Das Parlament: Herr Granin, vor einigen Jahren wurde in Deutschland die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" gezeigt. Für viele war sie schockierend. Darüber, was für Russland die größte Tragödie des letzten Jahrhunderts bedeutet, weißt man in Deutschland relativ wenig, wie zum Beispiel über die Blockade von Leningrad.
Daniil Granin: Diese Ausstellung habe ich gesehen und denke, dass sie ehrlich war. Ich kann das aus meiner eigenen Erfahrung behaupten. Ich habe während des Krieges an der Leningrader Front gekämpft, die sich genau so wie die Stadt Leningrad innerhalb des Blockadenringes befand. Was genau war die Blockade? Sie war eine Schlaufe, die das deutsche Kommando am Hals der Stadt zuschnürte, damit sie am Hunger zugrunde geht. Die Deutschen haben sich seit der zweiten Hälfte des Jahres 1942 nicht einmal bemüht, die Stadt zu erstürmen. Sie hielten mit allen Kräften den Ring der Blockade fest und wussten ganz genau, was in der Stadt passierte. Man sollte nicht denken, dass sie es nicht wussten. Sie hatten viele Quellen: Überläufer, die eigene Aufklärung. Sie wussten, dass es keinen anderen Zugang von Lebensmitteln in die Stadt gab außer der Straße des Lebens über den Ladogasee, die mit dem Anfang des Frostwetters zu funktionieren begann. Mit dieser Straße des Lebens konnte man relativ wenig in die Stadt liefern, denn sie war unter ständigem Beschuss. Warum hat man sie beschossen? Damit die Menschen schneller vor Hunger sterben. Ich habe Tagebücher von Erich von Manstein gelesen, Aufzeichnungen vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Wilhelm von Leeb. Sie alle wussten, was in Leningrad passierte. Sie fragten bei Hitler an, ob man die Stadt stürmen sollte. Er sagte nichts dazu, ließ die Frage unbeantwortet. Denn wofür Leningrad stürmen, wenn es hieß, dass die Stadt zugrunde gehen sollte. Klar, die Militärs, gegen die man kämpfte, konnten umkommen, so ist der Krieg. Aber wofür musste man die Zivilbevölkerung zum Hunger verdammen? Letztendlich trat von Leeb zurück, weil er nicht akzeptieren konnte, dass die Wehrmacht, statt zu kämpfen, sich mit solchen "Polizeioperationen" beschäftigte, die Zivilbevölkerung zu Tode zu quälen und verhungern zu lassen.
Das Parlament: Nach dem Krieg verbreitete sich in Westdeutschland trotzdem der Mythos von der "sauberen" Wehrmacht.
Daniil Granin: Ja, das ist mir bekannt. Es wurde angenommen, dass die Wehrmacht kämpfte, alle Verbrechen von SS-Truppen begangen wurden und die Wehrmacht damit nichts zu tun hatte. Aber ich war vor kurzem in einer Ausstellung im Museum Karlshorst, die der Blockade gewidmet war. Dort gab es Briefe von Heiner Heinz, einem deutschen Leutnant und Kommandeur der MG-Kompanie, der an der Leningrader Front kämpfte, ungefähr gegenüber dem Abschnitt unseres Batallions. Stellenweise trennten uns 100 bis 150 Meter. Manchmal riefen die Deutschen zu uns ohne jeden Rundfunk - "He Russe, komm zu uns Brot essen!" - und hielten ein auf ein Bajonett aufgespießtes Brot über dem Schützengraben hoch. Es war Winter 1941, dann Frühling 1942 - die schlimmste Hungerzeit. Aus den Briefen wird klar, dass Heinz über den Hunger wusste. So schreibt er seiner Frau, dass "obwohl wir mit dem schnellen Fall von Leningrad nicht rechnen - dieses Gesindel hat nicht vor, sich zu ergeben, - sie werden gezwungen sein, uns in Ruhe zu lassen und langsam vor Hunger zu sterben".
Das Parlament: Wenn man sich in Deutschland an den Krieg erinnert, denkt man oft vor allem an das Kriegsende, als der Krieg die deutsche Zivilbevölkerung betroffen hat: Massenvergewaltigungen, Luftangriffe, Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen und dem Sudetenland. Wird hier nicht Ursache mit Wirkung verwechselt?
Daniil Granin: Bei uns wird viel über den Krieg gelogen, aber auch in Deutschland gibt es nicht weniger Lügen. Jede Seite will ihren Krieg als einen sauberen Krieg darstellen. Aber es gibt keinen sauberen Krieg, jeder Krieg wird früher oder später schmutzig. Auch der deutsche Krieg war schmutzig, von Anfang an, und unser Krieg ist später schmutzig geworden.
Das Parlament: Was weiß man über einen solchen Krieg? Man sah ihn im Lichte des Sieges, der alles rechtfertigte.
