Schließlich ist die 68er-Bewegung auch mit dem inzwischen eingetretenen historischen Abstand nicht einfach auf einen Nenner zu bringen. Ursprünglich stand sie für ein ganzes Bündel, zum Teil höchst unterschiedlicher Zielsetzungen. Protestiert wurde im allgemeinen, um die Hochschulen zu reformieren, die Notstandsgesetze zu verhindern, die rechtsradikale NPD vom Einzug in den Bundestag abzuhalten und vor allem um dem Vietnamkrieg ein Ende zu bereiten. Während ein Teil der Protestierenden aufs Ganze ging und davon überzeugt war, dass all diese Konflikte nur in der Überwindung des bestehenden, als ungerecht und unglaubwürdig angesehenen Sys-tems zu lösen seien, beschied sich die überwiegende Mehrheit mit sehr viel bescheideneren Forderungen und beteiligte sich in den Jahren darauf vor allem an den Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition. Es gab - wie in solchen Umbruchsituationen nicht unüblich - Maximalisten und es gab Gradualisten.
Im Unterschied zu den meisten anderen vergleichbaren Ländern, in denen sich vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges ähnliche Protestbewegungen abspielten, existierte in der Bundesrepublik jedoch ein tiefsitzendes Vertrauensdefizit. Mit der NS-Vergangenheit gab es einen historischen Resonanzboden, der alles in Staat und Politik einem grundsätzlichen Zweifel aussetzte - Institutionen ebenso wie Einzelpersonen: Politiker und Minister, Banker und Fabrikanten, Richter und Professoren, Mediziner und Kulturschaffende - sie alle standen unter Verdacht. Das Misstrauen der Jüngeren gegenüber den Älteren war so groß, dass kaum noch ein unbefangenes Verhältnis gegenüber Staat und Gesellschaft möglich zu sein schien.
Bereits im Sommer 1966 hatte es deshalb in einem in West-Berlin verbreiteten Flugblatt geheißen: "Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde, machen wir endlich eine richtige Entnazifizierung!" Aus der zwanghaften Vorstellung heraus, dass sich die Eliten in Staat und Politik, Industrie und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ausschließlich aus Nazis rekrutiert hätten, wurde die in der Tat nur unzureichend erfolgte Entnazifizierung angeprangert und nun als ein nachholendes Generationenprojekt propagiert: "Bereiten wir den Aufstand gegen die Nazi-Generation vor!" Unter dieser Parole standen die Zeichen auf Sturm.
Nicht zu leugnen war, dass nicht weniger als anderthalb Jahrzehnte vergehen mussten, bis eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begann. Erst in den Reaktionen auf den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 und nicht zuletzt auf die antisemitische Welle um die Jahreswende 1959/60 machte sich eine gewisse Veränderung bemerkbar. Seitdem der SDS-Student Reinhard Strecker zur selben Zeit begann, in verschiedenen Städten mit der Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" gegen die Verjährung von NS-Verbrechen zu protestieren, gewann die Forderung nach gezielter Strafverfolgung von NS-Tätern langsam Fürsprecher.
Der Versuch, nun auch die Vergangenheit der eigenen Professoren auf den Prüftisch zu legen, führte zu Beginn der 60er-Jahre an einer Reihe von Universitäten zu Konflikten. Eine strikt abwehrende Haltung wie die des Hamburger Psychologen Peter R. Hofstätter, der 1963 noch die Überzeugung geäußert hatte, dass die geforderte "Vergangenheitsbewältigung" prinzipiell unlösbar sei, führte zu Monate andauernden Konflikten. Häufig waren Artikel in Studentenzeitungen wie den Tübinger "Notizen", in denen "braune Flecken" in der akademischen Karriere von Hochschullehrern nachgewiesen wurden, der Anlass für restriktive Maßnahmen gegenüber den Redakteuren.
Eine der Antworten bestand schließlich darin, dass liberale und konservative Ordinarien damit begannen, in Vorlesungen das Verhältnis einzelner Fakultäten zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten. So wurde an der Universität Tübingen im Wintersemester 1964/65 auf Druck von Studenten eine Ringvorlesung durchgeführt. Für den Herausgeber der Zeitschrift "Das Argument", Wolfgang Fritz Haug, boten solche Vorlesungen willkommenen Anlass, um bereits an den Sprachgewohnheiten eines Teils der Professorenschaft die Unfähigkeit zu einer angemessenen Auseinandersetzung nachzuweisen. Das Schlagwort vom "hilflosen Antifaschismus" war in aller Munde. Und die Schwierigkeiten der Justiz, NS-Verbrechen aufzudecken, von Ahndung ganz zu schweigen, schienen diese Unfähigkeit während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses vor aller Augen unter Beweis zu stellen.
Kein anderer Slogan aus der Zeit der 68er-Bewegung hat sich schließlich so sehr ins Gedächtnis eingegraben wie jener, der am 9. November 1967 im Auditorium maximum der Universität Hamburg den Teilnehmern einer Rektoratsfeier präsentiert wurde: "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren". Die Zielscheibe der Protestaktion waren ganz unmissverständlich jene Ordinarien, die unter dem Verdacht standen, dass sich unter ihren akademischen Traditionsgewändern der Ungeist des Nationalsozialismus verberge.
