1. Untersuchungsausschuss/
Berlin: (hib/KOS) Nach Darstellung von Justiz-Staatssekretär
Lutz Diwell hat die Türkei während der Gefangenschaft des
aus Bremen stammenden Türken Murat Kurnaz in Guantanamo keine
große Bereitschaft erkennen lassen, den Häftling im
Falle einer Freilassung durch die USA aufzunehmen. Deshalb
hätten Innenministerium und Auswärtiges Amt im Oktober
2005 angesichts der damals erkennbar werdenden Bewegung der
US-Behörden in dieser Affäre die Voraussetzungen für
die Erteilung eines Visums untersuchen lassen, das Kurnaz nach
einer Entlassung aus dem US-Lager auf Kuba für eine Einreise
nach Deutschland hätte beantragen müssen. Zum damaligen
Zeitpunkt sei dessen Aufenthaltsberechtigung noch erloschen
gewesen. Es habe geprüft werden sollen, so der unter
Innenminister Otto Schily zwischen Januar 2003 und November 2005
als Staatssekretär amtierende Diwell, ob gerichtsverwertbare
Gründe für die Ablehnung eines solchen Visums vorhanden
seien. Ein solches Vorgehen sei in Visumfragen üblich. Kurnaz,
der nach seiner Festnahme Ende 2001 in Pakistan mehrere Jahre
unschuldig in Guantanamo einsaß, kam im August 2006 frei und
konnte in die Bundesrepublik zurückkehren. Ende November 2005
hatte das Bremer Verwaltungsgericht entgegen der Auffassung des
Bundesinnenministeriums und des Bremer Innensenats entschieden,
dass die Aufenthaltsberechtigung des Türken weiter in Kraft
ist. Oppositionspolitiker werteten Diwells Aussage über das
fehlende Engagement Ankaras zugunsten von Kurnaz als "große
Überraschung", so der FDP-Abgeordnete Max Stadler. Aus dessen
Sicht wurden durch den Zeugen die Einlassungen des früheren
Kanzleramtschefs Frank-Walter Steinmeier vor dem Ausschuss
"erschüttert". Der heutige Außenminister hatte wie
andere Vertreter der früheren Regierung vor dem Gremium
erklärt, die angesichts des vor fünf Jahren bei Kurnaz
diagnostizierten Gefährdungspotenzials im Herbst 2002
verhängte Einreisesperre für den Fall einer Freilassung
habe dessen Haft in Guantanamo nicht verlängert -
schließlich habe dem türkischen Staatsbürger ja die
Türkei offen gestanden. Für Stadler belegt Diwells
Aussage hingegen, dass die entsprechende Bereitschaft Ankaras nie
verifiziert worden sei. Nach diesem Zeugenauftritt führte der
frühere Außenamts-Staatssekretär Jürgen
Chrobog aus, die Türkei habe sich für Kurnaz prinzipiell
für zuständig erklärt, er wisse jedoch nicht, was
deren Regierung konkret unternommen habe. Laut SPD-Obmann Thomas
Oppermann zeigen Aktenvermerke, dass sich Berlin und Ankara im
Januar 2006 in einer Demarche gemeinsam gegenüber Washington
für Kurnaz eingesetzt haben. Mehrere Parlamentarier wollten
von Diwell wissen, wieso nach dem Regierungswechsel im Herbst 2005
Kurnaz unter Kanzlerin Angela Merkel trotz der zuvor jahrelang
geltend gemachten Sicherheitsbedenken dann doch in die
Bundesrepublik habe zurückkehren können. Diese Wende
wurzelt für den Staatssekretär vor allem in der
geänderten Haltung der USA zu Guantanamo, was in Washington
auch im Fall Kurnaz eine "kommunikativ-kooperative" Position
bewirkt habe. In dieser Situation hätten auf deutscher Seite
humanitäre Aspekte an Gewicht gewonnen. In diesem Rahmen sei
auch das bei dem Bremer Türken einst festgestellte
Sicherheitsrisiko neu bewertet worden. Im Laufe der Jahre, so der
SPD-Abgeordnete Oppermann, habe sich das Gefährdungspotenzial
von Kurnaz relativiert. Der FDP-Politiker Stadler indes betonte,
dass schon seit 2002 von Kurnaz keine terroristische Bedrohung
ausgegangen sei, was unter Merkel endlich erkannt worden sei. Zudem
verbirgt sich aus Sicht der Opposition hinter der laut Diwell im
Oktober 2005 eingeleiteten Prüfung von Aspekten, welche die
Ablehnung eines von Kurnaz eventuell gestellten Visaantrags
hätten rechtfertigen können, die gezielte Suche nach
gerichtsverwertbaren Gründen für die Verweigerung einer
Einreise des Türken. "Man hatte nicht genug in der Hand", so
Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen);
"was gegenüber der Justiz hätte Bestand haben
können". Weder Ende 2005 noch in den Jahren zuvor, so Stadler,
hätten gerichtsverwertbare Tatsachen existiert, mit denen eine
Rückkehr von Kurnaz nach Deutschland hätte verhindert
werden können. Die Einschätzung der
Sicherheitsbehörden vom Herbst 2002, wonach der Bremer
Türke ein potenzieller Gefährder sei, "entsprach der
Logik", meinte der Zeuge Chrobog. Zu diesem Befund habe es nicht in
Widerspruch gestanden, so der frühere Staatssekretär,
dass sich das Auswärtige Amt gegenüber den USA um eine
humane Behandlung des Guantanamo-Häftlings bemüht habe.
Washington habe eine konsularische Betreuung von Kurnaz durch die
deutsche Botschaft wegen dessen türkischer
Staatsbürgerschaft jedoch abgelehnt.