Die Ethik im Islam garantiert - nach Überzeugung der meisten Muslime - eine Ordnung, die ins Einzelne geht und Orientierung für das Verhalten des Menschen gibt. Bezugspunkt ist der Wille Gottes. Die Ordnung ist somit theonom, ein Autonomieanspruch des Menschen besteht nicht. Damit steht sie im Widerspruch zur modernen Welt.
Die Ordnung Gottes ist vor allem im Koran, dem heiligen Buch der Muslime, zugrunde gelegt. Dort steht: "Die Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euch (beim Gebet) mit dem Gesicht nach Osten oder Westen wendet. Sie besteht vielmehr darin, dass man an Gott, den jüngsten Tag, die Engel, die Schrift und die Propheten glaubt und sein Geld - mag es einem noch lieb sein - den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem, der unterwegs ist, den Bettlern und (für den Loskauf von) Sklaven hergibt, das Gebet verrichtet und die Almosensteuer bezahlt. Und (Frömmigkeit zeigen) diejenigen, die, wenn sie eine Verpflichtung eingegangen sind, sie erfüllen, und die in Not und Ungemach und in Kriegszeiten geduldig sind. Sie sind wahrhaftig und gottesfürchtig" (Koran 2, 177). Glaube und rechtes Tun gehören demnach zusammen. Eine Trennung der beiden in ein religiöses Verhalten beim Gebet und einen von Gottes Normen unberührten Alltag widerspricht der göttlichen Ordnung.
Nach dem Tode Mohammeds (632 nach Christus) hat sich gezeigt, dass die im Koran zugrunde gelegte Ordnung zwar viele Einzelfälle anspricht, aber kein System enthält, aus dem sich ableiten lässt, wie neu auftretende Fragen beantwortet werden sollen. Deshalb kam als weitere Rechtsquelle das hinzu, was Mohammed persönlich gesagt hat (Hadith) und was er getan hat (Sunna). Die so genannte Adab-Literatur erläuterte daran das idealtypische Verhalten eines Muslims. Für ein Rechtssystem aber war das noch nicht genug.
Zu Koran, Hadith und Sunna kamen weitere Rechtsquellen hinzu: der Gelehrtenkonsens und der Analogieschluss sowie allgemein übliche Rechtsvorstellungen aus vorislamischer Zeit und je nach Gegend das dort allgemein akzeptierte Gewohnheitsrecht. Aus alledem sind dann um die Mitte des achten Jahrhunderts die Systematisierungen (Scharia) entwickelt worden, von denen die Rechtsschulen ausgehen. Somit findet sich in der Scharia Koranisches und Nichtkoranisches, Islamisches und Außerislamisches, göttliches Weisung und lokales Brauchtum nebeneinander.
Die islamische Ethik war unter den Muslimen unumstritten, bis europäisches Denken und europäische Werte für die islamische Welt zur Herausforderung wurden. So entstanden Probleme und kritische Anfragen. Fünf Problembereiche sind besonders kritisch: die Rolle der Frau, Menschenrechte, Demokratie, Religionsfreiheit und Gewalt.
Die Rolle der Frau war im traditionellen Islam durch die patriarchalische Vorherrschaft des Mannes geprägt. Der Mann war das Oberhaupt der Familie, er vertrat die Familie nach außen; die Frau war für das Haus und die Kinder zuständig. In der Moschee sind die Frauen - wie in den klassischen Synagogen - von den Männern getrennt. Schleier und Jungfräulichkeit der Frau bis zur Eheschließung galten als hohes Gut, über das die ganze Familie wacht, jeder Fehltritt wird streng geahndet, weil er die Familienehre verletzt. Koranisch lässt sich dies so nicht belegen. Rechtlich (als Zeugin vor Gericht, als Erbin oder bei einem Antrag auf Scheidung) ist die Frau dem Mann gegenüber nicht gleichgestellt. Moderne Forderungen nach Gleichbehandlung von Mann und Frau sind daher heftig umstritten, Fortschritte aber erkennbar.