Auffällig an den Reaktionen verschiedener Zeitungen war jedoch, dass sie lediglich vom "Muff von 100 Jahren" schrieben und damit den Bezug zum "Tausendjährigen Reich" der Nazis tilgten. Was manche Journalisten nicht zu melden bereit waren, das wurde allerdings durch einen Zwischenfall um so nachhaltiger in Erinnerung gerufen. Der Direktor des Orientalischen Seminars, ein ehemaliges SA- und NSDAP-Mitglied, hatte den Protestierenden während der verunglückten Feierstunde kurzerhand hinterhergerufen: "Ihr gehört alle ins KZ!" Damit hatte der Professor in seinem Zorn dem Slogan der Protestierenden unfreiwillig eine Bestätigung nachgeliefert.
Der Antifaschismus der 68er-Bewegung war allerdings durch eine grundlegende Indifferenz beschädigt. Indem sie das NS-Regime der marxistisch-kommunistischen Terminologie folgend als "faschistisch" charakterisierte, wurde es zugleich verharmlost. Denn die qualitative Differenz zwischen dem italienischen Faschismus und dem Nationalsozialismus wurde eingeebnet. In einer solchen Kennzeichnung dominierte der Bewegungscharakter und damit die Entstehungsphase des NS-Regimes. Die Durchsetzung der SS gegenüber der SA, die Etablierung des NS-Staates und die Entfesselung einer Kriegswirtschaft wurden darin hingegen nicht zum Ausdruck gebracht und damit die Voraussetzungen für das, was den Nationalsozialismus in seiner unvergleichlichen Schreckgestalt ausgemacht hat - den Holocaust. Ein spezifisches Bewusstsein von der staatlich angeordneten, bürokratisch betriebenen und industriell vorangetriebenen Vernichtung der europäischen Juden blieb damit auf der Strecke.
Ein weiteres Problem kam hinzu - die logisch als zwingend unterstellte Verknüpfung des Antifaschismus mit dem Antikapitalismus. Das Diktum "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" stand wie ein unfreiwillig tragischer Portalspruch über der 68er-Bewegung. Das Zitat stammte von keinem geringeren als Max Hork-heimer - aus dessen unter dem Eindruck des gerade ausgebrochenen Zweiten Weltkriegs verfassten Aufsatz "Die Juden und Europa". Der Direktor des in die USA emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung meinte darin inständig davor warnen zu müssen, der Vergangenheit des liberalen Bürgertums nachzutrauern. Gegen den Faschismus könne man sich nicht auf jene Kräfte berufen, durch die er überhaupt erst habe siegen können. Dieses Misstrauen saß tief und es ist gewiss nicht ohne Berechtigung gewesen.
Die Behauptung jedoch, dass der Kapitalismus den Faschismus generiert habe, war in dieser Allgemeinheit mit Sicherheit verkehrt. Danach müsste schließlich in all jenen Ländern, in denen sich der Kapitalismus durchgesetzt hat, ein faschistisches System entstanden sein. Unter den Vorzeichen eines globalisierten Kapitalismus würden wir es heute mit nichts anderem als einer Art Weltfaschismus zu tun haben müssen. Dies jedoch ist ein Gespenst, das nur in den Alpträumen einiger zur Paranoia neigenden Intellektueller existiert.
Der Zivilisationstheoretiker Norbert Elias hat in seiner "Studie über die Deutschen" die 68er-Bewegung und aus ihrem Zerfall hervorgegangene terroristische Gruppierungen wie die RAF als Ausdruck eines Generationenkonflikts zu interpretieren versucht. In Reaktion auf die NS-Vergangenheit habe sich in der jüngeren Generation ein Affekt ausgebildet, den er als "negatives Nationalgefühl" bezeichnet. Nach zwei extrem nationalistischen Wellenbewegungen und zwei desaströsen Niederlagen sei nach 1945 eine Tendenz zur Selbststigmatisierung und zum Selbsthass übriggeblieben. Die ungebremste Verurteilung der Bundesrepublik durch die außerparlamentarische Bewegung hänge wahrscheinlich, so vermutete er, mit diesem "Ausfall eines positiven nationalen Wir-Bildes" zusammen.
Das klingt durchaus plausibel, ist andererseits jedoch nicht ganz unmissverständlich. Schließlich wurde von ihm ja nicht etwa in einer schlichten Gegenreaktion die Wiedergeburt eines neuen Nationalgefühls gefordert. Was Elias meinte, war die objektive Schwierigkeit, nach zwei verheerenden Kriegen und der Vernichtung der europäischen Juden eine Art innerer Balance gewinnen und so wieder ein positiv besetzbares Kollektivgefühl ausbilden zu können.
Der Abstand zwischen der Gegenwart und 1968 ist mittlerweile weitaus größer als jener zwischen 1968 und 1945. Insofern lagen den 68ern Nationalsozialismus und Krieg näher als der jungen Generation von heute die Revolte von 1968. Diese historisch gewachsene Distanz hat jedoch nicht allein zu Spannungen unter den nach 1945 folgenden Generationen geführt.
Die grundsätzliche Infragestellung des Bestehenden, die sich die 68er-Bewegung zur Aufgabe gemacht hatte, wird von den Jüngeren inzwischen jedoch zumeist als befremdlich angesehen. Dies muss nicht unbedingt das Zeichen einer gewachsenen Indifferenz sein. Vielleicht ist es Ausdruck einer neuen Selbstverständlichkeit im Umgang mit Politik, Staat und Gesellschaft. Der Abgrund, der sich früher der jüngeren Generation im Anblick der von Deutschen begangenen NS-Verbrechen öffnete, scheint heute nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in einstiger Schärfe zu existieren.
Dr. Wolfgang Kraushaar ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des
Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS).