Ungewohnte Worte richtete der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse an die vollzählig versammelten Abgeordneten im Plenarsaal: "Seien sie noch ein wenig sie selbst! Suchen Sie lieber ihren eigenen Diskussionsstil und Ihre eigenen Wege, die notwendigen demokratischen Mehrheiten zu organisieren." Vor ihm saßen an diesem 25. Oktober vergangenen Jahres nicht die Abgeordneten von SPD, Union, FDP oder den Grünen. Vor ihm saßen Vertreter der APD (Arbeiterpartei Deutschlands), der KVP (Konservative Volkspartei), der ÖSP (Ökologisch-Soziale Partei) und der LRP (Liberale Reformpartei). Durchschnittsalter: 18 Jahre.
Vor einem Jahr fand die Veranstaltung "Jugend im Parlament" zum ersten Mal in dieser Form statt: das heißt in der Art eines so genannten "Planspiels", das zum Ziel hat, junge Menschen im Alter von 16 bis 20 Jahren "spielerisch" Demokratie erleben zu lassen. Während in den Jahren zuvor - seit 1984 gibt es diese Reihe jährlich - die Jugendlichen in Arbeitsgruppen eingeteilt wurden, die dann ihre Ausarbeitungen am Ende einem gemeinsamen Plenum vorstellten, geht es in der neuen Konzeption um mehr: Alle 300 Teilnehmer schlüpfen dabei in eine "Rolle" als Abgeordnete(r), die sich aber nicht nur über die Parteizugehörigkeit definiert. Es sind mit bestimmten Charaktereigenschaften und politischen Prioritäten ausgestattete Profile. Und so meldet sich während der anschließenden Debatte über einen Gesetzentwurf von ADP, KVP und ÖSP zum verbesserten Schutz Jugendlicher vor Alcopos ein junger Abgeordneter von der ADP mit den Worten: "Ich, Hans-Peter Petersen, habe vier Kinder und weiß, wovon ich spreche. Jugend und Verbraucherschutz ist mir eine Herzensangelenheit."
"Durch diese Rollenspiele erhalten die Jugendlichen einen direkten Einblick. Sie erleben spielerisch, wie ein Gesetzgebungsprozess abläuft, wie der Arbeitsalltag von Abgeordneten aussieht." Jochen Boekhoff ist im Referat Besucherdienst des Bundestages für die staatspolitischen Bildungs- und Jugendveranstaltungen verantwortlich. Er fügt hinzu, dass mit dieser Methode auch einem in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Bild entgegen gewirkt werden soll: der Meinung, dass, wenn Abgeordnete nicht im Plenum zu sehen sind, sie nichts zu tun hätten. "In unserem Planspiel wird deutlich, wie komplex das politische Geschehen wirklich und wie ,unwichtig' bei der Beurteilung die Situation im Plenarsaal ist." Denn letztlich fänden die langwierigen Detailarbeiten nicht dort, sondern in den Ausschüssen statt. Also konstituieren sich auch bei "Jugend im Parlament" Ausschüsse für Verkehr, Wirtschaft, Frauen und Familie und so weiter. Es geht um ein möglichst genaues Nachspiel des realen Parlamentsalltags. Jede Fraktion erarbeitet eigene Gesetzentwürfe zu vorher festgelegten Themen: neben dem Verbot von Alcopops auch zur "Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft" oder zur "Neugestaltung der Bundeswehr".
Ein Interesse für politische Bildung oder gar für ein politisches Engagement entsteht vor allem dann, wenn Jugendliche projektbezogen an konkreten Themen arbeiten können, die ihnen Aktion bieten - und Spaß. Um ein solches Projekt handelt es sich hier. Mit der Resonanz ist Boekhoff zufrieden. Am Ende der dreitätigen Veranstaltung fand eine Auswertung statt - mit einer "absolut positiven Rück-meldung". Eine Neuauflage 2005 sei zwar "mit der Wahl untergegangen", so Boekhoff. Jedoch stelle die vorgezogene Neuwahl des Bundestages die Veranstaltung keineswegs in Frage, sie finde nun im Mai 2006 statt.
Bildung durch direktes Erleben - auch die internationalen Parlamentspraktika (IPP), die der Bundestag anbietet, gehören dazu. Seit 1986 haben politisch engagierte Menschen jedes Jahr Gelegenheit, durch ein fünfmonatiges Praktikum bei einem Bundestagsabgeordneten das parlamentarische System der Bundesrepublik kennen zu lernen. Über 1.000 Stipendiaten nutzten das Programm bisher.
