Reden des
Bundestagspräsidenten
Reden 2003
07.10.2003
Rede zum 14. Ordentlicher Gewerkschaftstag der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten, 6. - 10. Oktober 2003 in
Magdeburg
Lieber Franz-Josef Möllenberg, liebe
Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, gut möglich,
dass man später einmal rückblickend sagen wird: Das Jahr
2003 war für Deutschlands Gewerkschaften ein Wendepunkt.
Jedenfalls wurde in den vergangenen Monaten wie selten zuvor
über Rolle, Aufgaben und Ziele von Gewerkschaften im
Allgemeinen und natürlich der IG Metall im Besonderen
gestritten, nicht nur wohlmeinend, sondern häufig mit
unüberhörbarer Häme. Auch wenn es vordergründig
immer einmal wieder um Personen ging, tatsächlich - so ist
mein Eindruck - ging und geht es um die Zukunft der Gewerkschaften,
nicht nur - das betone ich - im Interesse ihrer Mitgliedschaft,
sondern im Interesse der ganzen Gesellschaft.
Deshalb war und ist diese Debatte nicht nur für die IG Metall wichtig. Sie ist für alle Gewerkschaften essenziell und es ist auch für Deutschland gut, wenn dabei am Ende eines wieder klar wird: Gewerkschaften sind unersetzliche Partner, wenn es um Wohlstand und Fortschritt in unserem Lande geht.
Nach dem gescheiterten Streik der IG Metall hagelte es Kritik und Häme. Es wurden Zweifel laut, ob sich Gewerkschaften nicht überlebt hätten. Das ist schlichter Unsinn. Es gibt keinen Grund, an der Bedeutung von Gewerkschaften zu zweifeln.
Sorge bereitet mir allerdings, dass es hinter dem Scheitern einen Riss geben könnte, der auch durch die Gewerkschaften geht, eine Entsolidarisierung zwischen West und Ost. Ich hoffe, dass Befürchtungen solcher Art nicht zutreffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - wem sage ich das? - verdanken ihre Rechte gewerkschaftlicher Solidarität. Lohn und Arbeitsdauer, Urlaub und vermögenswirksame Leistungen haben Gewerkschaften mit den Arbeitgebern ausgehandelt und ausgekämpft. Unsere derzeitigen Lebensverhältnisse, unser Wohlstand wären ohne die Organisation der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft überhaupt nicht denkbar.
Gerade die deutsche Gewerkschaftsbewegung hat sich dadurch ausgezeichnet, dass sie, statt Gruppenegoismus zu pflegen, mehr als andere Gruppen in dieser Gesellschaft das Gemeinwohl im Blick hatte und ökonomischen Fortschritt und gesellschaftlichen Zusammenhalt miteinander verbunden und immer als ihr Ziel hatte.
Mit dieser aufgeklärten Sicht war und ist die deutsche Gewerkschaftsbewegung auch ein wichtiger Flügel des bürgerschaftlichen Engagements in unserer Gesellschaft. Gewerkschaften sind gleichberechtigte Akteure der sozialen Marktwirtschaft. Das sehen die meisten Arbeitgeber ganz genauso. Gewerkschaften sind Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten und zugleich Garanten ökonomischer Modernisierung unter der Bedingung des sozialen Friedens. So ist das aktuelle Lob der Arbeitgeber - gewiss nicht aller, aber doch vieler -, übrigens auch deren Verteidigung des Flächentarifvertrages gegen Neoliberale aller Parteien, verständlich und berechtigt.
Ausruhen, fürchte ich, kann man sich darauf nicht. Es gibt sie, diese unübersehbaren und nicht umgehbaren Veränderungen der Produktionsweise, die Wettbewerbsverschärfung und die immer mehr individualisierten Arbeitsbeziehungen und Beschäftigungsformen, die an den hergebrachten Formen und Praktiken der Solidarität zehren. Deswegen halten immer mehr Menschen Solidarität für verzichtbar. Jürgen Habermas hat vor einigen Jahren - ich finde, das ist ein ganz präzises Wort - von der Solidarität als knapper Ressource gesprochen.
Wenn ich es richtig wahrnehme, müssen wir miteinander dafür arbeiten, dass in unserem Lande Solidarität mehrheitsfähig bleibt. Sicher ist das nicht. Das heißt für die Gewerkschaften: Sie müssen lernen, dieser Entwicklung, der Veränderung in der Produktion, in den Beschäftigungsformen, die so gefährlich ist für die Solidaritätsbereitschaft, durch ihre eigene Organisationskultur zu begegnen. Die Erkenntnis, dass wir auch in Zukunft auf Solidarität angewiesen bleiben werden, genügt leider nicht.
Viele Gewerkschaften - auch die NGG zähle ich ausdrücklich dazu - sind längst in den neuen Verhältnissen angekommen. Sie haben sich darauf eingestellt, dass sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft verändert haben, dass die Arbeitnehmerschaft sich wandelt, dass flexible Erwerbsbiographien zunehmen, dass Mitglieder oder potenzielle neue Mitglieder neue Leistungen erwarten.
Nur ein paar Beispiele für die Flexibilität, wie sie Gewerkschaften längst praktizieren, dicht an der Branche, dicht am Betrieb:
Die IG BCE hat sich mit den Arbeitgebern auf einen Arbeitszeitkorridor geeinigt. Je nach Arbeitsanfall arbeiten Beschäftigte bis zu 2 ½ Stunden länger oder kürzer.
ver.di hat mit dem Versicherungsgewerbe eine Regelung vereinbart, wonach die wöchentliche Arbeitszeit um bis zu acht Stunden verkürzt werden kann, ohne Lohnausgleich.
Auch Haustarifverträge müssen nicht immer von Nachteil sein, das weiß niemand besser als die NGG, die - das ist mein aktueller Informationsstand - schon jetzt mehr als 400 Tarifverträge allein im Bezirk Ost hat. Die Abschlüsse der NGG bewegen sich dabei - man höre - durchaus über dem Durchschnitt aller Tarifabschlüsse. Zum Teil wurden sogar höhere Tarifabschlüsse als in den alten Bundesländern gesichert.
Ich erwähne diese Beispiele, weil sie zeigen: Gewerkschaften sind insgesamt schon viel weiter, viel klüger und flexibler, als es ihrem derzeitigen öffentlichen Image als Blockierer, das von manchen gepflegt wird, entspricht.
Die Gewerkschaften sind beweglich, sie sind nicht eine Ansammlung von Betonköpfen.
Im Brockhaus von 1898, einem etwas älteren Buch, steht über die Gewerkschaften Folgendes:
Auch wenn sich die Arbeitswelt seither tief greifend verändert hat, an einer Grundtatsache wird sich auch im Arbeitsleben des 21. Jahrhunderts nichts ändern: Auf sich allein gestellt ist der Einzelne zu schwach. Das bekommen zum Beispiel auch die so genannten neuen Berufe in der IT-Branche oder in Finanzunternehmen zu spüren, die sich eine Zeit lang lieber als so genannte Arbeitskraftunternehmer verstanden denn als abhängig Beschäftigte.
Gewerkschaften, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden aber nicht nur als Organisationsmacht gebraucht, die die Interessen der Mitglieder bündeln. Sie werden auch als gesellschaftliche Partner gebraucht, die für verlässliche und belastbare soziale Standards einstehen.
Nur ein Beispiel: Unbeeindruckt von ökonomischer Krise und den Erwartungen der Wirtschaft, allen voran der Banken, staatlich zu intervenieren oder gar zu sanieren, ist der Ruf nach dem Rückzug des Staates nicht verklungen. Nun aber soll der Staat sich vor allem aus einer sozialen Verantwortung zurückziehen. Da wird die Privatisierung von Lebensrisiken als Wundermittel gepriesen, es wird eine Gesellschaft propagiert, die soziale Sicherung privatwirtschaftlich organisieren könne, als ob man die Wettbewerbsunfähigen und die Risikogruppen im Falle der Insolvenz jeweils aus der Gesellschaft entlassen könnte.
Wenn es für den Einzelnen wie für die Gesellschaft nur noch ökonomische, aber keine auf Dauer angelegten Beziehungen mehr gibt, dann bedeutet das die Erosion des Gemeinwesens. Das wäre schlecht für die Demokratie und sehr schlecht für den Einzelnen und seine Freiheit und seine Sicherheit. Deshalb: Immer dann, wenn Fragen des Gemeinwohls thematisiert werden, tragen Gewerkschaften Mitverantwortung. Gerade jetzt sind Gewerkschaften gefragt, grundsätzlich Stellung zu nehmen; denn die Urthemen, die sich die Gewerkschaften auf die Fahnen geschrieben haben - Solidarität, Gerechtigkeit, angstfreie Lebensverhältnisse, materielle Sicherheit, Bildung -, haben sich doch keineswegs erledigt. Allerdings erfordern sie heute aktuell andere Antworten als früher.
