Die Jugend von heute ist nicht unpolitischer, sondern anders politisch als wir es vor nunmehr 35 Jahren waren. Die Konfliktlinien innerhalb unserer Gesellschaft, anhand derer man sich für die Mitgliedschaft in einer Partei entscheidet, haben sich in den letzten Jahrzehnten verschoben. Die außen- und sicherheitspolitische Lage veränderte sich gegenüber der Situation im geteilten Deutschland und Europa sogar revolutionär. Es wäre deshalb unsinnig von den jungen Politikern von heute zu erwarten, dass ihre Konzepte mit denen meiner Jugend identisch sind.
Eines aber ist geblieben: Wissenschaftliche Analytiker und journalistische Kommentatoren neigen zur Skepsis gegenüber der großen Zahl der Bundestagsabgeordneten, die in ihren Auffassungen und Verhaltensweisen durch ihre aktive Mitarbeit in den Jugendorganisationen der Parteien geprägt wurden. Anders die Parteien: Sie wissen aus Erfahrung, dass die aus den Jugendorganisationen stammenden Politiker eher als andere fähig sind, politische Ziele in den sehr konflikt-reichen, langwierigen und häufig auch frustrierenden demokratischen Prozessen in Parteien und Parlamenten in politische Mehrheitsentscheidungen umzusetzen. Dieses ist aber der entscheidende Unterschied, der einen erfolgreichen Analytiker und Kommentator von einem erfolgreichen Politiker unterscheidet.
Wer sich innerhalb einer politischen Jugendorganisation - und erst recht gilt dies für Parteien selber - durchsetzen will, muss prinzipiell zu einem langfristigen Engagement bereit sein. Die Bereitschaft zahlreicher Jugendlicher zur Beteiligung an außerparlamentarischen Aktionen fördert das politische Bewusstsein in unserer Gesellschaft. Das langfristige Engagement zahlreicher Jugendlicher in Menschenrechts-, Friedens- und Umweltgruppen ist ein unverzichtbarer Teil unserer demokratischen Kultur. Zahlreiche Mitglieder der Jugendorganisationen der Parteien sind zugleich Mitglieder in Basisinitiativen, Vereinen und Projektgruppen. Zugleich aber greifen sie Initiativen aus der Gesellschaft auf und bringen diese in die innerparteiliche und damit in den vorparlamentarischen Bereich ein. In den politischen Jugendorganisationen lernt man die Ziele von Einpunktbewegungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu diskutieren und zu bewerten.
Für den einzelnen Jugendlichen mag es wichtig sein, auf dem Wege über die Jugendorganisation eine Karriere in der Politik zu machen. Über die Attraktivität der politischen Jugendorganisation aber entscheidet ihre Fähigkeit, als Mittler zwischen Gesellschaft und Partei, Parlament und Regierung die Denkweisen, Ziele und Forderungen aus der Jugend erfolgreich in Entscheidungen der institutionalisierten Politik umzusetzen. Umgekehrt gilt auch: Die Macht und der Einfluss der Jugendorganisationen innerhalb ihrer Partei hängt entscheidend von ihrem Rückhalt in den politisch bewussten Teilen der Jugend ab.
Diese Scharnier- und Übersetzerfunktion der politischen Jugendorganisationen ist geblieben. Die Rahmenbedingungen unter denen sie sie ausüben müssen, haben sich seit Ende der 60er-Jahren grundlegend verändert.
Als ich 1962 als aktives Mitglied der evangelischen Jugend in die SPD eintrat, war das auch eine Reaktion auf den Bau der Berliner Mauer ein Jahr zuvor. Ich wollte mich als engagierter Christ und Deutscher nicht damit abfinden, durch Mauer und Stacheldraht von denen getrennt zu werden, mit denen ich noch im Jahr zuvor Pläne für eine gemeinsame Zukunft entworfen hatte. Die heutige Jugend muss demgegenüber die politischen Antworten auf die Öffnung der Grenzen in Europa, die Chancen und Risiken der Globalisierung und die zunehmende Entgrenzung der Gestaltungs- und Zerstörungsmöglichkeiten durch den technologischen Fortschritt finden.
