Die russischen Wörter "Glasnost" und "Perestroika" sind seit ihrer Einführung in das politische Lexikon der damaligen Sowjetunion zu stehenden Begriffen in fast allen Sprachen der Welt geworden. Eine solche Karriere, eine derartige Präsenz im Bewusstsein der Menschen gelang bislang nur wenigen russischen Wörtern. Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme (Eric Hobsbawm), einer Epoche revolutionärer Verirrungen, standen russische Wörter als Bezeichnungen für gewaltsamen Umsturz, für Enthusiasmus und utopische Verheißung ebenso wie für brutale Unterdrückung und zynischen Massenmord: "Bolschewik", "Stalinist", "Politkommissar" "Lubjanka", "Gulag".
Sehr im Gegensatz dazu markierten die Schlagwörter "Glasnost" und "Perestroika" in der UdSSR den Versuch einer neuartigen, auf Dialog, Verständigung und Ausgleich orientierten Politik. Mit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei im Frühjahr 1985 begann in der Sowjetunion eine Phase radikalen Wandels in Politik und Ideologie, in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Die politische Ausgangslage für Gorbatschow war zwiespältig und verwirrend. Einerseits: Der Sowjetkommunismus war nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutenden Machtblock in der Welt geworden und hatte sich zum großen Gegenspieler der liberalen Gesellschaften des Westens entwickelt. Moskau gebot über ein beeindruckendes geostrategisches Imperium, das Sowjetreich verfügte über einen gewaltigen, den USA nahezu ebenbürtigen Militärapparat. Andererseits: Das sowjetische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem befand sich in einer offenkundigen Krise, die sich in dramatisch zunehmender Ineffizienz der Planwirtschaft, in einer ausgeprägten technologischen Innovationsschwäche, in Korruption und Amtsmissbrauch, in politischer Entfremdung und Zynismus zeigte. Außenpolitisch war diese Krise deutlich erkennbar an der strategischen Überdehnung des Sowjetimperiums, an dem aussichtslosen Krieg in Afghanistan und am ruinösen Rüstungswettlauf mit den USA. Verschärfend wirkten der Freiheitskampf der Solidarnosc-Gewerkschaft in Polen und die Liberalisierungspolitik in Ungarn. Hinzu kam die politische und kulturelle Wirkung von prominenten Intellektuellen, die als Dissidenten entweder inhaftiert waren beziehungsweise ins Ausland gedrängt wurden: Andrej Sacharow, Alexander Solschenizyn, Lew Kopelew, Joseph Brodsky.
Im Angesicht dieser für die vergreisten Machthaber im Kreml desolaten Lage erschien die Wahl des jungen, dynamischen, vor Optimismus sprühenden Michail Gorbatschow zum Generalsekretär als ein lichter Hoffnungsschimmer. Als gewählter Parteichef setzte Gorbatschow seinen ganzen persönlichen Charme, sein überragendes Kommunikationstalent, sein strahlendes Charisma ein, um eine Wende in der festgefahrenen Sowjetpolitik zu erreichen. Mit Perestroika und Glasnost wählte Gorbatschow radikale, ja revolutionäre Mittel, um die erstarrten Strukturen aufzubrechen und eine innen- und außenpolitische Neuorientierung durchzusetzen. Das erklärte Ziel bestand darin, das angeschlagene sowjetische Staatsschiff wieder flott zu machen und dem Sozialismus als Idee und Praxis neuen Glanz zu verleihen. Im politischen Programm von Michail Gorbatschow spielten daher Perestroika und Glasnost als zwei gegenseitig sich stützende und ergänzende Momente eine zentrale Rolle. Perestroika (wörtlich: Umbau, Umgestaltung) zielte auf die Überwindung der verkrusteten post-stalinistischen Strukturen in Parteiapparat, Regierung und Verwaltung, auf eine Belebung von Wirtschaft, Kultur und Kunst sowie auf eine Dynamisierung von Wissenschaft und Forschung. Das politische Sowjetsystem sollte in all seinen Bereichen offener, effizienter und bürgernäher werden und sich durch ein transparentes, auf Kandidatenwettbewerb gegründetes Wahlsystem demokratisch legitimieren können.
Glasnost meinte das offene Aussprechen, das öffentliche Verhandeln gesellschaftlicher Problemlagen. Glasnost zielte auf politische Transparenz, auf die Schaffung einer bis dahin unbekannten demokratischen Diskussionskultur, in der öffentliche Analyse- und Kritikfähigkeit, Bürgersinn und aktive Partizipation erst gedeihen können. Gorbatschow wurde am Beginn seiner Amtszeit von der Bevölkerung wie eine Rettergestalt enthusiastisch begrüßt. Er erwies sich als ein wahrer Meister der politischen Kommunikation; auf seinen Reisen durch das weite Land gelang es ihm überzeugend, eine Atmosphäre spontaner Freude, offener Sympathie und aufrichtiger Übereinstimmung zu erzeugen. Allerdings: Misstrauen und verdeckter Widerstand waren von Anfang an Begleiter seiner Reformpolitik: Wurde Gorbatschow von der altstalinistischen Nomenklatura anfangs lediglich misstrauisch beargwöhnt, so schlug die Ablehnung später in offene Anfeindung von seiten orthodoxer Hardliner um, die in seiner Politik einen Ausverkauf des Sozialismus sahen.
