequent, dass der Sender nicht nur der privaten Unterrichtung dient, also zu Hause gesehen wird, sondern auch in Redaktionsstuben und Büros. Zumindest zeitweise, denn Nachrichten müssen ja auch produziert werden. Abgeordnete lassen sich von Phoenix ebenso gerne informieren wie Journalisten, politische Bildner, Lehrer, Mitarbeiter in Verwaltungen. Die Zuschauer wissen: Phoenix gucken, ist politische Bildung per se, ist mediale Grundversorgung im besten Sinne des Wortes.
Mit seiner politischen Berichterstattung leistet Phoenix einen bedeutenden Beitrag zur politischen Kultur. Sich differenziert und unaufgeregt informieren zu können - gerade auch im populärsten Medium, der Glotze - ist Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie.
Demokratische Politik braucht unabhängige, pluralistische Medien, die sich Zeit nehmen, die sich einlassen auf das Tempo und die Kompliziertheit der demokratischen Verfahren. Demokratische Politik ist nun einmal nicht leicht konsumierbar und nur gelegentlich kurzweilig. Sie kann sich nur in Grenzen einfacher, spannender, unterhaltsamer präsentieren. Auch wenn es manch einer kritisiert: Das Spröde, das Langsame ist den politischen Verfahren eigen. Demokratie ist schließlich kontrollierte Macht. Und wirkliche Kontrolle, das liegt auf der Hand, ist ohne genaues Hinschauen, ohne Nachhaken, ohne eigene Anstrengung kaum zu haben.
Dass unsere Demokratie nicht nur auf geregelte Verfahren, sondern auch auf mediale Vermittlung angewiesen ist, versteht sich von selbst. Wenn Phoenix aus dem Plenum des Deutschen Bundestages überträgt, erhält das Parlament, erhalten die Fraktionen regelmäßig Stellungnahmen zu den Debatten. Phoenix hilft also, dass die Menschen ihren Abgeordneten auf die Finger schauen.
Dass Phoenix mit seinem Vollprogramm immer mehr Zuschauer erreicht, ist für den Parlamentspräsidenten natürlich eine erfreuliche Nachricht, gerade im Jahr der Bundestagswahl. In einem solchen Jahr kann es gar nicht genug Aufklärung und Information geben, der Bedarf ist ja da. Ich erinnere nur an die Übertragung der Bundesratssitzung über das Zuwanderungsgesetz. Phoenix hatte insgesamt ca. 1,8 Millionen Zuschauer. Das ist doch beachtlich!
Dass das Gemeinschaftswerk Phoenix - ARD und ZDF betreiben den Kanal sozusagen paritätisch - angenommen wird, war nicht selbstverständlich. Ich erinnere mich an viele Unkenrufe, die vor 1997 zu hören waren. Der Bedarf an einem öffentlich-rechtlichen Dokumentations- und Ereigniskanal wurde von manch einem Kritiker, auch aus der Politik, schlichtweg bestritten. Fünf Jahre später käme wohl kaum noch jemand auf die Idee, diesen Sender in Frage zu stellen. Und das ist sicher ein großer Erfolg.
Phoenix beobachtet von Bonn aus das politische Geschehen in Berlin und Europa - Brüssel und Straßburg liegen ja gleich um die Ecke. Und inzwischen gibt es auch eine Dépendance an der Spree. Mir scheint allerdings, dass die europapolitische Berichterstattung ein wenig in den Hintergrund getreten ist - zugunsten der Berichte aus Deutschland. Das hat zu tun mit den Einschaltquoten, mit dem Informationsbedarf. Sitzungen des Europäischen Parlaments locken offenbar kaum Zuschauer vor den Bildschirm. Dass der Sender gleichwohl beharrlich darüber berichtet, verdient Lob. Andere würden darauf verzichten, weil sie kein Informationsangebot machen sondern sich allein an der Nachfrage ausrichten.
Völlig gegen den Trend, aber keineswegs zu beklagen ist, dass Phoenix komplett ohne Werbung und ohne Sponsoren auskommt - ein Novum, mit dem sich trefflich werben ließe. Wenn ich es richtig sehe, gibt es bei uns nur zwei Sender ohne Werbung und ohne Sponsoren - Phoenix und KIKA. KIKA - das ist der öffentlich-rechtliche "Ereigniskanal" für Kinder.
Eine Frage, die immer wieder diskutiert wird, ist, ob Phoenix die Wahrnehmungsgewohnheiten der Politik-Profis, insbesondere der Journalisten, verändert hat. Die Frankfurter Rundschau hat diese Frage zugespitzt: "Stell dir vor, Phoenix sendet und kein Reporter geht hin". Eine Fiktion? Leider nein. Auch ich habe mitunter den Eindruck, dass immer weniger Journalisten politische Termine wahrnehmen - direkt vor Ort. Verfolgen auch sie das Geschehen am Bildschirm, bei Phoenix? Ich verstehe schon, dass das den Zeitdruck lockert, unter dem Journalisten leiden. Aber: Wer stellt die Fragen, wer hakt nach? Wer beschreibt das politische Klima, die Atmosphäre des politischen Geschehens, der Auseinandersetzungen, wenn auch die Journalisten nur noch fern - sähen?
Ist eine schleichende Entfremdung von Politik und Journalismus der janusköpfige Preis, den wir für die (durch permanente Übertragungen) gewonnene Transparenz zu zahlen haben? Ich hoffe: nein. Ich kann mir zum Beispiel eine Übertragung von Ausschusssitzungen des Deutschen Bundestages gut vorstellen. Doch wir brauchen nicht nur die Fernsehbilder, denn ein Mehr an Information führt nicht zwangsläufig zu einem Mehr an Informiertheit. Wir brauchen auch die Diskussion über die Bilder. Wir brauchen das kritische Insistieren der Journalisten vor Ort, die Nachfrage, den durch Erfahrung gesättigten Bericht. Phoenix zeigt, was möglich ist. Aber, liebe Intendanten und Redaktionsleiter, bedenken Sie bitte: Phoenix entlastet nicht die öffentlich-rechtlichen Anstalten und die anderen Medien von ihrem Informations- und Bildungsauftrag, sondern Phoenix erweitert und vertieft deren Angebot.
Phoenix feiert heute sein fünfjähriges Bestehen und viele Zuschauer sind via Bildschirm dabei. Im Namen der Zuschauer gratuliere ich herzlich zu diesem ersten, kleinen Jubiläum. Ich wünsche uns allen, dass Phoenix die Wahrnehmung von Politik und den öffentlichen Diskurs über Politik weiterhin befördert - im aufklärerischen Sinne und zur Stärkung unserer Demokratie."