Was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich? Ich werde immer mal wieder - das muss mit meiner Rolle oder mit meinem Amt zu tun haben - gefragt, wie meine Antwort auf eine solche fundamentale Frage ist. Ich gebe immer zwei Antworten. Die erste lautet: Ich möchte in einer Gesellschaft leben, und ich arbeite für eine Gesellschaft, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können.
Denn wir sind verschieden nach Herkunft, nach Überzeugung, nach Hautfarbe, nach Leistungsfähigkeit. Und damit hat die zweite Antwort auf die Frage zu tun: Ich möchte eine Gesellschaft, in der wir Menschen nicht reduziert werden auf unsere beiden ökonomischen Rollen, mit denen wir auf dem Markt vorkommen, nämlich den ökonomischen Rollen als Konsument und Produzent. Wir sind ja mehr als dies!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewerkschaften haben eine große Vergangenheit. Wie ihre Zukunft aussieht, liegt in ihrer Hand. Das erfordert einen Lernprozess, einen Prozess des Umdenkens, wobei ich zugestehe, dass nicht jeder Rat von außen, was dabei herauskommen soll, auch ein guter Rat ist. Dieser Prozess ist kompliziert und langwierig. Das ist bei Massenorganisationen eben so. Auch meine Partei, die SPD, kann davon ein Lied singen. Entscheidend ist, dass die Gewerkschaften aus der Defensive, die ihnen die Rollenzuweisung "Besitzstandswahrer" oder "Betonköpfe" verpasst hat, herauskommen und auf der Höhe der Zeit ihre Aufgaben wahrnehmen. Insofern ist eben jede schwierige Situation, jede Krise auch eine Chance. Sie beschleunigt, sie erzwingt die Diskussion und den Lernprozess.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, möglicherweise wird man auch ganz allgemein vom Jahr 2003 als von einem Jahr sprechen, in dem unser Land an einem Wendepunkt angekommen ist. Vom Mut, die Veränderungen vorzunehmen, die unser Land braucht, um wieder an die Spitze der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zu kommen, hat Gerhard Schröder im März dieses Jahres gesprochen. Seien wir ehrlich: Viele Probleme, die wir lösen müssen, sind nicht neu: hohe Arbeitslosigkeit, wegbrechende Steuereinnahmen, mangelnde Finanzausstattung der Kommunen, Einnahmedefizite bei den sozialen Sicherungssystemen, die Folgen des demografischen Wandels.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mehr als einmal der Mut und deshalb auch die Mehrheiten für wenn schon nicht weitreichende, dann wenigstens notwendige Veränderungen fehlten. Das reicht zurück bis weit in die Zeit von Helmut Kohl. Aber wir machen wieder eine aus der Geschichte altvertraute Erfahrung: Verdrängte Probleme holen einen unerbittlich ein! Wir stehen inzwischen nicht mehr vor der Wahl, die Probleme entweder heute oder lieber erst morgen zu lösen. Die Alternative heißt: Entweder wir modernisieren unsere soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes. Das können wir miteinander nicht wollen.
Die Gewerkschaften haben das große Verdienst, unsere Gesellschaft zu einer sozialen, solidarischen Gesellschaft mitgestaltet zu haben. Jetzt haben sie auch die Aufgabe, dafür mit zu sorgen, dass auch in Zukunft eine soziale und solidarische Gesellschaft möglich ist. Da stehen wir erst am Anfang. Auf der Oberfläche führen wir einen Streit um Kostenumverteilung im sozialen Bereich. Die Frage, ob es dabei gerecht zugeht, steht verständlicherweise im Mittelpunkt. Das ist legitim. Aber es berührt noch längst nicht den Kern des Problems. Was sind eigentlich die Voraussetzungen für künftigen Wohlstand, den wir gerecht, aber vor allem ausreichend schaffen wollen?
Lange Zeit war die Gerechtigkeitsfrage primär eine Frage von leistungsgerechter Teilhabe der am Produktionsprozess Beteiligten. Dass sich das nicht erledigt hat, muss ich hier wohl nicht betonen. Diese "alte" Gerechtigkeitsfrage wird aber von einer neuen, akuten überlagert: der dauerhafte Ausschluss von immer größeren Menschengruppen aus dem produktiven Kern der Gesellschaft. Diese Entwicklung bedeutet nicht nur für die vom Ausschluss Betroffenen eine absolute Ungerechtigkeit, sie wirkt auch auf die im aktiven Arbeitsleben Stehenden zurück, einerseits im Sinne der Intensivierung und Beschleunigung der Anforderungen an die Aktiven, andererseits im Sinne der Entfremdung von der Lage der Ausgeschiedenen. Die Spaltung der Gesellschaft zwischen Arbeit Habenden und Arbeitslosen vertieft sich. Oder empfindet ihr das nicht so?
Der Gewöhnungsprozess, der stattfindet, die Bereitschaft zur solidarischen Unterstützung - das heißt Arbeitslosigkeit zu finanzieren - erreichen nämlich dort ihre Grenzen, wo dies den Lohn für geleistete Arbeit auf ein Niveau drückt, dass sich Arbeit nicht mehr lohnt. Ob nun soziale Umverteilung Arbeitsplätze kostet oder ob Dumpinglöhne auf die Einkommen regulär Beschäftigter drücken, die neue Gerechtigkeitsfrage drängt offensichtlich die alte Gerechtigkeitsfrage in den Hintergrund.
Ich stimme also denjenigen zu, die sagen, unser größtes Gerechtigkeitsproblem ist die Massenarbeitslosigkeit. Ich stimme auch der These zu, dass dies nicht auf dem Weg von mehr Umverteilungsgerechtigkeit - gemeint ist eine ausschließlich umverteilende Sozialpolitik - lösbar ist. Deswegen ist aber soziale Gerechtigkeit nicht etwa passé, sondern mehr denn je in dieser Zeit ein Thema. Das Thema soziale Gerechtigkeit ist im 21. Jahrhundert schon deshalb nicht passé, weil sich global, aber auch national die Schere bei Einkommen und Lebenschancen öffnet. Die Ungerechtigkeit nimmt nicht ab, sie nimmt zu.
Seit drei Jahrzehnten bleibt das gesamtwirtschaftliche Wachstum hinter den Produktivitätszuwächsen tendenziell zurück. Das heißt, bei abnehmender allgemeiner Teilhabe am Wachstum sinken die Nachfrage und rückwirkend natürlich das Arbeitsvolumen, das gebraucht wird. Die inzwischen erreichte strukturelle Arbeitslosigkeit wird deshalb als soziale Frage unweigerlich zu einer Repolitisierung der Gerechtigkeitsfrage führen. Das sage ich allen, auch in meiner eigenen Partei, die davon etwas ungenau reden, dass Verteilungsgerechtigkeit weniger wichtig würde. Ich glaube, in Zeiten der Knappheit wird Verteilungsgerechtigkeit wichtiger. Sie einzulösen, das wird schwieriger.
Die Sozialdemokratie und auch die Gewerkschaftsbewegung verstanden übrigens unter sozialer Gerechtigkeit niemals nur ausgleichende Umverteilung. Der Ausgleich von unverschuldeten Leistungsdefiziten oder Benachteiligungen gehört selbstverständlich zu einem zivilisatorischen Standard, den auch der liberale Wohlfahrtsstaat mehr oder weniger voraussetzt.
Der Sozialstaat unserer Prägung definiert sich nicht so sehr über den materiellen Ausgleich, sondern über die soziale Gleichstellung der Menschen. Das heißt: Er kümmert sich um die Bedingungen dafür, faire und freie Arbeitsbeziehungen in der Gesellschaft einzugehen, damit jeder für sich selbst sorgen kann. Weil wir in der Arbeit die wesentliche Arbeits- und Wertbeziehung zwischen den Menschen sehen, die Würde des Menschen, den Schutz vor Gewalt, vor Willkür und unverschuldete Armut vorausgesetzt, ist der Tatbestand der sozialen Ausgrenzung aus der Arbeitsgesellschaft die hervorstechende Form der sozialen Ungerechtigkeit.
