Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht sich die Jugend in Deutschland einmal mehr mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei zu "unpolitisch" oder "politikverdrossen" - ein Vorwurf, den sich bereits viele Generationen vorhalten lassen mussten. So sehr sich die Beurteilungen über Jahrzehnte hinweg ähneln, so sehr haben sich jedoch die Umstände geändert. Dies wird häufig bei der Beurteilung der "Jugend von heute" unberücksichtigt gelassen.
Das Verhältnis von Jugend und Politik hat sich in den letzten 30 Jahren differenzierter gestaltet als gemeinhin angenommen. Die heutige junge Generation ist nicht deswegen als "unpolitisch" zu bezeichnen, weil sie nicht genauso aktiv politisch ist wie andere Generationen vor ihr. Der politische Diskurs hat mit und unter Jugendlichen nur eine andere Wendung erhalten. Es stehen nicht mehr Ideologien im Vordergrund der Auseinandersetzung, wie dies noch in der Zeit der 68er-Generation der Fall gewesen ist, sondern die sachbezogene Diskussion ohne zuviel Voreingenommenheit. Das seltener gewordene dauerhafte Bekenntnis zu einer Partei hat seine Ursache in der Veränderung der politischen Begebenheiten und nicht in der Veränderung der Jugendlichen selbst.
Zwar sind Jugendliche heute mit anderen Problemen und Sorgen konfrontiert als dies in anderen Jahrzehnten der Fall war. Das Interesse an Lösungen ist geblieben. Nur die Anforderungen und Erwartungen sind gestiegen - und damit die Schwelle zur Enttäuschung gesunken. Daraus darf allerdings kein allgemeines Desinteresse junger Menschen an der Politik hergeleitet werden. Die vielfach geäußerte Politikverdrossenheit ist hiermit nicht gleichzusetzen. Dass eine gewisse Ernüchterung bei Jugendlichen distanzierend wirkt, führt im Umkehrschluss nicht zu einem latenten Desinteresse, welches den Vorwurf einer "unpolitischen Jugend" rechtfertigen würde.
Das zeigt sich gerade an der Jungen Union (JU). Die JU Deutschlands ist mit rund 130.000 Mitgliedern der größte politische Jugendverband in Deutschland und Europa. Zwar hatte die JU im Jahre 1980 einen vorläufigen Mitgliederrekord mit knapp der doppelten Anzahl der Mitglieder. Doch der Beginn der 80er-Jahre war die Zeit großer Demonstrationen gegen das sowjetische Regime und für Abrüstung in Ost und West. Wir empfanden es damals nicht nur als unser Recht, sondern gar als unsere Pflicht, auch als jungchristliche Demokraten gegen Diktaturen aus dem linken ebenso wie aus dem rechten Spektrum zu demonstrieren.
Aus den absoluten Mitgliedszahlen einen Rück-schluss auf die gesamtpolitische Einstellung aller Jugendlichen ziehen zu wollen, wäre deshalb verfehlt, da die generelle Bereitschaft zu einer festen Parteizugehörigkeit und damit einer festgelegten Identifikation in den letzten Jahrzehnten in allen Gesellschaftsteilen zurückgegangen ist. Dies ist nicht einzelnen Generationen anzulasten. Vielmehr prägen gesellschaftliche Umstände und politische Ereignisse die nachfolgenden Generationen. Als die JU unter meiner Führung einen Mitgliederrekord verzeichnete, war dies eben auch eine Zeit der Mobilisierung, die gerade die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ergriff. Dies steigert natürlich die Bereitschaft, seine politischen Überzeugungen durch die Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation zu untermauern und sich in der Politik aktiv zu engagieren.
Ein weiterer Umstand ist zu bemerken: Zunehmend vollzieht sich ein Wertewandel bei der jungen Generation. Die Denkweise der 68er-Generation ist den Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute weitgehend fremd. Eine Rückbesinnung auf traditionelle Wertvorstellungen hat eingesetzt. So messen heute die Jugendlichen Werten wie Sicherheit, Vertrauen, Verantwortung und Pflichterfüllung die meiste Bedeutung bei, andere Wertorientierungen nehmen ab.
Wir leben heute in einer Zeit europäischer Integration und weltweiten Zusammenwachsens: Enorme Möglichkeiten eröffnen sich den jungen Menschen. Aber auch die Probleme, mit denen sie sich auseinanderzusetzen haben, sind andere als noch in den 70er-Jahren. Weiterbildung und Einstieg ins Berufsleben werden als größte Herausforderung empfunden. Die Bereitschaft zu sozialem oder politischem Engagement leidet häufig darunter.
Für eine Gestaltung der Demokratie ist es aber von größter Wichtigkeit, dass jede Generation ihre Ideen in die Politik einbringen kann. Für Parteien und politische Jugendorganisationen ist es deshalb besonders notwendig, dass sie ihre Türen weit öffnen für das Engagement gerade auch kritischer junger Menschen. Viel stärker als bisher müssen diese Institutionen eine positive Ausstrahlung gewinnen, die nicht den Eindruck hinterlässt, man müsse den kritischen Verstand beim Eintritt "an der Garderobe" abgeben. Schon eine kleine Gruppe engagierter Menschen könnte einen Orts- oder Kreisverband inspirieren und mobilisieren. Konzepte moderner Parteiarbeit zu entwickeln, gehört deshalb zu den großen Aufgaben der Volksparteien und ihrer Jugendorganisationen.
Matthias Wissmann war von 1973 bis 1983 Vorsitzender der Jungen
Union.