Ein Mensch verschwindet spurlos - und kein Gericht, keine Behörde und keine Polizeistation gibt den Angehörigen Auskunft über sein Schicksal. Niemand weiß, ob dieser Mensch tot oder lebendig ist, ob er auf Jahre im Gefängnis sitzt oder nie mehr wiederkommen wird. Das Phänomen verschwundener Menschen ist kein Relikt von Militärdiktaturen Mittel- und Südamerikas, sondern ereignet sich auch mitten in Europa. Mit einer Debatte zum Verschwinden von Menschen hat der Europarat den Blick auf ein Thema gelenkt, für das es im Internationalen Recht noch immer keine ausreichenden Schutzregelungen gibt. Das Verhalten von Staaten, die ihre wichtigste Funktion, den Schutz und das Wohlergehen ihrer eigenen Bürger ins Gegenteil umkehren, ist von besonderer Heimtücke, sagte der Delegationsleiter der deutschen Bundestagsabgeordneten Rudolf Binding in Straßburg in seiner Abschiedsrede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Wer das "Verschwinden lassen" als Regierung aktiv betreibt oder, wie häufig geschehen, durch paramilitärische Verbände zumindest duldet, macht sich selbst zum Mörder. Die so verschwundenen Bürger tauchen nach ihrer Ermordung, irgendwo verscharrt oft nur durch Zufall wieder auf. Länder, die diese - nur mit Mord und Folter selbst gleichzusetzenden Menschenrechtsverletzungen - begehen, können allerdings bisher wegen Lücken im internationalen Recht kaum zur Rechenschaft gezogen werden.
Berichterstatter Christos Pourgourides aus Zypern gab in der Aussprache zu bedenken, dass dies nicht nur ein in Militärdiktaturen oder Pseudodemokratien Lateinamerikas bekanntes Phänomen sei, sondern auch in Europa keinesfalls der Vergangenheit angehöre. Mehr als 2.000 Fälle sollen sich allein in Zypern ereignet haben als Folge des Versuchs, die Insel an Griechenland anzugliedern und der anschließenden Besetzung des Nordens durch die Türkei. Zahlreiche Fälle wurden auch aus der Türkei im Zusammenhang mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen des Militärs mit der kurdischen Unabhängigkeitsorganisation PKK bekannt. In dem vom russischen Militär besetzten Tschetschenien hat der bisherige deutsche Europaratsberichterstatter Rudolf Bindig im Jahr 2004 insgesamt 415 Fälle von Entführten und Verschwundenen dokumentiert. In den ersten drei Monaten dieses Jahres verschwanden bereits 52 Menschen auf unbekannte Weise. Auch in der Ukraine wurden vor dem jüngsten Machtwechsel derartige Verbrechen registriert - wie etwa an dem Journalisten Heorhiy Gongadze. Alles Fälle aus Mitgliedsländern des Europarates, die sich offiziell der Achtung der Menschenrechte verpflichtet haben. Dazu kommen noch rund 5.000 vermisste Menschen in Armenien und Aserbaidschan. Ihr Schicksal ist in Folge der kriegerischen Auseinandersetzung um die Enklave Nagorno-Karabach bis heute nicht geklärt. Und auch in Weißrussland verschwinden noch immer Journalisten und Geschäftsleute sowie in Ungnade gefallene Parlamentarier und Minister.
Die Parlamentarische Versammlung machte auf ihrer letzten Sitzung deutlich, dass sie es nicht bei der Kritik belassen will. Sie unterstützt die Bemühungen der allen Mitgliedsstaaten offen stehenden "Intersessionalen Arbeitsgruppe" der Vereinten Nationen, einen Übereinkommensentwurf zu schaffen. Dieses Papier soll von der Menschenrechtskommisson der UNO im Frühjahr 2006 verabschiedet werden. Neben einer eindeutigen Definition des "Verschwindenlassens von Menschen" sollen die Staaten verpflichtet werden, derartige Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, zu untersuchen und auch zu bestrafen. Der Status von Angehörigen der Opfer soll ebenfalls verbessert werden.
Die Definition soll so umfassend sein, dass sie auch Taten umfasst, die von nichtstaatlichen Akteuren, wie paramilitärischen Gruppen, Todesschwadronen und organisierten kriminellen Gruppen begangen werden. Familienangehörige der Verschwundenen sollen als separate Opfer des Verschwindenlassens anerkannt werden und das Recht erhalten, über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert zu werden. Das Verbrechen, Menschen verschwinden zu lassen, soll künftig nicht mehr verjähren können. Und die Täter sollen sich bei späteren Verfahren in Zukunft auch nicht mehr auf eines berufen können: Einen "höheren Befehl".