Ob im Umfeld des konservativen Widerstandes gegen Hitler oder unter liberalen Vordenkern wie Eugen Kogon oder Karl Jaspers - die Erfahrungen aus Weimarer Zeiten hatten sich zu einem Ressentiment gegen "Massendemokratie" und "Massenparteien" verdichtet und begünstigten eine Renaissance autoritärer, teilweise ständepolitischer Vorstellungen. Nicht zuletzt daran scheiterten die Westalliierten, allen voran die Amerikaner, als sie jenseits der Entwaffnung der Wehrmacht und des Verbots nazistischer Organisationen eine Gesellschaftsreform an Haupt und Gliedern durchsetzen wollten. Die Versuche zur Entflechtung der Wirtschaft liefen ebenso ins Leere wie die Bemühungen um ein neues Schul- und Erziehungssystem oder zur Abschaffung des Berufsbeamtentums - um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Wie es schien, waren die Verbindungen zum demokratischen Erbe der westlichen Moderne gekappt.
Dass entgegen damaligen Erwartungen und Befürchtungen binnen weniger Jahrzehnte im Westen Deutschlands eine aus eigenen republikanischen Traditionen und westlichen Vorbildern verwobene Staats- und Gesellschaftsordnung aufgebaut werden konnte, gehört zu den erstaunlichsten Kapiteln der europäischen Nachkriegsgeschichte. Historiker werden noch geraume Zeit über die Ursachen und den Verlauf dieser Entwicklung streiten. Unbestritten ist indes, dass es sich nicht um eine linear verlaufende Erfolgsgeschichte, sondern eher um das Zusammentreffen kaum vorhersehbarer und noch weniger planbarer Umstände handelt. Drei Faktoren verdienen dabei besondere Erwähnung: Die abwartende Haltung der Westalliierten, der Kalte Krieg und die "kulturelle Globalisierung". In ihrem wechselvollen Zusammenspiel setzten sie jene synergetische Dynamik frei, derer es zur Durchsetzung einer belastungsfähigen Demokratie bedurfte.
Zum Ersten: Ihr Unwille oder die Unfähigkeit, sich auf eine westlich inspirierte Staats- und Gesellschaftsreform einzulassen, öffnete den Deutschen das Tor zum Westen. Unter den Bedingungen der frühen Nachkriegszeit hatten die Westalliierten die Wahl zwischen einer oktroyierten oder aufgeschobenen Demokratisierung. Bekanntlich entschied man sich für Letzteres und übernahm - allen ursprünglichen Intentionen zum Trotz - vier Jahre lang die gemeinhin einer gewählten Regierung überantworteten Aufgaben. In historischer Perspektive erscheint dieser Schritt als genialer Schachzug. Indem die Westmächte sich bis 1949 als Blitzableiter zur Verfügung stellten, alle Beschwernisse, Misserfolge und Enttäuschungen auf ihr Konto nahmen, dämpften sie das Ressentiment gegen eine parlamentarische Demokratie und hielten insbesondere jenen deutschen Eliten den Rücken frei, die für künftige Führungsaufgaben in Frage kamen. Die in der frühen Nachkriegszeit unvermeidlichen wirtschaftlichen Turbulenzen konnten sich folglich nicht zu einer Belastung der in Aussicht genommenen neuen Ordnung auswachsen. Anders als zu Beginn der Weimarer Republik blieben die deutschen Repräsentanten des Neuanfangs vom Odium der Inkompetenz und Illegitimität verschont.
Letzten Endes verdankte sich die Stabilität der frühen Jahre einer aus ökonomischer Not und reformpolitischem Stillstand geborenen Politik der Improvisation. Dafür steht der Marshall-Plan - eine Hilfe zur Selbsthilfe, deren Dynamik selbst seine Schöpfer nicht für möglich gehalten hätten. Als Mittel zur Ankurbelung der Wirtschaft gedacht, entfaltete er seine eigentliche Wirkung jenseits der Ökonomie. Mit der Rücken-
deckung aus den USA stellte sich jener Optimismus ein, der zur Stabilisierung demokratischer Strukturen unabdingbar ist - zumal in einem Umfeld, in dem autoritäre politische Visionen auch und nicht zuletzt mit der Furcht vor einem Rückfall in ökonomischen Chaos begründet wurden. Dem Trauma der frühen Weimarer Zeit mit dem Versprechen dauerhaft verlässlicher Hilfe begegnet zu sein, erscheint im Rückblick als eigentliche Leistung des Marshall-Plans. Die Skepsis mancher Zeitgenossen gerät deshalb aber nicht zur historischen Fußnote. Denn dass eine "Politik der langen Leine" zum Ferment deutscher Westbindungen werden würde, war damals keineswegs ausgemacht. Und in der Tat waren zusätzliche Impulse vonnöten.
