kosovo
Die Provinz hat eine neue Volksvertretung gewählt und besteht auf der Unabhängigkeit von Serbien
In diesen Tagen wird in Pristina darüber verhandelt, welcher kosovarische Politiker die vor ihrer Aufwertung zum jüngsten europäischen Staat stehende Provinz als Ministerpräsident in die Unabhängigkeit führen wird. Als aussichtsreichster Kandidat gilt Hashim Thaci, der ehemalige politische Führer (oder jedenfalls Sprecher) der "Befreiungsarmee Kosovo" (UCK), deren albanische Freischärler bis zum Jahr 1999 für die Loslösung des Gebietes von Serbien kämpften und dieses Ziel schließlich durch die militärische Unterstützung der Nato auch erreichten.
Thacis Demokratische Partei erhielt nach dem vorläufigen Wahlergebnis 34 Prozent der Stimmen und wird damit erstmals die größte Fraktion in die Volksvertretung in Pristina - die formal nur ein Übergangsparlament innerhalb des von den Vereinten Nationen verwalteten Protektorats ist - entsenden können. Doch benötigt Thaci mindestens einen Koalitionspartner, um als Ministerpräsident Nachfolger von Agim Ceku werden zu können, der ebenfalls eine UCK-Vergangenheit aufzuweisen hat: Ceku war in der Schlussphase des Krieges der militärische Befehlshaber der Freischärlertruppe. Diese biographischen Eckdaten sind keine Nebensache, denn Männern wie Ceku oder Thaci wird von ausländischen Diplomaten am ehesten zugetraut, die angestaute Frus-tration vor allem der jungen Bevölkerung über das Ausbleiben der seit Jahren erwarteten Unabhängigkeit unter Kontrolle halten zu können, bis der Vorstoß zur Anerkennung des Kosovos durch Washington und die meisten EU-Staaten im kommenden Frühjahr unter slowenischer Präsidentschaft dann tatsächlich kommen kann.
Als wahrscheinlicher Koalitionspartner Thacis gilt eine Partei, die zwar zweitstärkste Kraft wurde, zugleich aber die große Verliererin der Wahlen vom 17. November ist: Die Demokratische Liga (LDK) war zuvor stets die stärkste politische Kraft in der Provinz gewesen, ob nun im UN-Protektorat oder zuvor zur Zeit des serbischen Gewaltherrschers Slobodan Milosevic, als die Kosovo-Albaner unter der Führung des auf dem Balkan beinahe schon legendären Ibrahim Rugova ihren "Schattenstaat" aufgebaut hatten. Doch die LDK hat den Tod ihres Führers Rugova im Januar 2006 wie erwartet nicht gut überstanden. Es kam zu parteiinternen Querelen und Abspaltungen. Nach dem schwachen Wahlergebnis (21,8 Prozent) droht nun der weitere Zerfall der Partei, sollte sie sich in einer Koalitionsregierung mit Thaci nicht profilieren können.
Doch es ist nicht allein der Verlust ihrer Galionsfigur, die zum Einbruch der LDK geführt hat, sondern auch das Erscheinen der neuen Partei des aus dem Kosovo gebürtigen, aber seit langem von der Schweiz aus vor allem in Osteuropa tätigen Unternehmers Behgjet Pacolli. Pacolli warb für seine "Allianz Neues Kosovo" mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner in Lugano registrierten Firmengruppe "Mabetex". Die, so der Grundton seiner Kampagne, werde auch im Kosovo durch aufwändige Bauprojekte für Aufschwung und Arbeitsplätze sorgen. Es gilt indes als unwahrscheinlich, dass Pacollis Partei in die Koalition in Pristina aufgenommen wird, und dies nicht nur deshalb, weil Pacolli sich schwerlich als einfacher Minister in eine Regierung einfügen wollte und könnte. Als finanziell unabhängiger und durch seinen geschäftlichen Aufstieg im Russland der Jelzin-Jahre manchen auch als dubios geltender Unternehmer, der überdies kein politischer Kopf ist, wäre er nämlich weder in Washington noch in den EU-Hauptstädten ein gern gesehener Repräsentant einer kosovarischen Regierung. Thaci wiederum wird sich hüten, eine Regierung zu bilden, deren Zusammensetzung dem Westen nicht genehm ist, denn in den kommenden Monaten ist die Unterstützung des westlichen Teils der Staatengemeinschaft für das Kosovo wichtig wie nie seit 1999.
Eher scheint es möglich, dass Thaci der "Allianz für die Zukunft" (AAK, 9,9 Prozent) eine Mitarbeit in seiner Regierung anbietet. Diese Partei ist ebenfalls aus der UCK hervorgegangen. Geführt wird sie von einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ramush Haradinaj, der vor dem Haager UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien angeklagt ist. Seine Partei wurde von Pacolli als drittstärkste Kraft verdrängt, gilt aber weiterhin als wichtiger "lokaler Ordnungsfaktor" im Kosovo. Die knapp zehn Prozent der Stimmen, die sie erhielt, stammen nämlich im Wesentlichen aus der Heimatregion Haradinajs im Westen des Kosovos, wo dessen Clan einflussreich ist.
