UN-Generalsekretär Kofi Annan hat seitdem bei ungezählten Gelegenheiten an die Mitgliedstaaten appelliert, die Regeln und Institutionen der UNO einer grundlegenden und umfassenden Reform zu unterziehen. Die Weltgemeinschaft stehe an einer Weggabelung, die nicht weniger entscheidend als die Gründung der UNO im Jahre 1945 sei. Im März 2005 hat Annan - nach intensiver Beratung durch verschiedene Expertengremien - einen Reformplan vorgelegt, der die umfassendste Reform der Vereinten Nationen in ihrer Geschichte zum Ziel hat. Der Bericht muss nun in den Mitgliedstaaten sowie im Herbst 2005 in der UN-Generalversammlung diskutiert werden. Noch ist offen, ob er das Schicksal zahlreicher UN-Reformpapiere ereilt und allenfalls für Politikwissenschaftler von Interesse ist, oder ob er politische Bedeutung erhält und seine zahlreichen Ideen aufgegriffen und umgesetzt werden.
Die Reformagenda ist ebenso lang wie komplex. So spiegelt der Sicherheitsrat mit seinen bisher fünf ständigen Mitgliedern (China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA) nicht mehr die weltpolitischen Machtkonstellationen des 21. Jahrhunderts wider, das Völkerrecht muss den neuen Bedrohungsformen angepasst werden, die zahlreichen Sonderorganisationen und Spezialorgane der UNO haben sich zu einem undurchschaubaren Konglomerat entwickelt, das dringend gestrafft werden muss, und schließlich muss über die Prioritätensetzung im Spannungsfeld zwischen Friedenssicherung, Stärkung der Menschenrechte, Armutsbekämpfung und Schutz der globalen Umwelt entschieden werden. Unabhängig davon muss jede Reformdebatte mit einer Analyse der globalen Herausforderungen und der Beantwortung einiger grundlegender Fragen nach der Ordnung des internationalen Systems beginnen: Bis zu welchem Grad kann den Staaten die Erosion ihrer Souveränität zugunsten kollektiver Mechanismen zugemutet werden? Inwieweit halten sich die Staaten an gemeinsam verabredete Beschlüsse und in welchem Maße ist deren Verletzung, Missachtung oder mangelnde Unterstützung hinnehmbar? Wie können Macht und Recht in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht und widerstreitende Interessen in konstruktiver Weise ausgeglichen werden?
Auf diese Fragen lassen sich freilich verschiedene Antworten formulieren, die dann jeweils unterschiedliche Konsequenzen für die daraus ableitbare Rolle der UNO in der internationalen Politik haben. Einerseits wird ihr lediglich eine untergeordnete Rolle beigemessen, und Reformbemühungen sollen sich darauf beschränken, die Effizienz der Organisation in den Bereichen zu erhöhen, in denen sich die Mitgliedstaaten einig sind, dass sie die UNO als Forum, Akteur oder Instrument nutzen wollen. Andererseits werden hohe Erwartungen an die UNO gestellt, die bis hin zu der Hoffung reichen, mit Hilfe der UNO ein internationales Milieu zu formen beziehungsweise zu stabilisieren, in dem Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden und die Zusammenarbeit zwischen Staaten norm- und regelgeleitet abläuft.
Viel gewonnen wäre bereits, wenn sich die Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen gemeinsamer Handlungsbedarf definiert wurde, intensiver engagierten. Einer dieser Bereiche ist das System der Friedenssicherung. Noch ist offen, ob die Vereinten Nationen hier Relevanz behalten oder ob sie bei den neuen Kriegs- und Bedrohungsformen völlig an den Rand gedrängt werden. Die der sicherheitspolitischen Strategie in der Zeit des Ost-West-Konflikts zugrunde liegende Philosophie der Abschreckung funktioniert jedenfalls unter den neuen Gegebenheiten nicht mehr ohne weiteres. Zudem sind die Grenzen des Selbstverteidigungsrechtes - dem gemäß UN-Charta neben der vom Sicherheitsrat auf Grundlage von Kapitel VII sanktionierten Gewaltanwendung einzige Fall legitimer Gewaltanwendung - unscharf geworden. Einige Staaten sind der Auffassung, dem Sicherheitsrat müsse auch in der Praxis eine Art "Gewaltlegitimierungsmonopol" zukommen. Andere Staaten sehen negative Folgen, wenn in jedem Fall auf die Sanktionierung von Gewaltanwendung durch den Sicherheitsrat bestanden wird. So sind durchaus Fälle vorstellbar, in denen er aufgrund von - nicht zwangsläufig rationalen - Vetodrohungen blockiert ist, aber dennoch unmittelbarer Handlungsbedarf besteht.
