Es gab mal einen Lehrer, der versucht hat, Sükran für Politik zu interessieren. Er erzählte dem türkischen Mädchen, von dem er offenbar meinte, dass sie in einer Art Diktatur aufwachgewachsen sei, von den politischen Errungenschaften der westlichen Welt: Demokratie, Zivilgesellschaft, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Toleranz, Religionsfreiheit. Das sind so in etwa die Stichworte, von denen die heute 21-jährige Sükran meint, dass sie in dem Gespräch vor etwa fünf Jahren gefallen seien. Bei einem Reizwort ist sie sich ganz sicher, dass es fiel - und das baldige Ende der Unterhaltung einläutete: das Wahlrecht, das es jedem ermöglicht mitzuentscheiden, von wem das Land regiert werden soll. Sükran durfte nämlich nicht nur mit 16 nicht wählen - die gebürtige Berlinerin hat auch mit 21 in Deutschland kein Stimmrecht.
Zwar könnte sie sich einbürgern lassen, aber auch nach der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts nur, wenn sie ihren türkischen Pass abgibt. Das will oder kann sie nicht - aus "Gründen der Sentimentalität", wie sie sagt: "Ich komme aus einer türkischen Familie. Meine Eltern, meine Großeltern, und die Generationen davor haben ihr Leben in Anatolien verbracht. Das streicht man doch nicht einfach so aus meinem Leben."
Ein typischer Fall? Vielleicht. Fest steht jedenfalls: Von den 14 Millionen Menschen in Deutschland mit einem so genannten "Migrationshintergrund", die also entweder selbst aus dem Ausland stammen oder mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft haben, besitzt die Hälfte einen deutschen Pass - und die andere Hälfte nicht.
Nun mag man Wählen nicht für die einzige Möglichkeit der Mitbestimmung halten; gerade junge Menschen gehen ohnehin seltener zur Wahl als Erwachsene. Dennoch darf es wohl als verbrieft gelten, dass das Gefühl, "Bürger zweiter Klasse" mit weniger Rechten zu sein, für viele ein Grund ist, sich einerseits an Wahlen nicht zu beteiligen. Einschlägige Studien werfen ein deutliches Licht darauf, dass Kinder aus Zuwandererfamilien mit deutscher Politik nicht einmal dann viel zu tun haben wollen, wenn sie niemals woanders als in Deutschland gelebt haben. Sie interessieren sich weniger für politische Fragen, sind seltener politisch aktiv und auch in Vereinen oder Institutionen der Jugendarbeit seltener anzutreffen. Und obwohl es bei einigen Zuwanderergruppen deutliche Anzeichen für einen verstärkten Rückzug in die eigene Community gibt, ist auch der Grad der Selbstorganisation niedriger als bei ihren deutschen Altersgenossen.
Ein Bericht des Bundesjugendkuratoriums - eines Beratungsorgans der Bundesregierung - konstatiert "Unterrepräsentierung" von Jugendlichen. Sie resultiere auch daraus, dass ihnen "wichtige Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und politischer Partizipation vorenthalten" blieben: "Angebote der außerschulischen, kulturellen und politischen Institutionen erreichen ausländische Jugendliche häufig nicht und/oder sind auch gar nicht auf sie ausgerichtet." Ein bizarres Licht auf die mangelnde Ausrichtung wirft übrigens ein Blick auf die erst vor wenigen Jahren beendete Politik der Bundeszentrale für politische Bildung: Dort hatte man ausländische Jugendliche schon deswegen nicht im Blick, weil man per Definition nur für die Bildung deutscher Bürger zuständig war.
Fragt man Experten wie den Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer, ist der Zusammenhang zwischen der zunehmenden Desintegration ausländischer Jugendlicher, ihrer mangelnden Teilhabe an der Gesellschaft und immer unübersehbareren Konflikten mit der Mehrheitsgesellschaft augenfällig. Schon vor mehreren Jahren hat Heitmeyer für eine Studie deutsche und ausländische Schüler und Erwachsene in Müns-ter, Duisburg und Wuppertal befragt. Eine der zentralen Erkenntnisse war, dass die Gefahr der Ethnisierung von Konflikten besonders groß ist, wenn Menschen erstens wenige oder keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zweitens das Gefühl haben, politische Partizipation sei nicht möglich oder sinnlos. "Es gibt Gruppen ausländischer Jugendlicher die sich von der deutschen Gesellschaft abgekoppelt haben", sagt der Sozialforscher. Integration - und zwar als wechselseitiger Prozess - sei der einzige Weg, eine Zuspitzung der Konflikte zu verhindern. Für die deutsche Seite heiße das vor allem, die "Beteiligungschancen" zu verbessern. Heitmeyer: "Alibi-Veranstaltungen werden nicht reichen. Ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer wäre ein wesentlicher Schritt, aber auch andere Instrumente zur politischen Beteiligung wären sinnvoll."
