Bis zu seinem Tod im Jahre 1949 hat der Lord nicht zuletzt durch eine Flut von Briefen alles daran gesetzt, sein ihm durch zahlreiche Deutschlandbesuche und persönliche Begegnungen mit Hitler, Göring, Ribbentrop und anderen NS-Größen anhaftendes Stigma als naiver "Nazi-Engländer" und "Bewunderer des Führers" loszuwerden sowie sein Image als politischer Versager reinzuwaschen. Er wollte seinen guten Ruf wiederherstellen und vor allem mit seinem, wie er meinte, Hauptwidersacher, dem britischen Premier Baldwin, abrechnen.
Für die Wahl seines Themas führt der Autor überzeugende Gründe ins Feld. Er will der Beschwichtigungs- oder "Appeasement"-Politik gegenüber Berlin mit ihrem Höhepunkt in München 1938 biografisch "etwas mehr Farbe" geben und zeigen, wie die Londonderry-Briefe und sein Wirken beispielhaft ein Prisma darstellen, "in dem sich in lebendigen Farben die Geisteshaltungen, die wechselnden Einstellungen und die politische Unentschlossenheit einer mit dem wachsenden Problem der nationalsozialistischen Bedrohung konfrontierten Gesellschaft widerspiegeln".
Kershaw hat mit seinem interessanten historisch-politischen Buch zugleich der Familie Londonderry, einem noch im 19. Jahrhundert wurzelnden hochadeligen politischen Establishment, ein Denkmal gesetzt. Der Einfluss des Hochadels war nach dem Ersten Weltkrieg mit der Demokratisierung der Politik und der Verbürgerlichung ihrer Führungsschichten rapide gesunken.
Aus Trotz über seine Entlassung und um es "den Stümpern im Außenministerium zu zeigen", hatte Londonderry 1936 eine Doppelstrategie entwickelt: Er wollte einerseits durch persönliche Kontakte mit der Führung in Berlin wie viele andere auch - etwa der Weltkriegspremier Lloyd George und der Zeitungszar Lord Rothermere - ein Bündnis schmieden, "die Deutschen in hilfreiche Partner im Weltenplan verwandeln", ihnen die Rückkehr in die Genfer Abrüstungskonferenz ebnen und dadurch auf Dauer den Frieden sichern. Zum anderen wollte er aber auch, gleichsam als Rück-versicherung und Abschreckung, einen hohen britischen Rüstungsstand vor allem in der Luft schaffen.
Das Missverständnis war gegenseitig: Londonderry hat den aggressiven und expansiven Charakter der NS-Außenpolitik wohl nie durchschaut. Und Hitler verfiel dem Irrtum, sich ausgerechnet durch Londonderry den Zugang nach Whitehall für ein Bündnis zu deutschen Bedingungen, also freie Hand auf dem Kontinent, öffnen zu können. Zwar kritisiert Kershaw mit einigem Recht das "Appeasement" unter Chamberlain als unmoralisch gegenüber der Tschechoslowakei, als eine Politik des Taktierens ohne eine langfristige Strategie und als fortgesetzte Kapitulation gegenüber deutschen Erpressungen, um dann aber rein theoretisch denkbare und von ihm eingehend diskutierte andere Optionen für den schwierigen Umgang mit dem Diktator als undurchführbar zu verwerfen: ein Bündnis mit ihm auf Kosten Frankreichs, ein Präventivkrieg zum Sturz des NS-Regimes, eine politische Eindämmung in einem zerstrittenen Europa und eine massiv abschreckend wirkende britische Aufrüstung.
Als aristokratischer Grande, nordirischer Grundherr und schottischer Bergwerksbesitzer verdankte Lord Londonderry Macht, Ansehen und Karriere im wesentlichen dem Reichtum, der Patronage, den Privilegien und persönlichen Beziehungen etwa zu seinem entfernten Cousin Winston Churchill, der freilich einmal vom "Schwachkopf Charlie Londonderry" sprach. Das Haus Londonderry war mit seinen glanzvollen Empfängen ein gesellschaftlicher Mittelpunkt in der britischen Hauptstadt. Stolz sah sich Londonderry als Abkomme Lord Castlereaghs, einer der Architekten der Wiener Ordnung von 1815. Ihm wollte er nacheifern.
Leider verstrickt sich der Autor bei der Frage nach einem Ende des "Appeasement" beim deutschen Einmarsch in Prag 1939 in Widersprüche. Auch können geschliffene Formulierungen und treffende Analysen nicht über eine bisweilen etwas ermüdende Weitschweifigkeit des Buches hinwegtäuschen.
Ian Kershaw
Hitlers Freunde in England.
Lord Londonderry und der Weg in den Krieg.
Aus dem Englischen Von K.-D. Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005; 546 S, 29,90 Euro