Menschenrechte sind ein weiteres heikles Thema, vor allem auch deswegen, weil Westler meist auf individuelle Menschenrechtsverletzungen (etwa die koranischen Strafen wie Auspeitschen oder Handabhacken), Muslime dagegen auf kollektive Menschenrechtsverletzungen (zum Beispiel die Rechte des palästinensischen Volkes) zu sprechen kommen. Der Islam kennt klassisch keine Rechte des Menschen, sondern nur Pflichten - gegenüber Gott und der Gemeinschaft. Die Unmenschlichkeiten mancher Strafmaßnahmen werden klassisch durch Präzisierung der Anwendungsbedingungen gemildert, an eine generelle Abschaffung war nicht gedacht. Die Muslime in Europa wissen, dass dieses System keine Zukunft im modernen Staat hat. Ein solches Verbot kann im modernen Staat nicht aufrechterhalten werden.
Demokratie wird von den meisten Muslimen, die in westlichen Ländern leben, uneingeschränkt bejaht. Klassisch kennt der Islam nur eine Beratung für den Herrscher, in der viele Muslime ein Vorbild für die Einführung der Demokratie sehen. Eine totale Volkssouveränität dagegen kann es nicht geben, weil parlamentarische Mehrheiten nicht durch Mehrheitsentscheid Gesetze gegen die göttlichen Ordnung erlassen dürfen. Religionsfreiheit besteht im klassischen Islam nur eingeschränkt. So werden die so genannten "Leute des Buches" (Juden, Christen und andere Monotheisten) geduldet. Polytheisten, Atheisten und Anhänger von Propheten, die wie Baha'ullah nach Mohammed kamen, haben kein Existenzrecht in der islamischen Gemeinde. Muslimen sind Konversionen zu anderen Religionen untersagt. Muslimische Männer dürfen Frauen aus den "Leuten des Buches" heiraten, nicht aber umgekehrt. All das ist für den modernen Staat inakzeptabel.
Gewalt, Aggression und Terror sind für viele Nichtmuslime heute fast identisch mit dem Islam. Die meisten Muslime dagegen sehen ihre Religion als eine Aufforderung zum friedlichen Miteinander der Menschen. Der zentrale Begriff ist hierbei Dschihad. Das Wort - im Deutschen meist mit "Heiliger Krieg" übersetzt - heißt wörtlich weder "heilig" noch "Krieg", sondern "Anstrengung". In der mystischen Literatur des Islams unterscheidet man zwischen dem "kleinen Dschihad", der militärisch verstanden wird, und dem "großen Dschihad" als Kampf gegen das eigene Ich mit Hilfe von Fasten und Gebet. In den letzten Jahren bezeichneten häufig Terroristen ihren Kampf als Dschihad. Sie erklären damit die, die in diesem Kampf umkommen, zu Märtyrern und behaupten, dass sie ins Paradies eingehen. Die islamischen Autoritäten lehnen diese Interpretation ab, dennoch findet sie Anhänger unter den islamischen Extremisten.
Kritisch sehen viele Muslime den Individualismus, das globale kapitalistische Wirtschaftssystem und den Fortschritt in Wissenschaft, Technologie und Medizin ohne Beachtung der Ethik. Der Individualismus des Wes-tens stellt das Individuum und seine Bedürfnisse in den Vordergrund. Der Islam betont die Solidarität, Unterordnung und manchmal sogar den Verzicht auf eigenes Wollen zum Wohle der Gemeinschaft. Konkurrenzdenken und Ellenbogenmentalität werden als unislamisch abgelehnt. Das globale kapitalistische Wirtschaftssystem ist auf Profit ausgerichtet. Die islamische Ethik sieht darin eine falsche Prioritätensetzung. Sie sieht den Menschen als "Stellvertreter Gottes" (Sure 2, 30) auf Erden, der die Welt schöpferisch gestalten soll und nicht als Statist zusieht, wie sich der Teufelskreis der Sachzwänge verselbstständigt. Der Fortschritt in Wissenschaft, Technologie und Medizin wird bejaht, wenn gewährleistet ist, dass dabei nicht die zulässigen Grenzen der göttlichen Ordnung überschritten werden. Ethik und Fortschritt müssen aufeinander bezogen sein. Es gibt Divergenzen zwischen der klassischen Ordnung des Islams und dem modernen Staat. Ein Kompromiss aber ist möglich, weil der moderne Staat ausreichend Gestaltungsspielräume für individuelle Glaubensüberzeugungen und Handlungsweisen bietet, aber auch Grenzen setzt, wenn die Rechte anderer berührt sind.
Der Autor ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Hannover.