Voraussetzung für die Akzeptanz der Sicherheitsratsentscheidungen ist auch eine ausgewogenere Zusammensetzung. Alle Reformpläne sehen deshalb eine Aufstockung von 15 auf 24 Mitglieder vor. Allerdings bleibt umstritten, ob es neue ständige Mitglieder geben (im Gespräch sind Deutschland, Brasilien, Japan, Indien und ein afrikanischer Staat) und ob diesen wie den alten ständigen Mitgliedern ein Vetorecht zugebilligt werden soll. Die institutionellen Hürden für einen Beschluss darüber sind und bleiben gleichwohl derart kompliziert, dass es mehr als ungewiss ist, ob tatsächlich im Herbst darüber entschieden werden kann.
Zudem wird intensiv diskutiert, das Völkerrecht im Lichte der neuen Bedrohungen fortzuentwickeln. Denkbar wäre, etwa darüber zu entscheiden, wo die Toleranzgrenze bei der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Unterstützung des internationalen Terrorismus oder aber auch der systematischen Verletzung von Menschenrechten liegt. Es müsste dann ein nachvollziehbarer Kriterienkatalog entwickelt werden, bei dem ein Eingreifen der Staatengemeinschaft gerechtfertigt sein kann. Solche Definitionsversuche sind mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, und es ist zudem eher unwahrscheinlich, dass es gelingen wird. Die Alternative ist aber, den Status quo zu erhalten, der ebenfalls unbefriedigend ist. Auch der Bereich Menschenrechtsschutz gehört zu den Bereichen, die reformiert werden sollen. Kern der Vorschläge des Generalsekretärs ist die Einrichtung eines Menschenrechtsrats, der die ineffektive Menschenrechtskommission ablösen soll. Zudem sollen endlich eine Konvention gegen Terrorismus verabschiedet werden und ein wirksames Vorgehen zur Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung beschlossen werden. Dazu zählt auch das Einfordern der Jahrzehnte alten Verpflichtung der Industriestaaten, 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen.
Multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen ist oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend. Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein multilateraler Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Andererseits sind andere Problemkonstellationen offensichtlich multilateral nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es, jenseits von "wishful thinking" eine nüchterne Bestandaufnahme vorzunehmen und die UNO nicht zu überfordern oder gar von ihr Leistungen zu verlangen, die sie nicht erbringen kann. Die besondere Qualität der UNO liegt darin, dass sie unterschiedliche Bereiche miteinander verbindet und sich "neuen und alten", "harten und sanften" Bedrohungen stellen kann. Damit wird versucht, traditionelle Elemente des Sicherheitsbegriffs mit der Gewährleistung von Menschenrechten, dem Recht auf Entwicklung sowie dem Recht auf eine lebenswerte Umwelt zu verbinden. Diese Verknüpfung im Rahmen einer universalen Organisation bietet enorme Chancen, es sind aber auch - jenseits von überzogenem UN-Enthusiasmus und undifferenzierter Fundamentalkritik - die Grenzen zu beachten.
Die Weltorganisation war in ihrer Geschichte stets abhängig von den wechselhaften politischen Konjunkturen für multilaterale Zusammenarbeit, und der Reformprozess dürfte sich auch weiterhin vornehmlich in kleinen Schritten vollziehen. Die Chancen für einen "großen Wurf" beim Thema UN-Reform sind mithin insgesamt gering, und die Weltorganisation dürfte auch zukünftig nicht in der Lage sein, die hochgesteckten Erwartungen zu erfüllen. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen in den Mitgliedstaaten darüber, was die Organisation in welchen Politikfeldern leisten und wie intensiv sich ihres Instrumentariums bedient werden soll.
Das "Fenster" ist also nicht so weit geöffnet, wie es sich die Befürworter einer umfassenden Reform wünschen mögen. Der anhaltende Reformbedarf sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Weltorganisation für die Stabilität des internationalen Systems unverzichtbar ist. Sie hat sich, trotz aller Zeichen von Schwäche in den vergangenen Jahren, als eine Institution erwiesen, mit der flexibel auf neue (und alte) Herausforderungen reagiert werden kann. Es kommt wie so oft darauf an, was die Mitgliedstaaten aus diesem Rahmen machen.
Professor Johannes Varwick arbeitet am Institut für Politische
Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.