Als ich 1969 zum Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten gewählt wurde, war ein großer Teil der Jugendlichen bereits durch die Studentenbewegung politisiert worden. Unser Ziel war, diese Jugendlichen von linkssektiererischen Gruppen weg hin zu einer reformsozialistischen Politik zu orientieren und damit zugleich die SPD zu verändern. Diese Chance haben wir genutzt.
In den Jahren nach 1969 erlebte die SPD und damit die Jungsozialisten einen bis dahin nicht gekannten Zustrom von jugendlichen Mitgliedern. Hierzu trug die Politik der sozialliberalen Koalition unter Führung von Willy Brandt, der Zerfall der außerparlamentarischen Opposition, aber auch die Attraktivität der Jungsozialis-ten bei. Ich war damals - anders als heute - noch nicht von der Stabilität der deutschen Demokratie überzeugt. Dazu saßen noch zu viele ehemalige Nazis in den Bürokratien und Kabinetten. Angesichts der Unterstützung von Diktaturen unter anderem in Griechenland, Spanien, Portugal, Chile und zeitweilig auch in der Türkei erschien mir eine Gleichstellung von westlicher Politik und demokratischen Werten keineswegs selbstverständlich. Für mich galt noch der Satz der Frankfurter Schule, dass man die Ursachen des Faschismus nicht beschreiben kann ohne vom Kapitalismus zu reden. Das erklärt die Vehemenz und Schärfe, mit der wir unsere alternativen Politikentwürfe dem damals noch dominierenden konservativen Konsens in den deutschen Eliten gegenüberstellten.
Deutschland ist im Jahre 2005 eine stabile Demokratie, die in Ost und West und Nord und Süd von ebenfalls stabilen Demokratien umgeben ist. Zugleich stellen sich heute angesichts wachsender Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Einkommens- und Vermögensunterschiede und offensichtlicher Umweltgefahren Fragen nach Fehlentwicklungen in der kapitalistischen Marktwirtschaft in Deutschland, in Europa und im globalen Kontext noch schärfer als zur Zeit meiner politischen Jugend. Auf diese Missstände nicht mit einem rechten oder linken Populismus, sondern mit reformerischen und damit handlungsrelevanten Konzepten zu reagieren, darin sehe ich die größte Herausforderung an die heutigen politischen Jugendorganisationen und den ihnen nahe stehenden Parteien.
Die Erfahrungen, die die politischen Jugendorganisationen heute sammeln, werden ihr künftiges Verhalten prägen und das politische Klima und die politische Kultur Deutschlands der kommenden Jahrzehnte entscheidend beeinflussen.
Nach den Bundestagswahlen stehen die meisten der im Bundestag vertretenen Parteien vor einem Generationswechsel. Wenn ich auf die politische Generation schaue, die sich in diesen Wochen auf die Übernahme wichtiger Ämter in den Parteien, den Fraktionen und in den Bundes- und Landesregierungen vorbereitet, dann bin ich zuversichtlich. Das gilt auch mit Blick auf diejenigen, die jetzt noch in den Jugendorganisationen aktiv sind, und deren Gesichter erst in zehn oder zwanzig Jahren einer bundesweiten Öffentlichkeit bekannt sein werden. Dass jugendliche Politiker auf Skepsis stoßen, ist nicht neu. Aber Skepsis ist heute genauso wenig berechtigt wie zu der Zeit, als manche Konservativen in mir als Jungsozialisten und später als parlamentarischem Neuling sogar eine Gefahr für die demokratische Ordnung zu sehen glaubten.
Der Autor war von 1969 bis 1972 Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Derzeit ist er Koordinator für deutsch-amerikanische Zusamenarbeit im Auswärtigen Amt.