Auch in der Großen Koalition klaffen Anspruch und Wirklichkeit bereits weit auseinander. Obwohl nicht nur Arbeitsmarktexperten und Wirtschaftswissen-schaftler immer wieder mit Nachdruck darauf hinweisen, dass es in Zukunft erforderlich sein wird, die älteren Arbeitnehmer erheblich länger im Arbeitsprozess zu halten, steuert die Bundesregierung noch längst nicht diesen Kurs. Obwohl seit mehr als 20 Jahren der Verlauf der demografischen Entwick-lung abzusehen ist, wurden immer neue Instrumente erfunden und von der Politik unterstützt, um die über 50-Jährigen zum "Alten Eisen" zu rechnen und abzuschieben. Und die Unternehmen ergriffen bereitwillig diese Möglichkeiten, obwohl sie wissen mussten, dass die Zahl der Erwerbspersonen im Laufe der nächsten Jahre ständig sinken wird.
Noch vor Jahresende hat das Bundeskabinett die so genannte 58er-Regelung noch einmal um zwei Jahre verlängert, um die älteren Arbeitnehmer nicht zusätzlich dafür zu bestrafen, dass sie zur Zeit auf dem Arbeitsmarkt überflüssig sind. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte dazu in einem Interview kurz nach dem Jahreswechsel: "Wenn wir erreichen wollen, dass ältere Menschen länger im Arbeitsprozess bleiben, dann sind alle Regelungen, die den Anreiz für eine Frühverrentung darstellen, zu stoppen."
Auf die Frage, was die deutsche Wirtschaft denn unternehme, um die Beschäftigungsquote älterer Mitarbeiter wieder anzuheben, räumte Hundt zunächst Fehler sowohl der Wirtschaft als auch der Gewerkschaften und der Politik ein. Anfang der 90er-Jahre habe hinter den Frühverrentungen der Gedanke gestanden, junge Menschen verstärkt in den Arbeitsprozess integrieren zu können. Nun müsse man feststellen, dass mit Blick auf die Zukunft es erforderlich sei, ältere Arbeitnehmer länger zu beschäftigen. Hier sei ein entschiedeneres Umdenken bei den Unternehmen erforderlich.
Die 58er-Regelung sieht vor, dass ältere Erwerbslose ab 58 Jahren zwar Leistungen der Bundesagentur für Arbeit beziehen, aber auf eigenen Wunsch aus der Vermittlungskartei gestrichen werden können. Damit sind sie von dem Druck befreit, sich bewerben zu müssen.
Bei einer im Jahre 2002 vom Institut für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung (IAB) durchgeführten Umfrage unter Betrieben hatten rund 15 Prozent der Unternehmen eingeräumt, die würden unter keinen Umständen mehr Ältere einstellen. Lediglich acht Prozent erklärten, sie würden über 50-Jährigen nur einen Job geben, wenn es keine jüngeren Bewerber gäbe. Die Personalpolitik der Unternehmen ist also trotz der bereits heute abzusehenden Personalknappheit zu stark auf die Jugend konzentriert.
Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt sich über diesen Trend in Deutschland beunruhigt. Sie kommt zu dem Schluss, die Deutschen hätten es sträflich versäumt, ältere Arbeitnehmer mit ihrem Erfahrungsschatz für den Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Es könne sogar mit einem rückläufigen Wirtschaftswachstum gerechnet werden, wenn in der Beschäftigungspolitik das Ruder nicht herumgerissen werde. Es bestehe die Gefahr, dass das Wachstum bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben geringer ausfalle, heißt es in dem Bericht.
In Deutschland sind lediglich 40 Prozent der 44- bis 64-Jährigen erwerbstätig, in den USA und in Großbritannien sind es immerhin um 50 Prozent. In Schweden beträgt der Anteil sogar 70 Prozent. Das hat dazu geführt, dass die Rentenaufwendungen des Staates in Deutschland mit zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu den höchsten innerhalb der OECD gehören. Werde diese Entwicklung nicht gestoppt, beziehungsweise umgekehrt, dann werde die Belastung angesichts steigender Lebenserwartung noch zunehmen.
Zwar seien die Reformen bei der Rente auf dem Arbeitsmarkt als durchaus positiv anzusehen, doch reichten die bisherigen Maßnahmen nicht aus. In den kommenden zehn bis 20 Jahren würde aufgrund der Geburtenentwicklung die Zahl der Erwerbstätigen stark zurückgehen, hinzu komme die wachsende Alterung. Bekanntlich hat die Große Koalition in ihrem Regierungsprogramm eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre vorgesehen. Zwar wird dies in dem Bericht der OECD begrüßt, zugleich aber werden die Übergangsfristen als zu lang kritisiert.
Die OECD will Arbeitgeber, wenn sie Ältere einstellen, finanziell belohnt wissen; genaue Zahlen werden jedoch nicht genannt. Anreize zur Frühverrentung sollten abgeschafft werden. Der Schwierigkeit, ältere Arbeitnehmer bevorzugt wieder einzustellen, sollte durch rechtzeitige Fortbildung begegnet werden. Die OECD bemängelt, dass die Weiterbildung in Deutschland meist bei Arbeitnehmern ende, die maximal 40 Jahre alt seien. Die Betriebe scheinen der Auffassung zu sein, diese Investition lohne sich ab einem gewissen Alter nicht mehr. Die Mentalität gegenüber den Älteren müsse sich ändern, heißt es in dem Bericht. Andere Länder wie Schweden und Frankreich gingen mit gutem Beispiel voran.
Allein im November vergangenen Jahres waren mehr als 396.000 Männer und Frauen über 55 Jahre ohne Arbeit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beklagt unterdessen eine "offensichtliche Altersdiskriminierung" in den Personalbüros der deutschen Firmen.
Ein Urteil gegen die Diskriminierung älterer Arbeitnehmer hat kürzlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) gesprochen. Danach dürfen ältere Arbeitnehmer nicht mehr in beliebiger Abfolge mit jeweils befristeten Arbeitsverträgen beschäftigt werden. Diese Regelung ist ein Teil der Hartz-Gesetze. Mit ihr wollte die frühere rot-grüne Regierung die Einstellungschancen für ältere Arbeitnehmer verbessern. Zur Zeit dürfen Arbeitnehmer unter 52 Jahren nur maximal zwei Jahre lang befristet beschäftigt werden. In der Praxis hat das nicht dazu geführt, dass mehr Ältere eingestellt worden sind.
Nun müssen Arbeitgeber sogar befürchten, dass bereits vertraglich vereinbarte Befristungen auf Basis des vor mehr als zwei Jahren geänderten Gesetzes unwirksam werden. Das Arbeitsverhältnis wäre dann automatisch ein unbefristetes.