Das Parlament: Sie sind vor drei Jahren in den Bundestag gewählt worden. Haben sich Ihre Erwartungen an die Politik bestätigt oder ist die Realität ganz anders, als Sie sich vorgestellt hatten?
Anna Lührmann: Im Großen und Ganzen stimmte mein Bild. Was aber nicht gestimmt hat, war mein Eindruck, man könnte als einzelner Abgeordneter nicht so viel bewegen. Das sehe ich nicht mehr so. Wenn man anpackt und Mitglied einer Regierungsfraktion ist, kann man ziemlich viel verändern. Daher hat sich mein Bild von Politik eher verbessert.
Das Parlament: Der Bundestag ist für eine damals 19-Jährige kein normaler Arbeitsplatz mit genau definiertem Tätigkeitsfeld. Muss man den Bundestag als System erst mal begreifen?
Anna Lührmann: Ich hatte das Glück, dass mir einige Kollegen Tipps gegeben haben, Matthias Berninger zum Beispiel. Er hatte die Erfahrung schon hinter sich, wie es ist, als junger Mensch ins Parlament zu kommen. Aber eigentlich muss man selber seinen Stil finden. Man muss wissen, was man will, und auch klar gemacht haben, in welchen Ausschuss man möchte. Abgeordnete können sehr unterschiedliche Dinge tun und einen sehr unterschiedlichen Stil pflegen. Die einen arbeiten sich in die Kulturpolitik ein, die anderen verbringen das Wochenende auf dem Schützenfest im Wahlkreis, andere interessieren sich für Auswärtige Politik und sind ständig auf Reisen.
Das Parlament: War es ein Vorteil oder eher ein Nachteil, dass Sie als sehr junge Frau in den Bundestag kamen?
Anna Lührmann: Ein Vorteil. Und zwar nicht die Jugendlichkeit an sich, sondern das Phänomen, jüngste Abgeordnete zu sein. Das hat von Anfang an viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich stach gleich aus der Masse heraus, und das hat mich bekannt gemacht. Man kann dann viel leichter und schneller Themen setzen. Es ist auch ein Vorteil, wenn man mit ein bisschen frischem Wind herein kommt. Man hat dann oft mehr Biss als Leute, die schon 20 Jahre in der Kommunalpolitik gearbeitet haben. Ein Nachteil ist, dass man von einigen Kollegen, die viel älter sind, schon ein bisschen schief angeguckt wird. Gott sei Dank hat sich das relativ schnell gelegt.
Das Parlament: Wurden Sie schief angeguckt, weil Sie deren Tochter sein könnten?
Anna Lührmann: Ja, genau so. Die Vernünftigen haben dann aber schnell begriffen, dass ich auch inhaltlich gut mitreden kann. Wenn ich im Haushaltsausschuss, dessen Mitglied ich seit einem Jahr bin, inhaltlich CDU-Abgeordnete angreife, kommen von einigen allerdings immer noch Kommentare wie: "Wer hat Ihnen denn das schon wieder aufgeschrieben?" Wenn ich ein 60 Jahre alter Mann wäre, würden die Kollegen sich solche Kommentare nicht trauen. Aber letztlich sind das Bemerkungen, mit denen ich gut leben kann. Denn in Wahrheit ist das eine schwache Replik. Mit so einem Kommentar geben sie ja indirekt zu, dass mein Angriff inhaltlich stark ist.
Das Parlament: Und die eigene Fraktion?
Anna Lührmann: Von denen brauche ich Anerkennung. Und die haben sie mir auch gegeben, indem sie mich vor einem Jahr in den Haushaltsausschuss geschickt haben. Dort werden normalerweise nur alte Hasen Mitglied.
Das Parlament: Welches Image haben Sie versucht zu prägen?
Anna Lührmann: Da war ich in den ers-ten Jahren unschlüssig und habe mich in verschiedenen Richtungen ausprobiert. Am Anfang war ich ein bisschen zu angepasst und bin zu brav 'rumgelaufen. Ich habe immer probiert, das Grünsein und Jungsein ein bisschen überzukompensieren. In den vergangenen zwei Jahren habe ich einen Stil gefunden, der da-rauf ansetzt, eine Sprache zu sprechen, die auch junge Menschen verstehen. Ich betone jetzt auch stärker, dass ich ein ganz normaler junger Mensch bin, der in einer WG wohnt und gleichaltrige Freunde hat. Darüber habe ich auch im Wahlkampf probiert, junge Leute anzusprechen.