Im Westen wurden Gorbatschow und dessen neue Politik zunächst mit durchaus gemischten Gefühlen aufgenommen: Enthusiastisch durch Margret Thatcher, vorsichtig bis skeptisch von Ronald Reagan und von Helmut Kohl. Es stand die Befürchtung im Raum, dass mit Glasnost und Perestroika lediglich die traditionelle sowjetische Machtpolitik in neuer, gefälliger Verpackung präsentiert werde, dass die gewohnte Sowjetpolitik nunmehr anstelle von grimmigen und verkniffenen Nein-Sagern von einem strahlenden und wortgewandten Überredungskünstler verkauft werde. Diese, durchaus verständlichen Befürchtungen erwiesen sich allerdings als unbegründet. Gorbatschow meinte, was er sagte, wenn er von einem "Neuen Denken" in der Außenpolitik sprach: Verantwortung für die gesamte Menschheit, Überwindung der Block-konfrontation, Abbau von Feindbildern, Vertrauensbildung, ehrliche und überprüfbare Rüstungsbegrenzung, mutige Abrüstung im konventionellen und nuklearen Bereich.
Das Eis des Kalten Krieges begann zu tauen, zwischen den nuklearen Supermächten USA und UdSSR wurden Abkommen geschlossen zur verifizierten, verlässlichen Begrenzung strategischer Arsenale. Wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Kontakte nahmen in erfreulicher Weise zu. Obschon die Grenzen zwischen Ost und West einstweilen noch Bestand hatten, erschien es vielen Menschen leichter, sich zu begegnen. Ein Wind des Wandels und der Hoffnung erfasste das geteilte Europa.
In der Sowjetunion freilich kam die Perestroika nur mühsam voran: Handfeste, positive Ergebnisse, vor allem in der Wirtschaft und im täglichen Leben der Menschen blieben weitgehend aus. Mehr noch: die zahlreichen Versuche, die starre Planwirtschaft zu reformieren, indem man den Unternehmen größere Freiräume bot, die Menschen zu Initiative und Eigenverantwortung ermutigte, zeigte kaum positive Wirkungen. Im Gegenteil: Die Versuche, die sowjetische Kommandowirtschaft durch Einbau marktwirtschaftlicher Elemente in Schwung zu bringen, scheiterten. Das zentralistische Wirtschaftssystem erwies sich als unreformierbar. Die Folgen waren fatal: Sinkende Produktion, leere Regale.
Hinzu kamen im sowjetischen Vielvölkerstaat nationale Spannungen und Unruhen, die sich im Kaukasus und in Zentralasien in teilweise blutigen Exzessen entluden. Im Baltikum vollzog sich eine singende Revolution. Die Völker Estlands, Lettlands und Litauens forderten unmissverständlich ihre staatliche Unabhängigkeit: Moskau solle das Unrecht der Okkupation eingestehen und die Freiheit gewähren. Dazu allerdings war Gorbatschow nicht bereit. Er glaubte an die gemeinsame Zukunft in einer gesellschaftlich reformierten, demokratisch erneuerten Sowjetunion. Um dieses Ziel zu erreichen, forcierte Gorbatschow seine politischen Anstrengungen: Ein neues Wahlrecht führte zu einem mehr pluralistisch zusammengesetzten Parlament. Unabhängige Bürgerinitiativen, kritischer Journalismus, parteipolitische Vielfalt und die Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus leiteten die weitere Demokratisierung ein. Dies aber führte nicht zu einer Neugestaltung der Sowjetunion. Das Ende des Sowjetkommunismus war damit besiegelt. Außen- und europapolitisch bewirkten Glasnost und Perestroika einen völligen Umbruch. Gorbatschow entließ die Länder Ostmitteleuropas nach der Revolution 1989 aus der Einflusssphäre Moskaus und er machte den Weg frei für die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.
Glasnost und Perestroika zielten ursprünglich auf einen besseren Sozialismus. Die Erneuerung des Sowjetsystems aber war undurchführbar. Gorbatschows bleibende Leistung ist sein Beitrag zur Überwindung der Spaltung Europas und zur Herstellung der deutschen Einheit.
Dr. Gerd Rüdiger Wegmarshaus ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt
(Oder).