Der Kern von Gerechtigkeitspolitik sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher, er liegt traditionell in der Organisation der Arbeitsgesellschaft. Deshalb gehört zur Lösung der neuen Gerechtigkeitsfrage vorrangig die Verbesserung der Zugangschancen zur Erwerbsarbeit, z. B. über einen Ausbau des Bildungssystems. Aktive Bildungspolitik ist zwar kein Ersatz, aber eine wesentliche Bedingung für eine moderne Gerechtigkeitspolitik. Sie verbessert die Chancen für Beschäftigung, aber sie ändert natürlich nicht die Regeln. Deshalb gehört zu dieser Politik weiterhin die Gewährleistung eines funktionsfähigen sozialen Netzes.
Die modernen flexiblen Berufsbilder, Arbeitsbiographien und Lebensmodelle, die so genannte Individualisierung, bedeuten durchaus einen Fortschritt an gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Für die Mehrheit ist dieses allerdings nur dann lebbar, wenn soziale Sicherung Mobilität und wenn bessere Bildung Flexibilität möglich machen. Gerecht ist folglich, was neue Chancen ermöglicht, was der Gleichstellung der Geschlechter dient, die Kombination von Beruf und Kindererziehung ermöglicht, was verhindert, dass soziale Herkunft den Ausschluss von Bildung, Ausbildung und somit von Erwerbschancen verursacht.
Die jüngste OECD-Studie - Sie werden davon gelesen haben - hat den Finger in die Wunde gelegt. Bildungsmängel schwächen auch die Wirtschaft und damit den Wohlstand. Wenn im OECD-Durchschnitt 30 % eines Jahrgangs einen Studienabschluss haben, in Deutschland aber nur 19 %, zeigt uns das genau den Nachholbedarf an, den wir haben.
Übrigens - an dieser Stelle muss man das erwähnen -: Arbeiterbewegung und Bildungsarbeit sind einmal fast identisch gewesen. Und bei der NGG nehme ich dieses Beispiel: Von Zigarrendrehern wird überliefert, sie hätten sich schon in der Zeit um 1848 während ihrer Arbeit von einem Vorleser, dessen Lohn sie mit erwirtschafteten, aus Zeitungen und Büchern vorlesen lassen. Kein Wunder, dass Zigarrenfabriken Zentren des gewerkschaftlichen Kampfes und sozialdemokratischer Agitation waren. Indem ich daran erinnere, sage ich: Ich wünsche mir deutlich mehr bildungspolitisches Engagement von den Gewerkschaften.
Denn es ist doch ein Missverhältnis, wenn ich in der bildungspolitischen Debatte die Stimmen der Arbeitgeber viel deutlicher zu hören bekomme als die von Gewerkschaften. Das muss nicht so bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch für das 21. Jahrhundert gilt: Gerecht ist alles, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben in der Gesellschaft frei zu gestalten. Nichts widerlegt die alte Erfahrung, dass Freiheit ohne Solidarität nicht funktionieren kann und dass gleiche Freiheit erst wirkliche Gerechtigkeit ist.
Angesichts der wirtschaftlichen Probleme - wir aben in diesem Lande seit drei Jahren kein Wachstum mehr -, angesichts hoher Arbeitslosigkeit, angesichts des demographischen Wandels und einer dramatischen Finanzsituation in den Staats- und Sozialkassen, und ich füge hier in Magdeburg hinzu: angesichts der noch nicht ganz bewältigten - wir sind erst in der Mitte des Weges - Probleme des Aufbaus im Osten Deutschlands, angesichts all dessen können wir nicht einfach am Status quo festhalten. Das wäre keine Gerechtigkeitspolitik.
Wenn es zutrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der deutsche Sozialstaat weltweit die größten Anstrengungen unternimmt, um die Folgen von Arbeitslosigkeit zu finanzieren, dann gehört das Ergebnis zu den erfolglosesten Anstrengungen, die je unternommen wurden, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Mit sozialer Absicherung allein, die - das soll nicht vergessen werden - ein wichtiges Instrument zur Abwehr der ökonomischen Folgen konjunktureller Arbeitslosigkeit bleibt, ist es jedenfalls nicht getan.
Welche Instrumente haben wir nun? Ich will zwei Punkte hervorheben.
Richtig ist generell: Der Versuch, allein mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik Beschäftigung zu fördern, reicht nicht aus. Größere Mobilität, Flexibilität usw. schaffen nur dann mehr Beschäftigung, wenn es auch neue Märkte und die Nachfrage nach neuen Produkten gibt. Das erfordert Innovationen, mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung, einen entsprechenden Unternehmergeist und Gründermut. Der Staat kann mithelfen, die Risiken zu mindern, Vorleistungen in Bildung und Forschung finanzieren.
Unsere Forderung an die Wirtschaft, heute eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen bereitzustellen, sie gehört genau in diesen Zusammenhang. Die jungen Menschen, denen heute berufliche Bildung verweigert wird, sind die Arbeitslosen von Morgen. Es handelt sich dabei aber auch um unterlassene Investitionen in das Arbeitsvermögen unserer Gesellschaft, das so genannte Humankapital.
Immer weniger Unternehmen sind einerseits bereit, junge Leute auszubilden, aber immer mehr Unternehmen beklagen auf der anderen Seite, dass sie schon jetzt keine qualifizierten Fachkräfte finden.
Die Wirtschaft selbst ist in hohem Maße dafür verantwortlich. Das räumen ihre Verbandsfunktionäre auch ein. Trotzdem fehlen in diesem Jahr bisher wieder einige Zehntausend Ausbildungsplätze - und das ist ein Skandal!
Es ist immer gut, wenn ein Problem ohne Zwang, ohne Anwendung von Zwangsmitteln gelöst werden kann. Das ist immer der bessere Weg. Aber ich füge hinzu: Wenn eine Ausbildungsplatzabgabe keine Anreize dafür schaffen sollte, diesen Trend umzukehren, dann hieße die Folge Verstaatlichung der beruflichen Bildung. Und dafür wäre dann nicht etwa eine linke Regierung verantwortlich, sondern diejenigen, die täglich den Rückzug des Staates predigen.
Auf jeden Fall wäre das die schlechtere Lösung, weil - das wissen wir doch - die Qualifikation im Unternehmen immer besser ist und immer noch wechselseitige Bindung und Verantwortung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmer schafft.
Ein zweiter Punkt: Die zeitweilig oder von manchen gänzlich bestrittene staatliche Verantwortung, politische Verantwortung für die Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, sie muss endlich von der nationalen auf die europäischen Ebene gebracht werden. Eine wirksame makroökonomische Steuerung braucht eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Staaten des Euro-Raumes. Denn - das ist eine einfache Beobachtung -: Nachfrageimpulse durch öffentliche Investitionen oder Steuersenkungen innerhalb eines Landes ziehen bei offenen nationalen Märkten die Gefahr der künstlichen Importfinanzierung nach sich. Auf europäischem Niveau erreichen wir aber einen binnenwirtschaftlichen Anteil am Markt von 90 %, also auch einen entsprechenden Wirkungsgrad ökonomischer Impulse. Die gemeinsame industriepolitische Initiative von Gerhard Schröder und Jacques Chirac könnte sich hier als ein Durchbruch erweisen.
Der mit der Euro-Einführung begründete europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, er muss auf seine zweite Bestimmung hin, nämlich Wachstum und damit Beschäftigung zu ermöglichen, weiterentwickelt werden. Es ist ja in der öffentlichen Auseinandersetzung immer nur vom Stabilitätspakt die Rede. Und Stabilität ist gewiss ein wichtiges Ziel, und Sparen, also Geld so vernünftig und effektiv wie möglich auszugeben ist selbstverständlich ein richtiges Ziel. Aber in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Stagnation ist doch das andere in diesem Pakt vereinbarte gleichberechtigte Ziel nicht weniger wichtig, sondern viel wichtiger.