Vor einer Zuspitzung der ethnischen Konflikte in den Großstädten warnen Sozialforscher wie Heitmeyer allerdings nicht in erster Linie, weil die dort lebenden Jugendlichen sich häufig nicht für Politik interessieren - sondern weil sie als Folge mangelnder Integration in übergroßer Zahl in deprivierten Verhältnissen leben: in heruntergekommenen Stadtteilen, mit wenig Bildung und oft ohne Zugang zum deutschen Ausbildungssystem.
Tatsächlich werden Migranten - und zwar jugendliche wie erwachsene - in Deutschland selbst in dem Ressort, das sie am meisten betrifft, kaum gehört: in der Migrations- und Integrationspolitik. Der Niederländer Ruud Koopmans, bis vor einem Jahr am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung tätig, hat die politische Beteiligung von Migranten in Deutschland und England verglichen und kommt zu einem klaren Ergebnis: In Deutschland nehmen sie nur halb so viele von der Öffentlichkeit wahrgenommene integrationspolitische Einmischungen vor wie in England. Dafür wenden sie sich doppelt so häufig Organisationen zu, die ausschließlich mit der Politik ihres Heimatlandes beschäftigt sind. Koopmans: "Die Tatsache, dass Deutschland Zuwanderer als Fremde behandelt, hat enorme Auswirkungen auf ihre Identität und ihre Haltung gegenüber der Gesellschaft, in der sie nur zu Gast sein sollen." Positiv vermerkt wird allerdings auch, dass mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts Schluss ist mit dem Grundsatz, dass nur Deutscher ist, wer Deutsche Eltern hat.
Bis dahin wird politische Partizipation vielleicht bleiben, was sie heute ist: eine Ausnahme, die, wenn sie stattfindet, von der Mehrheitsgesellschaft oft begieriger aufgenommen wird als von den Communities, aus denen sie erwächst. Als einige, allerdings nicht mehr ganz jugendliche Migranten vor wenigen Jahren die Gruppe "Kanak Attak" gründeten, wurde ihnen ein Interesse zuteil, das in keinem Verhältnis zur personellen Überschaubarkeit der Truppe stand. Endlich, freute sich die liberale deutsche Öffentlichkeit und vor allem die Presse, traute sich da jemand, ähnlich wie die selbst ernannten "Nigger" in den USA, ein Schmähwort zum stolzen Label umzudeuten und sich selbstbewusst der deutschen Gesellschaft entgegenzuwerfen.
Die Forderungen von Kanak Attak sprachen eine klare Sprache: Jenseits aller ethnischen Barrieren forderte die Gruppe ein Recht auf Leben fern von Identitätspolitiken, Zuschreibungen, exotischen Wahnvorstellungen. Das Motto: "Uns hängt die alte Leier vom Leben zwischen den Stühlen zum Hals heraus. Wir halten den Quatsch vom lässigen Zappen zwischen den Kulturen für windigen, postmodernen Kram. Wir fragen nicht nach Herkunft und Pass, sondern wenden uns gegen die Frage nach Herkunft und Pass."
Inzwischen ist es wieder ziemlich ruhig geworden um Kanak Attak. Was es aber immerhin gibt - und was zu einem Stück Normalität in einer globalen Welt geworden ist -, sind jene Kinder der zweiten Generation der Einwanderer, die ihre kulturellen Einflüsse ganz natürlich in eine bunter gewordene Gesellschaft tragen. Sie bringen, wie der Kieler Autor Feridun Zaimoglu, die "Kanak Sprak" als neudeutsche Sprache mit verschiedenen Wurzeln in die Literatur ein. Sie drehen Filme wie Fatih Akin, der die Geschichte von Einwandererkindern in das neue Zusammenleben deutscher Großstädte übersetzt. Oder sie erzählen wie Wladimir Kaminer Geschichten von Menschen, die sich trotz mancher Verwirrung ihren Platz in der Gesellschaft suchen und ihren Lebenswelt kreativ, selbstbewusst und bikulturell gestalten.
Die Menschen, von denen in diesen Geschichten die Rede ist, und die sich zwar langsam, aber sicher einen Teil der Öffentlichkeit erkämpfen, sind rein statistisch längst mehr Regel als Ausnahme: Fast jeder dritte Jugendliche in Deutschland wird in einer Familie groß, in der mindestens ein Mitglied aus dem Ausland stammt. In den Kulturhauptstädten Frankfurt, Hamburg und Berlin wird es bald jeder zweite sein.
Jeannette Goddar arbeitet als freie Journalistin in Berlin.