Kai Littmann hat allen Grund, zufrieden zu sein. Die 120 französischen und deutschen Mitglieder des "Bürgerforums Eurodistrikt", dessen Vorsitzender der in Straßburg lebende Badener ist, entwickeln nicht nur schöne Ideen für die transnationale Zusammenarbeit am Oberrhein, sondern packen auch handfest an. So betreibt ein elsässisch-badisches Team inzwischen ein Internet-Radio und will nun eine UKW-Frequenz beantragen. In Straßburg wurden aufgrund einer Initiative der Assoziation jüngst in einer Vorschule zwei bilinguale Klassen eingerichtet, aus denen die erste "Eurodistrikt-Schule" mit zweisprachigem Unterricht vom Kindergarten bis zum Abitur erwachsen soll. "Wir sind momentan auch dabei, in Straßburg bei einem Kaufhaus alle Waren auf Französisch und Deutsch zu etikettieren", erzählt Littmann.
Gleichwohl ist der aktive Grenzpendler ziemlich enttäuscht. Und zwar wegen der offiziellen Politik: "Das Dokument ist sehr dünn, man ist zu kurz gesprungen, Konkretes wurde nicht beschlossen", klagt Littmann, "nicht einmal zu einem gemeinsamen Sprecher hat es gereicht." Die Kritik richtet sich gegen das, was jetzt im historischen Rathaus der elsässischen Hauptstadt auf staatlicher Ebene als "Eurodistrikt" aus der Taufe gehoben wurde: Hinter diesem schön klingenden Titel verbirgt sich nicht viel mehr als die Etablierung eines Gremiums namens "Eurodistriktrat". Er setzt sich aus badischen und elsässischen Mandatsträgern zusammen, die politisch und rechtlich unverbindliche Anstöße für grenzübergreifende Projekte in der Verkehrs-, Wirtschafts-, Bildungs-, Umwelt- oder Gesundheitspolitik geben soll.
"Der Berg hat zweieinhalb Jahre gekreißt und gebar eine Maus", könnte man in Anlehnung an das bekannte Sprichwort sagen. Ursprünglich sollte der Eurodistrikt am Oberrhein als Pilotmodell in der gesamten EU der transnationalen Kooperation vor Ort neue Qualität verschaffen. Mittlerweile hat sich die Geschichte dieser Idee indes als Lehrstück entpuppt: als Beispiel für die Diskrepanz zwischen ambitionierten Planern in den Hauptstädten und der bescheidenen Umsetzung ihrer Ideen in der Praxis. Und das Thema offenbart, mit welchem Problem europäische Politik im Alltag nach wie vor zu kämpfen hat: der mangelnden Bereitschaft, Kompetenzen abzutreten.
Im Jahr 2003 begingen Deutschland und Frankreich feierlich den 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags. Bei diesem Jubiläum sorgten Staatspräsident Jacques Chirac und Kanzler Gerhard Schröder für politischen und medialen Wirbel: Sie riefen Straßburg und den badischen Ortenaukreis mit der Grenzstadt Kehl zum Experimentierfeld für die Gründung des ersten "Eurodistrikts" aus. Straßburg mit den dort ansässigen Institutionen vom Europarat über den Menschenrechtsgerichtshof bis hin zum EU-Parlament versprach die nötige Symbolkraft. Erstmals sollten eine deutsche und eine französische Gebietskörperschaft mit gemeinsamen Verwaltungsstrukturen ausgestattet werden. Alternativ wurde zumindest ein badisch-elsässischer Zweckverband als abgespeckte Variante einer einheitlichen Adiministration diskutiert.
Die damalige Pariser Europaministerin Noelle Lenoir skizzierte schon die Vision eines "gemeinsamen Etats und gemeinsamer Kommunalwahlen" für Straßburg und die Ortenau. Straßburgs Bürgermeisterin Fabienne Keller, Robert Grossmann als Präsident des Straßburger Stadt-Umland-Verbandes und Kehls OB Günther Petry begannen mit ihren deutschen und französisichen Kollegen zu verhandeln. Ein regelrechtes Fieber brach los. Colmar und Mülhausen im Südelsass sowie Freiburg bereiten ihrerseits einen eigenen Eurodistrikt vor. Auch der Stadtverband Saarbrücken, dem die Landeshauptstadt und Umlandgemeinden angehören sowie lothringische Grenzlandkommunen machten sich ans Werk.