Deswegen sage ich: Es reicht nicht aus, dass die für den Euro-Raum bislang einzige Institution mit so genannter makroökonomischer Kompetenz, die EZB, die Europäische Zentralbank, nur auf ein Ziel festgelegt ist, nämlich darauf, die Geldwertstabilität zu sichern. Eine koordinierte Finanz- und Wirtschaftspolitik im Euro-Raum könnte neue Spielräume für kurzfristige konjunkturelle Steuerung und langfristige Investitionspolitiken im Rahmen des Paktes schaffen. Wenn die Europäische Union für ihre Bürger einen Sinn haben soll, muss sie auch für Wachstum sorgen und eine entsprechende Politik in den eigenen Ländern vereinbaren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa kann den Wettbewerb zwischen neoliberaler Revolution und sozialer Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, bestehen, der die politische Auseinandersetzung am Beginn des 21. Jahrhunderts prägt. Dabei geht es vor allem um den Sozialstaat, den ich in ungebrochenem Pathos die größte Kulturleistung Europas nenne. Der Sozialstaat unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von anderen Kontinenten. Manche haben ihn gelegentlich sogar als den dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus verstanden. Der moderne Sozialstaat ist aber ein Teilhabestaat. Die Bereitschaft der Mehrheit der Bürger, zur Finanzierung der kollektiven Leistungen beizutragen, beruht auf dem Prinzip "Leistung und Gegenleistung". Soziale Absicherung ist nur ein Zweck dieses Bündnisses. Damit jeder sein Leben selbständig und in Würde leben kann, setzt der moderne Sozialstaat nicht am Ende bei der Existenzsicherung an, sondern bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die ökonomische Funktion des Sozialstaats - und um die geht es mir - beschränkt sich nicht auf die Abwehr von Krisenphänomenen des Konjunkturzyklus, hätte also gewissermaßen nur die Aufgabe, die Schmerzen und die Opfer immer ein bisschen zu mildern. Nein, die ökonomische Funktion des Sozialstaats spielt vor allem in der Förderung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens eine Rolle, also in der Förderung eines hohen Bildungs- und Gesundheitsniveaus, von Wissenschaft und Forschung, von Verkehr und Umwelt. Das von den Bürgern durch Beiträge gebildete Sozialeigentum und die steuerfinanzierten öffentlichen Güter, die ich eben genannt habe, dienen letztlich der Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen wie des gesamten Gemeinwesens und damit dem Wohlstand der Gesellschaft.
Und schließlich ist der moderne Sozialstaat europäischer Prägung eine Institution der Freiheit, gewissermaßen die Geschäftsgrundlage der Demokratie. Durch seine Staatszugehörigkeit erwirbt der Bürger individuelle Freiheitsrechte und soziale Grundrechte, die ihn zur Selbständigkeit befähigen, aber eben auch finanziell und politisch in die Mitverantwortung nehmen.
Nun aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekommt der Sozialstaat zunehmend selbst ein Gerechtigkeitsproblem. Ursprünglich hat er die Lasten der Risiken von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit auf viele Schultern solidarisch verteilt und damit erträglich gemacht. Wenn nun aber immer weniger Menschen diese Mittel erarbeiten müssen und immer mehr Menschen auf die Solidarität angewiesen sind, lässt sich das Prinzip Leistung für eine angemessene Gegenleistung immer schwerer durchhalten. Gelegentlich sollen ja selbst Gewerkschafter, die sich unermüdlich für die solidarische Gesellschaft einsetzen, beim Lesen der Lohnabrechnung etwas weniger Abzüge für wünschenswert gehalten haben, und sei es nur für einen kurzen Moment - der Schwäche.
Abgesehen von diesem subjektiven Gesichtspunkt - die Bindung der meisten Sozialkosten an die Arbeitseinkommen begünstigt verschiedene Ausweichstrategien von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern zur Beitragsvermeidung. Das reicht von der Verlagerung ganzer Produktionszweige in so genannte Niedriglohn- oder Niedrigsozialkostenländer bis hin zur Schwarzarbeit.
Die sich verändernde Altersstruktur der Bevölkerung tut das Ihre, dass die für Rente, Kranken- und Pflegeversicherung umzulegenden Beiträge wachsen. Deshalb führt kein Weg an der Frage vorbei: Was können, was müssen wir tun, um den Sozialstaat funktionsfähig und bezahlbar zu erhalten? Im Kern gibt es nur folgende Möglichkeiten:
Erstens - mit diesem Ziel ist meine Partei angetreten; darüber streitet sie -: Durch Reformen der Systeme selbst ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen und damit bei gleicher Versorgung die Kosten zu begrenzen. Dabei sind offenbar - Beispiel: Gesundheitswesen - die größten Hindernisse zu überwinden. Es wird noch mehrerer Anläufe bedürfen, um das System von Kopf bis Fuß zu reformieren.
Zweitens - das ist die andere Möglichkeit -: Man muss die Leistungen der Sicherungssysteme auf das Notwendigste reduzieren bzw. sie weitgehend privatisieren. Blicken Sie einmal in die Vorschläge der Herzog-Kommission.
Drittens: Man muss die Beiträge weiter anheben. Das kann keiner schon aus ökonomischen Gründen wirklich wollen.
Tatsächlich bemüht sich die Bundesregierung um eine vernünftige Mischung mit dem Ziel, Effizienz zu steigern und die Beiträge wenigstens zu begrenzen, wenn nicht schon zu senken. Dabei kann - und aus gewerkschaftlicher Sicht muss; ich sage das mit vollem Verständnis - man über jede Einzelheit diskutieren und streiten. Aber im Grunde lautet unter den gegebenen politischen Verhältnissen - was immer auch die konkreten, durch demokratische Wahlen entstandenen Mehrheitsverhältnisse einschließt - die Alternative, eine solche Mischung in der Art der Agenda 2010 zu versuchen, oder zu scheitern und die sozialen Sicherungssysteme insgesamt zu gefährden. Das kann nicht im gewerkschaftlichen Interesse liegen. Ich füge hinzu: Meine Partei würde das auch nicht überstehen.
Der Sozialstaat steht also nicht zur Disposition. Es geht darum, seine Funktionsfähigkeit den veränderten demografischen und wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen und eine neue Balance von Beiträgen und Leistungen zu finden.
Die Einsicht, für die ich hier werbe, hat viele Gegner und Feinde. Das sind diejenigen, denen das Ganze noch nicht weit genug geht, weil sie hofften, das System insgesamt kippen zu können, und das sind andere, die erwartet haben, dass wir das neue Ufer und ein besseres System in einem Schritt schafften. Wirklich verständlich ist der Unmut derjenigen, denen Mehrbelastungen zugemutet werden. Dieser Unmut wird umso stärker, wenn ich es richtig beobachte, wenn Manager, die Millionen verdienen, die Zulagen für Sonntags- und Nachtarbeit in Frage stellen.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn sich Vorstände die Bezüge auf ein - wie heißt das? - internationales Niveau anheben, während sie Lohnforderungen zurückweisen.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn im Management noch bei erwiesener Erfolglosigkeit unermessliche Ablösesummen gezahlt werden, damit Vorstände endlich gehen, während gleichzeitig der Kündigungsschutz in Frage gestellt wird.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn ständig der Ruf nach Niedriglohnsektoren ertönt, obwohl es sie längst gibt. Wenn im offenen Widerspruch zur Massenarbeitslosigkeit die Forderung nach Arbeitszeitverlängerungen erhoben wird, dann vermag ich dem nicht mehr zu folgen.
Ich bin lernfähig, oder ich versuche, es zu sein. Aber ich verstehe nicht - ich habe es bisher nicht lernen können -, dass angesichts von weit über 4 Millionen Arbeitslosen, die Arbeitslosen, die arbeiten wollen - jedenfalls fast alle von ihnen -, andere sagen, diejenigen, die Arbeit haben, müssten mehr arbeiten.
Ich verstehe nicht, wie dies als eine allgemeine Regel gelten soll.
Ich weiß, dass die allgemeine Senkung der Arbeitszeit auch keine Lösung ist. Aber ebenso falsch ist die Forderung, dass wir alle in Deutschland mehr arbeiten sollten. Ja, bitte, dann aber die Arbeitslosen an erster Stelle.
Es gibt ihn also doch, diesen Klassenkampf von oben. Aber trotzdem, obwohl uns das unendlich aufregt und ärgert, ändert das nichts an der schwierigen Aufgabe, den Sozialstaat für die Zukunft zu bewahren. Wenn er für die Herausforderung des 21. Jahrhunderts umgebaut werden muss, dann geht es um einen Staat, der mehr in die Zukunft investiert, in die Fähigkeit der Menschen, die absehbaren und weit reichenden Veränderungen bewältigen zu können.
Dass sich die Dinge verändern und dass man auf Veränderungen reagieren muss, ist keine neue Erfahrung. In ihrer langen Geschichte waren ausgerechnet die Gewerkschaften immer wieder Schrittmacher, die neuen Ideen zum Durchbruch verholfen haben. Die Gewerkschaften haben bei der Tarif- und Arbeitsmarktpolitik eine weitaus reformfreudigere Rolle als ihnen nachgesagt wird. Auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Sozialstaatsreformen wünsche ich mir genau dies.