Für die jüngere Altersgruppen gibt es vier Mal im Jahr so genannte "Kindertage", an denen für 6- bis 14-Jährige kindgerechte Führungen durch die Gebäude des Bundestages angeboten werden.
Seit Juni 2004 bietet der Bundestag im Internet - ganz altersgerecht - ein eigenes Jugendforum an: mitmischen.de. Im Auftrag des Bundestages kreierte eine Berliner Mulitmedia-Agentur ein Webangebot mit der Botschaft: "Es geht um dich! Misch dich ein, sag deine Meinung, werde aktiv!"
Mitmischen.de bietet zum einen Hintergrundinformationen: über die Organisation und die Arbeitsweise des Parlaments, über neueste Entwicklungen in Sachen Neuwahl und Koalitionsverhandlungen, aber auch über das "Parlamentsdeutsch", wie eine Rubrik der in schrillen Farben gestalteten Website sich nennt. Hier kann man erfahren, was eine Aktuelle Stunde oder eine absolute Zweidrittelmehrheit ist.
Doch ohne Kommunikation geht es auch hier nicht. Im Gegenteil: "Die Grundidee war, eine Verbindung, einen Austausch zwischen Abgeordneten und Jugendlichen herzustellen", sagt Joachim Senger, einer der drei Redakteure. Also chattet die "Community" miteinander; nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch die Abgeordneten sind ein Teil davon. Jeden Monat bietet die Redaktion ein neues großes Thema an, stellt zunächst Beiträge darüber ins Netz, in denen sich die Jugendlichen informieren können, um dann miteinander zu reden. "Es geht darum, Jugendliche an politische Themen heranzuführen", sagt Senger. Mitmischen.de gibt aber nicht nur Themen vor, sondern fordert die Jugendlichen auch auf, sich eigene zu wünschen. Die Bandbreite ist groß, Wehrpflicht sei zum Beispiel immer wichtig für sie. "Am Anfang waren wir von dem anspruchsvollen Niveau sogar überrascht. Es ist eine Community, die sehr politikinteressiert ist."
Über 4.000 Jugendliche - vor allem 15- bis 20-Jährige - hätten sich inzwischen als registrierte, also regelmäßige Nutzer bei mitmischen.de angemeldet. An einigen Diskussionsforen beteiligten sich weit über 10.000 Jugendliche. Am beliebtesten seien die einstündigen Live-Chats mit Abgeordneten, so Senger. Die können, wenn sie möchten, hier Mitglied einer neuen Fraktion werden: der "Fraktion Mitmischen". Nun, nach den Neuwahlen, müsse sie sich allerdings auch erst wieder neu zusammenfinden. Denn immerhin gehöre dem Bundestag ja nun eine Fraktion mehr an. Regelmäßig trete man an die Abgeordneten heran, die in ihrer Fraktion Experten für das von mitmischen.de gewählte Thema sind, und versucht, sie für einen solchen Live-Chat zu engagieren. "Das Interesse ist vorhanden, aber noch nicht so, wie wir uns das wünschen", erläutert der 35-Jährige. "Die Möglichkeit muss einfach noch bekannter gemacht werden."
An jugendlicher Kreativität mangelt es jedenfalls nicht in den Diskussionsforen. Erst kürzlich wurden unter dem Stichwort "Was muss sich ändern?" sechs Monate lang "Ideen für ein besserers Deutschland" gesammelt. Zum Thema Schulsystem bemerkt ein User namens "mave": "Also, ich fände es besser, wenn Lehrer aus dem Beamtentum herausgenommen und somit unkündbar werden. Denn durch ihre Unkündbarkeit sind viele Lehrer gar nicht mehr richtig motiviert."
Eine andere Meinung weicht völlig vom Mainstream ab. "Anna86" fordert "mehr Geld für Politiker!" Ihre Begründung: "Die Diäten sollten deutlich angehoben werden, um die Politiker unabhängiger von Lobbyisten zu machen und um Politikerkarrieren für begabte Menschen attraktiver zu machen." Das wird sich die neue Bundesregierung wohl kaum leisten können.
Claudia Heine ist Redakteurin bei "Das Parlament.