Doch wie auch immer die Koalitionsgespräche ausgehen werden - der Weg, den die neue Regierung einschlagen wird, scheint vorgezeichnet. Es gilt als sicher, dass das neue Parlament des Kosovos im ersten Quartal 2008, auf jeden Fall aber in der Zeit der slowenischen EU-Präsidentschaft, die Unabhängigkeit proklamieren wird. Die Lage erinnert, bei allen historischen Unterschieden, ein wenig an jene Montenegros vor dem Berliner Kongress 1878, als es für den kleinen Bergstaat an der Adria auch darum ging, die de facto längst errungene Unabhängigkeit vom osmanischen Reich durch die Großmächte anerkannt zu wissen. Auch das Kosovo ist, abgesehen von den Enklaven und dem serbisch besiedelten Norden um die ethnisch geteilte Stadt Mitrovica, de facto längst unabhängig. Was den Kosovo-Albanern fehlt, ist die völkerrechtliche Berücksichtigung dieses Faktums. Realistischerweise kann die kosovarische Unabhängigkeitserklärung daher nur in Abstimmung mit den USA und der EU vollzogen werden. Denn Unabhängigkeit entsteht nun einmal nicht durch ihre Proklamation allein - ohne die Anerkennung Washingtons und der Mehrheit der EU-Mitglieder bliebe ein solcher Akt für die Kosovaren kaum mehr als ein Stück Papier. Der Erwartungsdruck, unter den sich die kosovarischen Politiker durch ihre ständigen Versprechungen einer nahenden Unabhängigkeit selbst gesetzt haben, ist jedoch so groß, dass sie auf jeden Fall bald handeln müssen, um nicht vor ihrer eigenen Bevölkerung das Gesicht zu verlieren.
Serbien hat am 28. November, zum Abschluss der Kosovo-Verhandlungen unter Leitung der so genannten Troika, die aus Diplomaten der EU, Russlands und der USA besteht, noch einmal ein als Kompromiss deklariertes Modell vorgestellt. Staatspräsident Boris Tadic sagte, das Kosovo könne allen internationalen Organisationen mit Ausnahme der UN, der OSZE und des Europarates beitreten, Belgrad bestehe nur auf einer Kontrolle der Außenpolitik und der Grenzsicherung. Das Kosovo dürfe dagegen eine eigene Hymne und Flagge sowie eigene wirtschaftliche oder kulturelle Vertretungen im Ausland unterhalten. Auch dürften kosovarische Nationalteams getrennt von Serbien an allen Sportwettbewerben teilnehmen.
Doch dieser Vorstoß, der vielleicht vor einem Jahrzehnt noch eine Chance gehabt hätte, wurde von den Kosovo-Albanern erwartungsgemäß abgelehnt, sodass nach dem Ende der fast drei Tage währenden sechsten und letzten Gesprächsrunde unter Leitung der Troika in Baden (Österreich) deutlich wurde, was schon zu Beginn der Verhandlungen jeder Kenner der Region wusste: Ein Kompromiss zwischen Serbien und dem Kosovo in der Statusfrage ist nicht möglich. Die Unmöglichkeit einer besonders von Russland in obstruierender Absicht immer wieder geforderten "Lösung in beiderseitigem Einvernehmen" lässt sich deutlich aus der dürren Abschlusserklärung zu den serbisch-albanischen Gesprächen herauslesen: "Im Verlauf der Gespräche hat die Troika die Parteien dazu gedrängt, einen weiten Bereich von Möglichkeiten für den Status des Kosovos zu erwägen. Die Troika hat zusammen mit beiden Seiten jedes vernünftige Statusergebnis untersucht, um zu bestimmen, wo es womöglich Potenzial für ein wechselseitig akzeptables Resultat gibt. Leider waren die Parteien nicht in der Lage, eine Einigung über den künftigen Status des Kosovos zu finden."
Derzeit arbeitet die Troika, in der die EU durch Wolfgang Ischinger vertreten ist, den deutschen Botschafter in London, einen Bericht über ihre Vermittlungsarbeit aus, der im Dezember zunächst in Belgrad und Pristina, spätestens am 10. Dezember dann dem UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in New York präsentiert werden soll. Damit endet die Arbeit der Troika, deren wichtigster Teil gleichsam unter der diplomatisch-politischen Wasseroberfläche stattfand. Denn während die so genannten Verhandlungen zwischen Serben und Albanern eine Farce waren, deren Scheitern vom ersten Tag an außer Zweifel stehen musste, wurden auf anderer Ebene durchaus ernsthafte Gespräche geführt.
Es ging darum, eine möglichst einheitliche europäische Haltung zur künftigen Rolle der EU im Kosovo nach der Unabhängigkeit zu finden. Es galt, in den EU-Staaten ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das Kosovo, ob man dies nun mag oder nicht, in ers-ter Linie ein europäisches Problem ist und bleiben wird, dessen sich auch die Europäer annehmen müssen. Diese Erkenntnis, so ist aus diplomatischen Kreisen zu hören, habe sich im Laufe des Troika-Prozesses immer mehr auch in jenen Hauptstädten durchgesetzt, die sich ihr vorher verschlossen hatten.