In seinem letzten Grußwort an die Sozialistische Internationale hat Willy Brandt geschrieben - Sie kennen diesen Satz -:
In diesem Sinne wünsche ich einen erfolgreichen 14. Gewerkschaftstag.
Deshalb war und ist diese Debatte nicht nur für die IG Metall wichtig. Sie ist für alle Gewerkschaften essenziell und es ist auch für Deutschland gut, wenn dabei am Ende eines wieder klar wird: Gewerkschaften sind unersetzliche Partner, wenn es um Wohlstand und Fortschritt in unserem Lande geht.
Nach dem gescheiterten Streik der IG Metall hagelte es Kritik und Häme. Es wurden Zweifel laut, ob sich Gewerkschaften nicht überlebt hätten. Das ist schlichter Unsinn. Es gibt keinen Grund, an der Bedeutung von Gewerkschaften zu zweifeln.
Sorge bereitet mir allerdings, dass es hinter dem Scheitern einen Riss geben könnte, der auch durch die Gewerkschaften geht, eine Entsolidarisierung zwischen West und Ost. Ich hoffe, dass Befürchtungen solcher Art nicht zutreffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - wem sage ich das? - verdanken ihre Rechte gewerkschaftlicher Solidarität. Lohn und Arbeitsdauer, Urlaub und vermögenswirksame Leistungen haben Gewerkschaften mit den Arbeitgebern ausgehandelt und ausgekämpft. Unsere derzeitigen Lebensverhältnisse, unser Wohlstand wären ohne die Organisation der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft überhaupt nicht denkbar.
Gerade die deutsche Gewerkschaftsbewegung hat sich dadurch ausgezeichnet, dass sie, statt Gruppenegoismus zu pflegen, mehr als andere Gruppen in dieser Gesellschaft das Gemeinwohl im Blick hatte und ökonomischen Fortschritt und gesellschaftlichen Zusammenhalt miteinander verbunden und immer als ihr Ziel hatte.
Mit dieser aufgeklärten Sicht war und ist die deutsche Gewerkschaftsbewegung auch ein wichtiger Flügel des bürgerschaftlichen Engagements in unserer Gesellschaft. Gewerkschaften sind gleichberechtigte Akteure der sozialen Marktwirtschaft. Das sehen die meisten Arbeitgeber ganz genauso. Gewerkschaften sind Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten und zugleich Garanten ökonomischer Modernisierung unter der Bedingung des sozialen Friedens. So ist das aktuelle Lob der Arbeitgeber - gewiss nicht aller, aber doch vieler -, übrigens auch deren Verteidigung des Flächentarifvertrages gegen Neoliberale aller Parteien, verständlich und berechtigt.
Ausruhen, fürchte ich, kann man sich darauf nicht. Es gibt sie, diese unübersehbaren und nicht umgehbaren Veränderungen der Produktionsweise, die Wettbewerbsverschärfung und die immer mehr individualisierten Arbeitsbeziehungen und Beschäftigungsformen, die an den hergebrachten Formen und Praktiken der Solidarität zehren. Deswegen halten immer mehr Menschen Solidarität für verzichtbar. Jürgen Habermas hat vor einigen Jahren - ich finde, das ist ein ganz präzises Wort - von der Solidarität als knapper Ressource gesprochen.
Wenn ich es richtig wahrnehme, müssen wir miteinander dafür arbeiten, dass in unserem Lande Solidarität mehrheitsfähig bleibt. Sicher ist das nicht. Das heißt für die Gewerkschaften: Sie müssen lernen, dieser Entwicklung, der Veränderung in der Produktion, in den Beschäftigungsformen, die so gefährlich ist für die Solidaritätsbereitschaft, durch ihre eigene Organisationskultur zu begegnen. Die Erkenntnis, dass wir auch in Zukunft auf Solidarität angewiesen bleiben werden, genügt leider nicht.
Viele Gewerkschaften - auch die NGG zähle ich ausdrücklich dazu - sind längst in den neuen Verhältnissen angekommen. Sie haben sich darauf eingestellt, dass sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft verändert haben, dass die Arbeitnehmerschaft sich wandelt, dass flexible Erwerbsbiographien zunehmen, dass Mitglieder oder potenzielle neue Mitglieder neue Leistungen erwarten.
Nur ein paar Beispiele für die Flexibilität, wie sie Gewerkschaften längst praktizieren, dicht an der Branche, dicht am Betrieb:
Die IG BCE hat sich mit den Arbeitgebern auf einen Arbeitszeitkorridor geeinigt. Je nach Arbeitsanfall arbeiten Beschäftigte bis zu 2 ½ Stunden länger oder kürzer.
ver.di hat mit dem Versicherungsgewerbe eine Regelung vereinbart, wonach die wöchentliche Arbeitszeit um bis zu acht Stunden verkürzt werden kann, ohne Lohnausgleich.
Auch Haustarifverträge müssen nicht immer von Nachteil sein, das weiß niemand besser als die NGG, die - das ist mein aktueller Informationsstand - schon jetzt mehr als 400 Tarifverträge allein im Bezirk Ost hat. Die Abschlüsse der NGG bewegen sich dabei - man höre - durchaus über dem Durchschnitt aller Tarifabschlüsse. Zum Teil wurden sogar höhere Tarifabschlüsse als in den alten Bundesländern gesichert.
Ich erwähne diese Beispiele, weil sie zeigen: Gewerkschaften sind insgesamt schon viel weiter, viel klüger und flexibler, als es ihrem derzeitigen öffentlichen Image als Blockierer, das von manchen gepflegt wird, entspricht.
Die Gewerkschaften sind beweglich, sie sind nicht eine Ansammlung von Betonköpfen.
Im Brockhaus von 1898, einem etwas älteren Buch, steht über die Gewerkschaften Folgendes:
Die Hauptaufgabe der
Gewerkschaftsvereine besteht darin, die gesetzliche Freiheit des
Arbeitsvertrages für die mittellosen Arbeiter zur Wahrheit zu
machen, indem dieselben durch ihre Vereinigung befähigt
werden, mit den Arbeitgebern auf gleichem Fuße zu
unterhandeln.
Auch wenn sich die Arbeitswelt seither tief greifend verändert hat, an einer Grundtatsache wird sich auch im Arbeitsleben des 21. Jahrhunderts nichts ändern: Auf sich allein gestellt ist der Einzelne zu schwach. Das bekommen zum Beispiel auch die so genannten neuen Berufe in der IT-Branche oder in Finanzunternehmen zu spüren, die sich eine Zeit lang lieber als so genannte Arbeitskraftunternehmer verstanden denn als abhängig Beschäftigte.
Gewerkschaften, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden aber nicht nur als Organisationsmacht gebraucht, die die Interessen der Mitglieder bündeln. Sie werden auch als gesellschaftliche Partner gebraucht, die für verlässliche und belastbare soziale Standards einstehen.
Nur ein Beispiel: Unbeeindruckt von ökonomischer Krise und den Erwartungen der Wirtschaft, allen voran der Banken, staatlich zu intervenieren oder gar zu sanieren, ist der Ruf nach dem Rückzug des Staates nicht verklungen. Nun aber soll der Staat sich vor allem aus einer sozialen Verantwortung zurückziehen. Da wird die Privatisierung von Lebensrisiken als Wundermittel gepriesen, es wird eine Gesellschaft propagiert, die soziale Sicherung privatwirtschaftlich organisieren könne, als ob man die Wettbewerbsunfähigen und die Risikogruppen im Falle der Insolvenz jeweils aus der Gesellschaft entlassen könnte.
Wenn es für den Einzelnen wie für die Gesellschaft nur noch ökonomische, aber keine auf Dauer angelegten Beziehungen mehr gibt, dann bedeutet das die Erosion des Gemeinwesens. Das wäre schlecht für die Demokratie und sehr schlecht für den Einzelnen und seine Freiheit und seine Sicherheit. Deshalb: Immer dann, wenn Fragen des Gemeinwohls thematisiert werden, tragen Gewerkschaften Mitverantwortung. Gerade jetzt sind Gewerkschaften gefragt, grundsätzlich Stellung zu nehmen; denn die Urthemen, die sich die Gewerkschaften auf die Fahnen geschrieben haben - Solidarität, Gerechtigkeit, angstfreie Lebensverhältnisse, materielle Sicherheit, Bildung -, haben sich doch keineswegs erledigt. Allerdings erfordern sie heute aktuell andere Antworten als früher.