Zum Zweiten: Die Turbulenzen des Kalten Krieges verschafften der Bundesrepublik jene Ruhe- und Atempause, derer sie für eine Stabilisierung des demokratischen Neubeginns bedurfte. Zwar lebten der Westen und Osten Deutschlands seit den späten 1940er- Jahren nicht im Windschatten der Geschichte. Im Gegenteil: Die wiederholten Krisen um Berlin rückten das geteilte Land phasenweise ins Zentrum der Blockkonfrontation. Aber auf lange Sicht wurde die Geschichte der Bundesrepublik nicht von diesen Aufgeregtheiten, sondern von geräuschlosen Prozessen im Hintergrund geprägt. In anderen Worten: Vom stummen Wirken des Grundsatzes, dass Sicherheit nur um den Preis der Selbstdisziplinierung zu bekommen und an die Bereitschaft gekoppelt war, die Westalliierten als "steinernen Gast" bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu akzeptieren. Stets zugegen, wenn auch nicht immer sichtbar, standen sie einem erneuerten Nationalismus im Weg und ließen den diversen Spielarten eines "deutschen Sonderwegs" noch nicht einmal Hintertüren offen. Damit lässt sich, zumindest zu einem guten Teil, erklären, weshalb die Bundesrepublik an der Übernahme zahlreicher Kader aus der Nazizeit keinen substantiellen Schaden nahm. Oder dass die Versuche, eine am Modell "Rapallo" orientierte Schaukelpolitik zwischen Ost und West zu betreiben, Episode blieben. Je länger der Kalte Krieg dauerte, desto positiver schlugen diese Effekte zu Buche. Die dauerhafte Einbindung in das weit verzweigte institutionelle Netzwerk der westlichen Allianz kann und sollte auch als Prozess verstanden werden, in dessen Verlauf die Selbstdisziplinierung in den Hintergrund trat und vom Erwerb eines neuen politischen Selbstbildes abgelöst wurde. Genauer gesagt, von der prinzipiellen Bereitschaft, Macht und Souveränität zu teilen und auch nach Außen jenen Grundsätzen Rechnung zu tragen, die das innere Gefüge einer Demokratie zusammenhalten. Dass diese Zivilisierung des politischen Denkens im deutschen Fall an eine Ära weltpolitischer Militarisierung gekoppelt war, gehört zu den Ironien deutscher Geschichte - und taucht den Begriff "Krisengewinnler" in ein ungewohnt positives Licht.
Zum Dritten: Die Politik der Westbindungen war im deutschen Fall nicht zuletzt erfolgreich, weil sie mit einer "unpolitischen Produktivkraft" Hand in Hand ging. Gemeint sind die Effekte einer Entwicklung, die wahlweise als "kulturelle Globalisierung" oder "Amerikanisierung der Kultur" beschrieben wird. Die Etikettierung ist zweitrangig, weil in beiden Fällen ein- und dasselbe Phänomen beschrieben wird: Die kulturelle Öffnung Deutschlands für Angebote aus dem Westen, die "Ideologisches durch Habhaftes" (Ralph Dahrendorf) ersetzten und einen Weg aus der deutschtümelnden Einöde wiesen. Wie wir aus Untersuchungen zur Populärkultur wissen, ging es dabei nicht um die vordergründige Adaption einer fremden Kultur. Vielmehr wurde ein langwieriger und oft widersprüchlicher Prozess angestoßen, in dessen Verlauf eine Neukonfiguration von Werten und Einstellungen zu beobachten ist - zugunsten kultureller Pluralität und Differenz, abweichenden Verhaltens und sinnlicher Individualität, Gelassenheit und Toleranz. Dass die Herausforderungen durch die außerparlamentarische Opposition nicht zu einer Zerrüttung, sondern im Gegenteil zu einer Festigung der Demokratie führten, hängt auch mit diesen Umbrüchen seit den frühen 1950er- Jahren zusammen. Und nicht zuletzt mit der Tatsache, dass die "Okkupation der Phantasie" nicht auf die Rezeption westlicher Musik oder Literatur begrenzt blieb. Die Austauschprogramme für Generationen von Schülern und Akademikern oder die Adaption eines neuen Führungsstils in Wirtschaftsunternehmen hinterließen nicht minder nachhaltige Spuren. So gesehen, handelt die "kulturelle Öffnung" der Bundesrepublik von der Ausbildung zivilgesellschaftlicher Mentalitäten auf einem Feld jenseits der Politik.
Die Ausweitung dieser Impulse auf den Kernbereich des Politischen und mit ihr die Herausbildung einer Zivilgesellschaft bildet die Essenz deutscher "Westbindungen". Niemals zuvor hat es in Deutschland eine derartige Aufwertung des politischen Bürgers, des Citoyen, gegenüber dem Staat gegeben. Zu Recht ist die Rede von einer mit hundertjähriger Verspätung vollzogenen Emanzipation des Untertanen zum Bürger und von der Einsicht, dass Freiheit und Recht nicht etwas von Staats wegen Gewährtes sind, sondern ein Kraft des Naturrechts anvertrautes Gut, das im Zweifelsfall gegen den Staat behauptet werden muss. Zur Hinterlist demokratischer Entwicklungen gehört, dass dergleichen nicht plan- und wenig steuerbar und daher auch nicht als "ausländischer Import" vorstellbar ist. Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich Klio eher für das Zufällige und Unwägbare als für das "Grand Design".
Professor Bernd Greiner leitet den Arbeitsbereich "Theorie und
Geschichte der Gewalt" am Hamburger Institut für
Sozialforschung.