Das Parlament: Also nach dem Motto: Ich bin eine von Euch?
Anna Lührmann: Ja, auf jeden Fall. Das ist ganz wichtig, dass die jungen Wähler etwas Gemeinsames im Lebensgefühl bemerken. Auf meiner Homepage kann man auch merken, dass Politik zu machen nicht automatisch bedeutet, langweilig und schrecklich zu werden. Um junge Menschen zu erreichen, habe ich auf meiner Internetseite auch meine Lieblingsmusik, meine Lieblingsfilme und Lieblingsbücher angegeben. Es sind Inhalte, mit denen ich betone, ich bin genauso wie die anderen jungen Leute - außer in dem Punkt, dass ich ein bisschen mehr Geld verdiene.
Das Parlament: Hat sich in punkto Geld eine Diskrepanz eingestellt zu Gleichaltrigen, zu Ihren Freunden?
Anna Lührmann: Nee. Ich zahle auch nicht mehr Miete als andere Studenten. Ich fahre auch mit Freunden in Urlaub, die kein Geld haben. Das meiste von meinem Geld lege ich für später zurück. Ich will mich nicht jetzt schon an einen zu hohen Lebensstandard gewöhnen.
Das Parlament: Sie machen oft Veranstaltungen mit jungen Leuten. Wie begegnen Ihnen die Jugendlichen?
Anna Lührmann: Die meisten sind total überrascht, dass ich die Abgeordnete bin. Das habe ich gerade im Wahlkampf wieder erlebt. Wenn die Leute zu einem Infostand kommen, an dem ich angekündigt bin, fragen sie: "Ja, wo ist denn die Kandidatin?" Ich entspreche nicht dem Klischeebild. Aber ich glaube, dann stellen die Jugendlichen mir auch Fragen, die sie anderen Politikern nicht stellen würden. Was macht man den ganzen Tag? Was kann man bewirken? Wie viel verdient man? Das sind typische Dinge, die junge Leute wissen wollen. Ich probiere einen Bezug zu ihrer Lebensrealität herzustellen und erzähle, dass ich in die Politik gekommen bin, weil ich den Unterricht total langweilig fand. Ich rate den Schülern, sich erst mal in der Schülermitverantwortung zu engagieren, sich ein konkretes Ziel zu stecken. Oft kriege ich dann ein zustimmendes Kopfnicken. Und eines zeigen alle Umfragen: Die junge Generation ist nicht politikverdrossen, aber parteienverdrossen. Und strukturell ermüden Parteien ihre aktiven jungen Mitglieder immer wieder mit ewig langen Gremiensitzungen. Und da-rauf hat nun wirklich niemand Lust.
Das Parlament: Aber ohne Sitzungen geht es auch nicht...
Anna Lührmann: Aber man kann die unterschiedlich gestalten. Es gibt Flip-Charts, man kann gestraffte Tagesordnungen machen und sich mit den Redebeiträgen kurz fassen. Ich probiere immer wieder Tipps zu geben: "Setzt Euch ein konkretes Projekt. Guckt, dass ihr das mit zwei, drei Leuten zusammen macht. Zieht es durch." Ich habe beispielsweise auch versucht, in unserem Wahlkreis eine Grüne Jugend zu gründen. Das klappte nicht, was eben auch daran lag, dass wir zu oft Sitzungen ansetzten und die Leute die Ergebnisse nicht gesehen haben. Einer jungen Frau, die ich damals motivieren wollte, bin ich jetzt am Wochenende zufällig über den Weg gelaufen. Sie hat jetzt bei uns in der Gegend ein Jugendfestival organisiert. Das ist toll. Sie ist zwar letztlich leider nicht bei den Grünen gelandet. Aber egal: Sie macht etwas.
Das Parlament: Früher waren Jugendorganisationen von Parteien oft alles auf einmal: Clique, Lebensratgeber, Freizeitverein, Zeltlagerveranstalter. Die örtlichen Parteigliederungen haben versucht, Politik in den Alltag hinein zu tragen und etwas anzubieten, was jungen Leuten Spaß macht. Wie muss politische Bildung heute an junge Menschen herangetragen werden?