Was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich? Ich werde immer mal wieder - das muss mit meiner Rolle oder mit meinem Amt zu tun haben - gefragt, wie meine Antwort auf eine solche fundamentale Frage ist. Ich gebe immer zwei Antworten. Die erste lautet: Ich möchte in einer Gesellschaft leben, und ich arbeite für eine Gesellschaft, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können.
Denn wir sind verschieden nach Herkunft, nach Überzeugung, nach Hautfarbe, nach Leistungsfähigkeit. Und damit hat die zweite Antwort auf die Frage zu tun: Ich möchte eine Gesellschaft, in der wir Menschen nicht reduziert werden auf unsere beiden ökonomischen Rollen, mit denen wir auf dem Markt vorkommen, nämlich den ökonomischen Rollen als Konsument und Produzent. Wir sind ja mehr als dies!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewerkschaften haben eine große Vergangenheit. Wie ihre Zukunft aussieht, liegt in ihrer Hand. Das erfordert einen Lernprozess, einen Prozess des Umdenkens, wobei ich zugestehe, dass nicht jeder Rat von außen, was dabei herauskommen soll, auch ein guter Rat ist. Dieser Prozess ist kompliziert und langwierig. Das ist bei Massenorganisationen eben so. Auch meine Partei, die SPD, kann davon ein Lied singen. Entscheidend ist, dass die Gewerkschaften aus der Defensive, die ihnen die Rollenzuweisung "Besitzstandswahrer" oder "Betonköpfe" verpasst hat, herauskommen und auf der Höhe der Zeit ihre Aufgaben wahrnehmen. Insofern ist eben jede schwierige Situation, jede Krise auch eine Chance. Sie beschleunigt, sie erzwingt die Diskussion und den Lernprozess.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, möglicherweise wird man auch ganz allgemein vom Jahr 2003 als von einem Jahr sprechen, in dem unser Land an einem Wendepunkt angekommen ist. Vom Mut, die Veränderungen vorzunehmen, die unser Land braucht, um wieder an die Spitze der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zu kommen, hat Gerhard Schröder im März dieses Jahres gesprochen. Seien wir ehrlich: Viele Probleme, die wir lösen müssen, sind nicht neu: hohe Arbeitslosigkeit, wegbrechende Steuereinnahmen, mangelnde Finanzausstattung der Kommunen, Einnahmedefizite bei den sozialen Sicherungssystemen, die Folgen des demografischen Wandels.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mehr als einmal der Mut und deshalb auch die Mehrheiten für wenn schon nicht weitreichende, dann wenigstens notwendige Veränderungen fehlten. Das reicht zurück bis weit in die Zeit von Helmut Kohl. Aber wir machen wieder eine aus der Geschichte altvertraute Erfahrung: Verdrängte Probleme holen einen unerbittlich ein! Wir stehen inzwischen nicht mehr vor der Wahl, die Probleme entweder heute oder lieber erst morgen zu lösen. Die Alternative heißt: Entweder wir modernisieren unsere soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes. Das können wir miteinander nicht wollen.
Die Gewerkschaften haben das große Verdienst, unsere Gesellschaft zu einer sozialen, solidarischen Gesellschaft mitgestaltet zu haben. Jetzt haben sie auch die Aufgabe, dafür mit zu sorgen, dass auch in Zukunft eine soziale und solidarische Gesellschaft möglich ist. Da stehen wir erst am Anfang. Auf der Oberfläche führen wir einen Streit um Kostenumverteilung im sozialen Bereich. Die Frage, ob es dabei gerecht zugeht, steht verständlicherweise im Mittelpunkt. Das ist legitim. Aber es berührt noch längst nicht den Kern des Problems. Was sind eigentlich die Voraussetzungen für künftigen Wohlstand, den wir gerecht, aber vor allem ausreichend schaffen wollen?
Lange Zeit war die Gerechtigkeitsfrage primär eine Frage von leistungsgerechter Teilhabe der am Produktionsprozess Beteiligten. Dass sich das nicht erledigt hat, muss ich hier wohl nicht betonen. Diese "alte" Gerechtigkeitsfrage wird aber von einer neuen, akuten überlagert: der dauerhafte Ausschluss von immer größeren Menschengruppen aus dem produktiven Kern der Gesellschaft. Diese Entwicklung bedeutet nicht nur für die vom Ausschluss Betroffenen eine absolute Ungerechtigkeit, sie wirkt auch auf die im aktiven Arbeitsleben Stehenden zurück, einerseits im Sinne der Intensivierung und Beschleunigung der Anforderungen an die Aktiven, andererseits im Sinne der Entfremdung von der Lage der Ausgeschiedenen. Die Spaltung der Gesellschaft zwischen Arbeit Habenden und Arbeitslosen vertieft sich. Oder empfindet ihr das nicht so?
Der Gewöhnungsprozess, der stattfindet, die Bereitschaft zur solidarischen Unterstützung - das heißt Arbeitslosigkeit zu finanzieren - erreichen nämlich dort ihre Grenzen, wo dies den Lohn für geleistete Arbeit auf ein Niveau drückt, dass sich Arbeit nicht mehr lohnt. Ob nun soziale Umverteilung Arbeitsplätze kostet oder ob Dumpinglöhne auf die Einkommen regulär Beschäftigter drücken, die neue Gerechtigkeitsfrage drängt offensichtlich die alte Gerechtigkeitsfrage in den Hintergrund.
Ich stimme also denjenigen zu, die sagen, unser größtes Gerechtigkeitsproblem ist die Massenarbeitslosigkeit. Ich stimme auch der These zu, dass dies nicht auf dem Weg von mehr Umverteilungsgerechtigkeit - gemeint ist eine ausschließlich umverteilende Sozialpolitik - lösbar ist. Deswegen ist aber soziale Gerechtigkeit nicht etwa passé, sondern mehr denn je in dieser Zeit ein Thema. Das Thema soziale Gerechtigkeit ist im 21. Jahrhundert schon deshalb nicht passé, weil sich global, aber auch national die Schere bei Einkommen und Lebenschancen öffnet. Die Ungerechtigkeit nimmt nicht ab, sie nimmt zu.
Seit drei Jahrzehnten bleibt das gesamtwirtschaftliche Wachstum hinter den Produktivitätszuwächsen tendenziell zurück. Das heißt, bei abnehmender allgemeiner Teilhabe am Wachstum sinken die Nachfrage und rückwirkend natürlich das Arbeitsvolumen, das gebraucht wird. Die inzwischen erreichte strukturelle Arbeitslosigkeit wird deshalb als soziale Frage unweigerlich zu einer Repolitisierung der Gerechtigkeitsfrage führen. Das sage ich allen, auch in meiner eigenen Partei, die davon etwas ungenau reden, dass Verteilungsgerechtigkeit weniger wichtig würde. Ich glaube, in Zeiten der Knappheit wird Verteilungsgerechtigkeit wichtiger. Sie einzulösen, das wird schwieriger.
Die Sozialdemokratie und auch die Gewerkschaftsbewegung verstanden übrigens unter sozialer Gerechtigkeit niemals nur ausgleichende Umverteilung. Der Ausgleich von unverschuldeten Leistungsdefiziten oder Benachteiligungen gehört selbstverständlich zu einem zivilisatorischen Standard, den auch der liberale Wohlfahrtsstaat mehr oder weniger voraussetzt.
Der Sozialstaat unserer Prägung definiert sich nicht so sehr über den materiellen Ausgleich, sondern über die soziale Gleichstellung der Menschen. Das heißt: Er kümmert sich um die Bedingungen dafür, faire und freie Arbeitsbeziehungen in der Gesellschaft einzugehen, damit jeder für sich selbst sorgen kann. Weil wir in der Arbeit die wesentliche Arbeits- und Wertbeziehung zwischen den Menschen sehen, die Würde des Menschen, den Schutz vor Gewalt, vor Willkür und unverschuldete Armut vorausgesetzt, ist der Tatbestand der sozialen Ausgrenzung aus der Arbeitsgesellschaft die hervorstechende Form der sozialen Ungerechtigkeit.
Der Kern von Gerechtigkeitspolitik sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher, er liegt traditionell in der Organisation der Arbeitsgesellschaft. Deshalb gehört zur Lösung der neuen Gerechtigkeitsfrage vorrangig die Verbesserung der Zugangschancen zur Erwerbsarbeit, z. B. über einen Ausbau des Bildungssystems. Aktive Bildungspolitik ist zwar kein Ersatz, aber eine wesentliche Bedingung für eine moderne Gerechtigkeitspolitik. Sie verbessert die Chancen für Beschäftigung, aber sie ändert natürlich nicht die Regeln. Deshalb gehört zu dieser Politik weiterhin die Gewährleistung eines funktionsfähigen sozialen Netzes.