Aber ist so etwas wie ein Eurodistrikt überhaupt nötig? Schließlich preist man sich von Saarbrücken über Karlsruhe und Straßburg bis Freiburg schon seit jeher als "europäische Herzregion". Kehls OB Petry sieht den Oberrhein als "Versuchsküche Europas". So organisierten Straßburg und Kehl eine binationale Gartenschau am Rheinufer: Deren Prunkstück, eine imposante neue Fußgänger- und Radlerbrücke, bringt die Verbundenheit nun dauerhaft zum Ausdruck. Die Kommunalparlamente Freiburgs und Mülhausens sowie Waldkirchs und des elsässischen Schlettstadts treffen sich regelmäßig zu Sitzungen. Die Bücherbusse der Freiburger und Mülhauser Bibliotheken fahren auch in die Partnerstadt, an Schulen beider Orte werden gemeinsame Umweltpreise verliehen. Die Rheinanliegergemeinden Hartheim (deutsch) und Fessenheim (französisch) bauten eine Brücke. Die Präfektur in Colmar und das südbadische Regierungspräsidium organisieren Katastrophenschutzübungen für den Fall eines Unglücks im Atomkraftwerk Fessenheim. Karlsruhe lässt seine Straßenbahn bis in die elsässische Nachbarschaft fahren, die Saarbrücker Stadtbahn pendelt bis ins lothringische Saargemünd. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Doch die grenzübergreifende Kooperation ist zeitraubend: In jedem Einzelfall müssen die Gebietskörperschaften miteinander verhandeln, häufig Landesregierungen, regionale Verwaltungen oder Präfekturen einschalten und zudem mühsam Brüsseler Subventionstöpfe anzapfen - und sei es nur für die zweisprachige Ausschilderung eines Radwanderweges zwischen Schwarzwald und Vogesen.
Da hätte ein Eurodistrikt als administrative Struktur mit Entscheidungskompetenzen einen echten Schub bringen können. Doch wie schon so oft ist auch dieses Mal der Versuch gescheitert, Hoheitsrechte auf eine supranationale Instanz zu verlagern. Der Eurodistrikt-rat Straßburg/Ortenau, in dem sich regionale Politiker treffen, hat weder einen Etat noch ein Büro. Die badischen und elsässischen Vertreter ließen es sich zudem nicht nehmen, jeweils einen eigenen Sprecher zu wählen.
Aufgabe des Gremiums ist es, die transnationale Kooperation "voranzutreiben und zu unterstützen". Befürwortet die Kommission gemeinsame Vorhaben, müssen diese aber trotzdem noch einmal von den betroffenen Gebietskörperschaften gebilligt und finanziert werden - so wie bisher.
Wenn Freiburg, Colmar und Mülhausen Anfang 2006 den Vertrag über ihren Eurodistrikt unterzeichnen, dann dürfte dies nicht viel mehr sein als eine politische Willensbekundung zur Vertiefung der Zusammenarbeit. Im saarländisch-lothringischen Gebiet soll ein Gutachten die Perspektiven der binationalen Agglomeration untersuchen. Christof Kiefer ist skeptisch: "Einheitliche Verwaltungsstrukturen wird es wohl nicht geben." Einen grenzübergreifenden Zweckverband hält der Sprecher des Stadtverbands Saarbrücken eventuell für denkbar, aber auch nur "mit begrenzten Kompetenzen etwa bei der Raumordnung und Flächennutzungsplänen".
Während der Vorarbeiten für den Eurodistrikt Straßburg/Ortenau wurde eine Fülle nützlicher Ideen dis-kutiert: einheitliche Autokennzeichen, günstige Ortstarife beim Telefonieren über die Grenze, die gemeinsame Nutzung medizinischer Großgeräte, der Ausbau der Verkehrswege über den Rhein, eine abgestimmte Wirtschaftsförderung, transnational gültige Krankenkassenchipkarten und vieles mehr. Ob der Eurodistriktrat diese Projekte zu verwirklichen vermag, steht freilich dahin.
Das Bürgerforum setzt derweil schon mal Stein auf Stein. In Kehl hat die Initiative neuerdings ein "Bürgerbüro Eurodistrikt" eröffnet als Anlaufstelle für alle, die mitmachen wollen - wobei Straßburger sogar zu ihrem Ortstarif anrufen können. Kai Littmann: "Wir wollen das offizielle Papier mit Leben erfüllen."