Anna Lührmann: Das Wichtigste ist für junge Leute, dass bei einer Aktion, bei einem Projekt etwa herauskommt. Kaum einer hat auf ein Seminar mit theoretischen Erörterungen Lust, denen nichts folgt. Deshalb ist jenseits von Parteiarbeit wichtig, an den Schulen das Mitbestimmungsrecht zu stärken. Durch den demokratischen Prozess der Wahl in der Schule lernen die Schüler, was es heißt mitzubestimmen und konkret etwas zu verändern. Selbstbestimmtes Handeln stärkt demokratisches Verständnis.
Das Parlament: Wie müssen die Angebote der Parteien strukturiert sein?
Anna Lührmann: Das Schlimmste ist, wenn zu Beginn der Streit über Satzungen steht. Das ist meist der Anfang vom Ende. In unserem Wahlkreis haben wir in einer Kneipe eine Art Stammtisch zu unterschiedlichen Themen gemacht. Das ist bei den Leuten angekommen. Auch viele Nicht-Grüne haben mitdiskutiert. Es ging beispielsweise um Schulpolitik, um Elterngeld oder um Arbeitsplätze. Im Wahlkampf hatten wir das Motto: Mach mit! Bei einer Aktion haben wir Bio-Limonade im Wald an Jogger verteilt und sind mit denen ins Gespräch gekommen. Das war sehr nett. Die Leute fanden das spannend, weil man im Wald nun wirklich keine Wahlkämpfer erwartet, auch keine grünen.
Das Parlament: Kann man politisches Interesse und politische Bildung über das Internet wecken?
Anna Lührmann: Das ist sogar mit das wichtigste Medium überhaupt. Deshalb habe ich auch verschiedene Buttons wie "Annas-MOBLOG" oder auch "Wer ist Anna?", "Was will Anna?" auf meiner Homepage. Da kann man sehen, was ich mache. Außerdem beteilige ich mich an anderen Weblogs, wo ich das politische Geschehen kommentiere und mit vielen anderen Usern ins Gespräch komme. Viele Jugendliche mailen mir auch und wollen zum Beispiel Tipps haben, wie man in der Politik aktiv werden kann. Das finde ich toll und schreibe natürlich zurück.
Das Parlament: Medien und Buchautoren erfinden immer wieder neue Generationen und neue Labels für ihre Erfindung. Was treibt Ihre Generation um?
Anna Lührmann: Derzeit geht es seit langem wieder um sehr grundsätzliche Fragen. Ich war in Göttingen und Kassel bei großen Schülerkongressen, wo die Frage im Mittelpunkt stand: Ist dies wirklich ein gerechtes System? Wollen wir immer mehr arbeiten? Wollen wir immer flexibler sein? Da gab es viele Teilnehmer, die anfingen, sich diese Fragen zu stellen. So vor vier, fünf Jahren haben mich und andere diese Fragen überhaupt nicht interessiert. In einer Gruppe von jungen Grünen, die "Realismus und Substanz" heißt, haben wir ein Papier geschrieben, das sich mit der Zukunft des Sozialstaats beschäftigt. Momentan sind es noch mehr Fragen als Antworten. Wir fragen uns, wie man besser - das heißt gerechter - mit demographischem Wandel umgeht? Wie kann man Globalisierung gestalten? Wie will man Verteilungsgerechtigkeit in der Zukunft herstellen?
Das Parlament: Ist dieses Nachdenken das Resultat der andauernden ökonomischen Krise, von der sehr viele Menschen betroffen sind?
Anna Lührmann: Ich denke, das hat damit etwas zu tun. Und für junge Menschen ist es wirklich nicht einfacher geworden. Im Gegenteil.
Das Parlament: Ist Politik für Sie nach wie vor glaubwürdig?
Anna Lührmann: Es gibt vieles an der Politik, was nicht glaubwürdig ist. Gerade, wenn immer wieder Skandale hoch kommen und irgendwelche Abgeordneten sich bereichert haben und anderen Interessen gedient haben, als sie öffentlich vorgegeben haben. Aber ich stelle mich dann trotzdem immer wieder hin und sage, dass es der großen Masse der Politiker darum geht, etwas für das Land zu verbessern. Aber ich merke natürlich, dass es ein Glaubwürdigkeitsproblem gibt. Ich versuche dann gegenüber Jugendlichen zu kontern, indem ich sage: "Okay, dann mach Du es doch mal besser."
Das Interview führte Annette Rollmann Annette Rollmann arbeitet als freie Journalistin in Berlin.