Die modernen flexiblen Berufsbilder, Arbeitsbiographien und Lebensmodelle, die so genannte Individualisierung, bedeuten durchaus einen Fortschritt an gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Für die Mehrheit ist dieses allerdings nur dann lebbar, wenn soziale Sicherung Mobilität und wenn bessere Bildung Flexibilität möglich machen. Gerecht ist folglich, was neue Chancen ermöglicht, was der Gleichstellung der Geschlechter dient, die Kombination von Beruf und Kindererziehung ermöglicht, was verhindert, dass soziale Herkunft den Ausschluss von Bildung, Ausbildung und somit von Erwerbschancen verursacht.
Die jüngste OECD-Studie - Sie werden davon gelesen haben - hat den Finger in die Wunde gelegt. Bildungsmängel schwächen auch die Wirtschaft und damit den Wohlstand. Wenn im OECD-Durchschnitt 30 % eines Jahrgangs einen Studienabschluss haben, in Deutschland aber nur 19 %, zeigt uns das genau den Nachholbedarf an, den wir haben.
Übrigens - an dieser Stelle muss man das erwähnen -: Arbeiterbewegung und Bildungsarbeit sind einmal fast identisch gewesen. Und bei der NGG nehme ich dieses Beispiel: Von Zigarrendrehern wird überliefert, sie hätten sich schon in der Zeit um 1848 während ihrer Arbeit von einem Vorleser, dessen Lohn sie mit erwirtschafteten, aus Zeitungen und Büchern vorlesen lassen. Kein Wunder, dass Zigarrenfabriken Zentren des gewerkschaftlichen Kampfes und sozialdemokratischer Agitation waren. Indem ich daran erinnere, sage ich: Ich wünsche mir deutlich mehr bildungspolitisches Engagement von den Gewerkschaften.
Denn es ist doch ein Missverhältnis, wenn ich in der bildungspolitischen Debatte die Stimmen der Arbeitgeber viel deutlicher zu hören bekomme als die von Gewerkschaften. Das muss nicht so bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch für das 21. Jahrhundert gilt: Gerecht ist alles, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben in der Gesellschaft frei zu gestalten. Nichts widerlegt die alte Erfahrung, dass Freiheit ohne Solidarität nicht funktionieren kann und dass gleiche Freiheit erst wirkliche Gerechtigkeit ist.
Angesichts der wirtschaftlichen Probleme - wir aben in diesem Lande seit drei Jahren kein Wachstum mehr -, angesichts hoher Arbeitslosigkeit, angesichts des demographischen Wandels und einer dramatischen Finanzsituation in den Staats- und Sozialkassen, und ich füge hier in Magdeburg hinzu: angesichts der noch nicht ganz bewältigten - wir sind erst in der Mitte des Weges - Probleme des Aufbaus im Osten Deutschlands, angesichts all dessen können wir nicht einfach am Status quo festhalten. Das wäre keine Gerechtigkeitspolitik.
Wenn es zutrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der deutsche Sozialstaat weltweit die größten Anstrengungen unternimmt, um die Folgen von Arbeitslosigkeit zu finanzieren, dann gehört das Ergebnis zu den erfolglosesten Anstrengungen, die je unternommen wurden, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Mit sozialer Absicherung allein, die - das soll nicht vergessen werden - ein wichtiges Instrument zur Abwehr der ökonomischen Folgen konjunktureller Arbeitslosigkeit bleibt, ist es jedenfalls nicht getan.
Welche Instrumente haben wir nun? Ich will zwei Punkte hervorheben.
Richtig ist generell: Der Versuch, allein mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik Beschäftigung zu fördern, reicht nicht aus. Größere Mobilität, Flexibilität usw. schaffen nur dann mehr Beschäftigung, wenn es auch neue Märkte und die Nachfrage nach neuen Produkten gibt. Das erfordert Innovationen, mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung, einen entsprechenden Unternehmergeist und Gründermut. Der Staat kann mithelfen, die Risiken zu mindern, Vorleistungen in Bildung und Forschung finanzieren.
Unsere Forderung an die Wirtschaft, heute eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen bereitzustellen, sie gehört genau in diesen Zusammenhang. Die jungen Menschen, denen heute berufliche Bildung verweigert wird, sind die Arbeitslosen von Morgen. Es handelt sich dabei aber auch um unterlassene Investitionen in das Arbeitsvermögen unserer Gesellschaft, das so genannte Humankapital.
Immer weniger Unternehmen sind einerseits bereit, junge Leute auszubilden, aber immer mehr Unternehmen beklagen auf der anderen Seite, dass sie schon jetzt keine qualifizierten Fachkräfte finden.
Die Wirtschaft selbst ist in hohem Maße dafür verantwortlich. Das räumen ihre Verbandsfunktionäre auch ein. Trotzdem fehlen in diesem Jahr bisher wieder einige Zehntausend Ausbildungsplätze - und das ist ein Skandal!
Es ist immer gut, wenn ein Problem ohne Zwang, ohne Anwendung von Zwangsmitteln gelöst werden kann. Das ist immer der bessere Weg. Aber ich füge hinzu: Wenn eine Ausbildungsplatzabgabe keine Anreize dafür schaffen sollte, diesen Trend umzukehren, dann hieße die Folge Verstaatlichung der beruflichen Bildung. Und dafür wäre dann nicht etwa eine linke Regierung verantwortlich, sondern diejenigen, die täglich den Rückzug des Staates predigen.
Auf jeden Fall wäre das die schlechtere Lösung, weil - das wissen wir doch - die Qualifikation im Unternehmen immer besser ist und immer noch wechselseitige Bindung und Verantwortung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmer schafft.
Ein zweiter Punkt: Die zeitweilig oder von manchen gänzlich bestrittene staatliche Verantwortung, politische Verantwortung für die Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, sie muss endlich von der nationalen auf die europäischen Ebene gebracht werden. Eine wirksame makroökonomische Steuerung braucht eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Staaten des Euro-Raumes. Denn - das ist eine einfache Beobachtung -: Nachfrageimpulse durch öffentliche Investitionen oder Steuersenkungen innerhalb eines Landes ziehen bei offenen nationalen Märkten die Gefahr der künstlichen Importfinanzierung nach sich. Auf europäischem Niveau erreichen wir aber einen binnenwirtschaftlichen Anteil am Markt von 90 %, also auch einen entsprechenden Wirkungsgrad ökonomischer Impulse. Die gemeinsame industriepolitische Initiative von Gerhard Schröder und Jacques Chirac könnte sich hier als ein Durchbruch erweisen.
Der mit der Euro-Einführung begründete europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, er muss auf seine zweite Bestimmung hin, nämlich Wachstum und damit Beschäftigung zu ermöglichen, weiterentwickelt werden. Es ist ja in der öffentlichen Auseinandersetzung immer nur vom Stabilitätspakt die Rede. Und Stabilität ist gewiss ein wichtiges Ziel, und Sparen, also Geld so vernünftig und effektiv wie möglich auszugeben ist selbstverständlich ein richtiges Ziel. Aber in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Stagnation ist doch das andere in diesem Pakt vereinbarte gleichberechtigte Ziel nicht weniger wichtig, sondern viel wichtiger.
