Durch die auf Video dokumentierte grausame Tötung von Geiseln wurde der dafür verantwortliche Abu Mussab al-Sarkawi auch in der westlichen Welt bekannt. Er gilt gegenwärtig als der nach Osama bin Laden wichtigste islamistische Terrorist und als "das neue Gesicht der Al-Qaida". Diesen Titel gab auch Jean-Charles Brisard seinem Buch über Sarkawis Rolle bei der Eskalation der Gewalt im Irak und in anderen Ländern.
Der Autor ist einer der bedeutendsten französischen Terrorismus-Experten. Er leitet eine Wirtschaftsauskunftei in Paris und ermittelt gegen die Hintermänner der Anschläge vom 11. September 2001. Im Rahmen dieser Recherchen, die im Auftrag der Anwälte von Familienangehörigen der Opfer erfolgen, gelangte er an zahlreiche Informationen unterschiedlichster Art zu Person und Wirken Sarkawis. Mit seinem journalistisch gehaltenen, aber mit Belegen versehenen Buch liefert Brisard die erste breiter angelegte Biografie dieses Terroristen.
Darin beschreibt er die Entwicklung des 1966 in Jordanien geborenen Sarkawis, der zunächst als einfacher Wartungstechniker arbeitete und kein besonderes religiöses Selbstverständnis hatte. Erst nach einer Lebenskrise wandte sich der zwischenzeitlich auch als kleinkriminell Aktive dem Lager des gewaltbereiten Islamismus zu - 1989 als Mitarbeiter einer als ideologische Speerspitze von Al-Qaida geltenden Zeitschrift und 1991 - nach Ausbildungen in afghanischen Lagern - auch als aktiver Kämpfer.
Nach der Rückkehr in seine Heimat arbeitete Sarkawi zunächst als Betreiber eine Videothek, wurde dann aber aufgrund seiner islamistischen Aktivitäten inhaftiert. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis intensivierten sich seine Tätigkeiten für Al-Qaida, übernahm er doch in Afghanistan die Leitung mehrerer Trainingslager. Gleichzeitig baute er ein eigenes Netzwerk auf, ging Bündnisse mit anderen Gruppen ein und fand nach dem Beginn des Krieges gegen den Irak in dem Land eine neue Wirkungsstätte.
Zur Einschätzung Sarkawis bemerkt Brisard: "Er ist das degenerierte und überspannte Produkt einer verworrenen Geisteshaltung, dem die Umstände mehr als jedem anderen in die Hände gespielt haben. Sarkawi will nicht Karriere machen, sondern Rache am Leben nehmen. Er gehorcht keiner Logik außer der einer Gewalt, angesichts deren sich die Taliban fast wie ein fröhlicher Haufen von Turbanträgern ausnehmen. Sarkawi erteilt der Hölle eine Lektion ... und er findet Nacheiferer."
Diskurs entwickele und sich als Einiger verstehe, predige Sarkawi Chaos als Politik und trete als Einzelkämpfer auf. Seine Bedeutung habe er nur durch den Irak-Krieg erlangt, ohne ihn wäre er einer von vielen Befehlshabern bin Ladens geblieben. Daher dürfe, so Brisard, auch kein weiterer Nährboden für den Dschihad geschaffen werden, der den dominierenden Kriegschef zu einem geistigen Anführer aufsteigen lassen könne.
Mit diesem Buch liegt eine überaus informative und materialreiche Darstellung zu Sarkawi vor. Der Autor bettet sie in die Entwicklung des terroristischen Islamismus ein, um so die Aktivitäten und den Stellenwert seiner Person besser zu verdeutlichen. Inwieweit viele Detailinformationen stimmen, lässt sich angesichts der Quellenproblematik nur schwer sagen. Gleichwohl überzeugt Brisards fundierte Biografie - allerdings nur auf der beschreibenden Ebene. Immer wenn es um analytische Einschätzungen geht, wäre mehr Kritik notwendig. Dies gilt besonders für die hilflosen und moralisierenden Etikettierungen der Person Sarkawi als "Bestie", "Monster" und "Schlächter". Dies mag richtig sein, erkenntnisförderlich sind solche Aussagen nicht.
Jean-Charles Brisard
Das neue Gesicht der Al-Qaida.
Sarkawi und die Eskalation der Gewalt.
Propyläen Verlag, Berlin 2005; 335 S., 22,- Euro