Daniil Granin: Wissen Sie, in Deutschland wird momentan wieder ein gewisser Mythos gebildet, dass der Krieg, den die Sowjetunion führte, nur gerecht war, bis unsere Truppen in Deutschland einmarschiert sind. Dass wir in Deutschland angefangen haben zu vergewaltigen, zu rauben, zu zerstören. Es ist so, aber es ist auch anders. Es ist das Eine, als die Deutschen in Russland einmarschierten - satte Eroberer Europas, nicht mit Hassgefühl erfüllt, sondern mit einem Gefühl der Verachtung uns gegenüber als niedriger Rasse. Sie hatten kein persönliches "Konto", keiner der deutschen Soldaten hatte irgendwelche eigenen Forderungen an Russland. Die Nazi-Ideologie führte sie. Und das Andere war, als wir Deutschland betraten, nach dem Verlust von Millionen von Menschen, erschöpft durch den Krieg, nachdem wir den ganzen Horror der SS-Strafkommandos gesehen hatten. Das sind zwei völlig unterschiedliche Zustände. Wir alle hatten unser persönliches Konto. Wir haben abgebrannte Dörfer gesehen, Galgen, erschossene Partisanen. Wir haben die ganze Ungerechtigkeit des Krieges gesehen, der über uns aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen herfiel. Und natürlich sammelte sich nach diesen schrecklichen Jahren des Krieges bei den Menschen ein Gefühl des Hasses - persönliche Forderungen. Als wir in Deutschland einmarschierten, vernichteten wir den Feind, der uns viel Leid gebracht hat. Ja, das rechtfertigt nicht Mord und Vergewaltigung. Aber ich als Schriftsteller urteile nicht, sondern ich versuche Menschen zu verstehen. Es sind für mich zwei unterschiedliche Geschichten - ich habe verschiedene Ansprüche an sie.
Das Parlament: In letzter Zeit wurden in Russland einige deutsche Soldatenfriedhöfe eröffnet, die regelmäßig von deutschen Touristengruppen besucht werden. Was halten Sie von diesen Veränderungen?
Daniil Granin: Ich sehe all das sehr positiv. Ich habe mich selbst darin engagiert, hatte viele Gespräche mit russischen Veteranen, die gegen deutsche Friedhöfe auf dem russischen Boden sind. Doch der Hass ist eine Sackgasse. Und Deutschland heute ist ein ganz anderes Land, die Deutschen sind ein ganz anderes Volk. Man muss Deutschland gerecht werden, es hat viel getan für die Demokratisierung seines Lebens, um in gewissem Maße seine Schuld zu büßen, von daher sind unsere heutigen Ansprüche an Deutschland ungerechtfertigt.
Das Parlament: Herr Granin, vieles verbindet Sie mit Deutschland. In der Schule haben Sie Deutsch gelernt, waren im Krieg, sind nach dem Krieg oft nach Deutschland gereist, haben Freunde dort.
Daniil Granin: Deutschland bedeutet für mich ein Vorbild. Unsere Schicksale sind irgendwie ähnlich, deutsches und russisches. Beide Völker haben ein brutales totalitäres Regime erlebt. Das deutsche Volk hat in den KZ viele würdige Menschen verloren, wir haben auch Millionen von Menschen verloren. Wir haben unter unserer Ideologie gelitten, die Deutschen unter ihrer. Deshalb war es für mich wichtig zu beobachten, wie die Deutschen aus diesem Zustand herauskommen. Das ist ein lehrreiches Beispiel.
Das Parlament: Welchen Beitrag hat Literatur zum Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Russland beigetragen?
Daniil Granin: Literatur existiert nicht zu diesem Zweck, aber sie fördert gegenseitiges Verständnis, aber natürlich nur wenn die Autoren über ein gewisses Grad an Ehrlichkeit verfügen. Wir haben in Russland viel über Deutschland aus den Werken von Heinrich Böll, Günter Grass, Siegfried Lenz und Christa Wolf erfahren. Das hilft, einander besser zu verstehen und besser miteinander zu kommunizieren.
Das Parlament: Welche Rolle hat die sowjetische Literatur im Prozess der Kriegsbewältigung gespielt? Die Historiker haben über vieles, was den Krieg betraf, nicht geschrieben.
Daniil Granin: Das ist richtig. Mehr Wahrheit über den Krieg wurde in der schönen Literatur gesagt. Sie hat sehr viel getan, denn solche Autoren wie Vassil Bykov, Grigorij Baklanov, Svetlana Alexievich, Viktor Astafiev halfen mit ihren Werken zu verstehen, was das für ein Krieg war mit all seinen Schrecken und sogar mit seiner Romantik. In diesem Sinne ist die sowjetische Kriegsliteratur ein großes Denkmal. Und dass viele literarische Werke über den Krieg in der Sowjetunion und in Russland stark kritisiert wurden, ist völlig normal. Gute Literatur ist immer untraditionell, deshalb ist es schwer, sie anzunehmen.
Das Parlament: Was bedeutet das Kriegsthema heute für Sie?
Daniil Granin: Das Kriegsthema ist für mich immer noch ein aktuelles Thema. Nicht nur, weil ich persönlich damit verbunden bin. Nicht, weil es eine noch nicht fertig geschriebene Geschichte ist, sondern weil es eine große Tragödie ist, die wir bis heute erleben. Was bedeuten denn: 30 Millionen Tote? Unser Land ist immer noch krank von diesen Verlusten, denn das sind 30 Millionen Witwen, Vaterlose, Mütter, die ihre Kinder verloren haben, das ist eine große Zahl an Kriegsinvaliden. Das sind verwüstete Dörfer, die nie wieder aufgebaut wurden. All das ist immer noch in unserem Leben präsent. Genauso wie die Lüge über den Krieg, die immer noch existiert. Deshalb ist Erzählen über den Krieg heute vor allem ein Duell mit der Lüge.
Das Interview führte Elena Stepanowa