Deswegen sage ich: Es reicht nicht aus, dass die für den Euro-Raum bislang einzige Institution mit so genannter makroökonomischer Kompetenz, die EZB, die Europäische Zentralbank, nur auf ein Ziel festgelegt ist, nämlich darauf, die Geldwertstabilität zu sichern. Eine koordinierte Finanz- und Wirtschaftspolitik im Euro-Raum könnte neue Spielräume für kurzfristige konjunkturelle Steuerung und langfristige Investitionspolitiken im Rahmen des Paktes schaffen. Wenn die Europäische Union für ihre Bürger einen Sinn haben soll, muss sie auch für Wachstum sorgen und eine entsprechende Politik in den eigenen Ländern vereinbaren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa kann den Wettbewerb zwischen neoliberaler Revolution und sozialer Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, bestehen, der die politische Auseinandersetzung am Beginn des 21. Jahrhunderts prägt. Dabei geht es vor allem um den Sozialstaat, den ich in ungebrochenem Pathos die größte Kulturleistung Europas nenne. Der Sozialstaat unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von anderen Kontinenten. Manche haben ihn gelegentlich sogar als den dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus verstanden. Der moderne Sozialstaat ist aber ein Teilhabestaat. Die Bereitschaft der Mehrheit der Bürger, zur Finanzierung der kollektiven Leistungen beizutragen, beruht auf dem Prinzip "Leistung und Gegenleistung". Soziale Absicherung ist nur ein Zweck dieses Bündnisses. Damit jeder sein Leben selbständig und in Würde leben kann, setzt der moderne Sozialstaat nicht am Ende bei der Existenzsicherung an, sondern bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die ökonomische Funktion des Sozialstaats - und um die geht es mir - beschränkt sich nicht auf die Abwehr von Krisenphänomenen des Konjunkturzyklus, hätte also gewissermaßen nur die Aufgabe, die Schmerzen und die Opfer immer ein bisschen zu mildern. Nein, die ökonomische Funktion des Sozialstaats spielt vor allem in der Förderung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens eine Rolle, also in der Förderung eines hohen Bildungs- und Gesundheitsniveaus, von Wissenschaft und Forschung, von Verkehr und Umwelt. Das von den Bürgern durch Beiträge gebildete Sozialeigentum und die steuerfinanzierten öffentlichen Güter, die ich eben genannt habe, dienen letztlich der Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen wie des gesamten Gemeinwesens und damit dem Wohlstand der Gesellschaft.
Und schließlich ist der moderne Sozialstaat europäischer Prägung eine Institution der Freiheit, gewissermaßen die Geschäftsgrundlage der Demokratie. Durch seine Staatszugehörigkeit erwirbt der Bürger individuelle Freiheitsrechte und soziale Grundrechte, die ihn zur Selbständigkeit befähigen, aber eben auch finanziell und politisch in die Mitverantwortung nehmen.
Nun aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekommt der Sozialstaat zunehmend selbst ein Gerechtigkeitsproblem. Ursprünglich hat er die Lasten der Risiken von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit auf viele Schultern solidarisch verteilt und damit erträglich gemacht. Wenn nun aber immer weniger Menschen diese Mittel erarbeiten müssen und immer mehr Menschen auf die Solidarität angewiesen sind, lässt sich das Prinzip Leistung für eine angemessene Gegenleistung immer schwerer durchhalten. Gelegentlich sollen ja selbst Gewerkschafter, die sich unermüdlich für die solidarische Gesellschaft einsetzen, beim Lesen der Lohnabrechnung etwas weniger Abzüge für wünschenswert gehalten haben, und sei es nur für einen kurzen Moment - der Schwäche.
Abgesehen von diesem subjektiven Gesichtspunkt - die Bindung der meisten Sozialkosten an die Arbeitseinkommen begünstigt verschiedene Ausweichstrategien von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern zur Beitragsvermeidung. Das reicht von der Verlagerung ganzer Produktionszweige in so genannte Niedriglohn- oder Niedrigsozialkostenländer bis hin zur Schwarzarbeit.
Die sich verändernde Altersstruktur der Bevölkerung tut das Ihre, dass die für Rente, Kranken- und Pflegeversicherung umzulegenden Beiträge wachsen. Deshalb führt kein Weg an der Frage vorbei: Was können, was müssen wir tun, um den Sozialstaat funktionsfähig und bezahlbar zu erhalten? Im Kern gibt es nur folgende Möglichkeiten:
Erstens - mit diesem Ziel ist meine Partei angetreten; darüber streitet sie -: Durch Reformen der Systeme selbst ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen und damit bei gleicher Versorgung die Kosten zu begrenzen. Dabei sind offenbar - Beispiel: Gesundheitswesen - die größten Hindernisse zu überwinden. Es wird noch mehrerer Anläufe bedürfen, um das System von Kopf bis Fuß zu reformieren.
Zweitens - das ist die andere Möglichkeit -: Man muss die Leistungen der Sicherungssysteme auf das Notwendigste reduzieren bzw. sie weitgehend privatisieren. Blicken Sie einmal in die Vorschläge der Herzog-Kommission.
Drittens: Man muss die Beiträge weiter anheben. Das kann keiner schon aus ökonomischen Gründen wirklich wollen.
Tatsächlich bemüht sich die Bundesregierung um eine vernünftige Mischung mit dem Ziel, Effizienz zu steigern und die Beiträge wenigstens zu begrenzen, wenn nicht schon zu senken. Dabei kann - und aus gewerkschaftlicher Sicht muss; ich sage das mit vollem Verständnis - man über jede Einzelheit diskutieren und streiten. Aber im Grunde lautet unter den gegebenen politischen Verhältnissen - was immer auch die konkreten, durch demokratische Wahlen entstandenen Mehrheitsverhältnisse einschließt - die Alternative, eine solche Mischung in der Art der Agenda 2010 zu versuchen, oder zu scheitern und die sozialen Sicherungssysteme insgesamt zu gefährden. Das kann nicht im gewerkschaftlichen Interesse liegen. Ich füge hinzu: Meine Partei würde das auch nicht überstehen.
Der Sozialstaat steht also nicht zur Disposition. Es geht darum, seine Funktionsfähigkeit den veränderten demografischen und wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen und eine neue Balance von Beiträgen und Leistungen zu finden.
Die Einsicht, für die ich hier werbe, hat viele Gegner und Feinde. Das sind diejenigen, denen das Ganze noch nicht weit genug geht, weil sie hofften, das System insgesamt kippen zu können, und das sind andere, die erwartet haben, dass wir das neue Ufer und ein besseres System in einem Schritt schafften. Wirklich verständlich ist der Unmut derjenigen, denen Mehrbelastungen zugemutet werden. Dieser Unmut wird umso stärker, wenn ich es richtig beobachte, wenn Manager, die Millionen verdienen, die Zulagen für Sonntags- und Nachtarbeit in Frage stellen.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn sich Vorstände die Bezüge auf ein - wie heißt das? - internationales Niveau anheben, während sie Lohnforderungen zurückweisen.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn im Management noch bei erwiesener Erfolglosigkeit unermessliche Ablösesummen gezahlt werden, damit Vorstände endlich gehen, während gleichzeitig der Kündigungsschutz in Frage gestellt wird.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn ständig der Ruf nach Niedriglohnsektoren ertönt, obwohl es sie längst gibt. Wenn im offenen Widerspruch zur Massenarbeitslosigkeit die Forderung nach Arbeitszeitverlängerungen erhoben wird, dann vermag ich dem nicht mehr zu folgen.
Ich bin lernfähig, oder ich versuche, es zu sein. Aber ich verstehe nicht - ich habe es bisher nicht lernen können -, dass angesichts von weit über 4 Millionen Arbeitslosen, die Arbeitslosen, die arbeiten wollen - jedenfalls fast alle von ihnen -, andere sagen, diejenigen, die Arbeit haben, müssten mehr arbeiten.
Ich verstehe nicht, wie dies als eine allgemeine Regel gelten soll.
Ich weiß, dass die allgemeine Senkung der Arbeitszeit auch keine Lösung ist. Aber ebenso falsch ist die Forderung, dass wir alle in Deutschland mehr arbeiten sollten. Ja, bitte, dann aber die Arbeitslosen an erster Stelle.
Es gibt ihn also doch, diesen Klassenkampf von oben. Aber trotzdem, obwohl uns das unendlich aufregt und ärgert, ändert das nichts an der schwierigen Aufgabe, den Sozialstaat für die Zukunft zu bewahren. Wenn er für die Herausforderung des 21. Jahrhunderts umgebaut werden muss, dann geht es um einen Staat, der mehr in die Zukunft investiert, in die Fähigkeit der Menschen, die absehbaren und weit reichenden Veränderungen bewältigen zu können.
Dass sich die Dinge verändern und dass man auf Veränderungen reagieren muss, ist keine neue Erfahrung. In ihrer langen Geschichte waren ausgerechnet die Gewerkschaften immer wieder Schrittmacher, die neuen Ideen zum Durchbruch verholfen haben. Die Gewerkschaften haben bei der Tarif- und Arbeitsmarktpolitik eine weitaus reformfreudigere Rolle als ihnen nachgesagt wird. Auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Sozialstaatsreformen wünsche ich mir genau dies.
In seinem letzten Grußwort an die Sozialistische Internationale hat Willy Brandt geschrieben - Sie kennen diesen Satz -:
"Besinnt euch darauf, dass jede Zeit
ihre eigenen Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein
hat, wenn Gutes bewirkt werden soll."
Willy Brandt hat Recht, darauf kommt es auch jetzt wieder an.In diesem Sinne wünsche ich einen erfolgreichen 14. Gewerkschaftstag.
Quelle:
http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2003/025