Das Parlament: Ein alter Song der 80er-Jahre-Band "DAF" heißt: "Verschwende Deine Jugend". Ist das auch die Parole unserer Zeit?
Wolf Lotter : Wir müssen uns voll verausgaben, unsere Möglichkeiten bis zum Anschlag ausnutzen - das ist meine Vorstellung von Verschwendung. Wir können den Jugendlichen nicht immer nur sagen, dass sie keine Zukunftsperspektiven haben. Die Generation vor ihr hat alles auf den Putz gehauen - und jetzt sagt sie den Nachgeborenen: Spart und schränkt euch ein. Das ist Unfug. Die Jungen dürfen sich nicht veralbern lassen. In der alten Arbeitswelt ist für sie nichts mehr zu holen. Ich schlage deshalb vor, dass alle ihre Kräfte und Talente verschwenderisch einsetzen, um sich auf eigene Beine zu stellen. Die Strukturen dafür sind in Deutschland heute schlecht. Deshalb müssen wir sie ändern. Dann kriegen wir auch mehr von allem.
Das Parlament: Also gemäß des DAF-Songs, in dem es auch heißt: "Nimm Dir was Du willst, solang Du nur noch kannst?"
Wolf Lotter: Ja, sicher. Es wäre ziemlich einfältig, als Jugendlicher jetzt darauf zu warten, dass die goldenen Zeiten des Angestelltenlebens wieder kommen. Oder zu hoffen, dass sich eine Wirtschaft und Gesellschaft gesundsparen kann. Das ist ökonomischer Unfug, der aus politischen Gründen erzählt wird. Verschwendung bedeutet, dass wir erkennen, unsere Chancen voll zu nutzen und uns nicht von vornherein in ein enges Korsett vorgefasster, alter und heute nicht mehr praktikabler Lebensläufe zwingen lassen.
Das Parlament: In der Mai-Ausgabe von "brandeins" heißt es über die deutsche Geisteshaltung: Vom Büfett wollen wir immer nur die Sahnetorte. Bedeutet selbstständig sein, zu wissen, was man will?
Wolf Lotter : Selbstständig ist ein anderes Wort für Freiheit. Und Sahnetorte ist nicht schlecht. Aber viele sind nicht bereit, Mühen und Anstrengungen auf sich zu nehmen, und finden jede Art von Ausrede. Viele, auch junge Leute, machen es sich zu einfach. Sie wollen, dass andere für sie denken, entscheiden. Und wie ihre Eltern lieben sie die Übersicht. Aber das ist trügerisch: Vereinfachung heißt, dass keine neuen Ideen entstehen, und daraus entstehen auch keine Jobs. Verschwendung ist für mich, dass wir uns richtig verausgaben, anstrengen, weil es ein tolles Gefühl ist, Neues zu schaffen, vor allem dann, wenn das Alte so wenig Perspektive für viele hat.
Das Parlament: Sie predigen also die Verschwendung und sagen: Es gibt keine zukunftsfähige Gesellschaft, die nicht auf Überfluss zielt. Ist das gerade heutzutage nicht ein bisschen naiv?
Wolf Lotter: Ich weiß, ich kann den deutschen Sprachgebrauch von Verschwendung nicht ändern. Aber naiv ist ganz was anderes: Wer meint, man könne in einer globalen Welt ohne die Fähigkeit, Vielfalt und Unterschiede zu nutzen, überleben, der ist naiv. Wer nur antiglobal ist und antiunternehmerisch, wer sich bei jeder Gelegenheit auf den Staat beruft, der ist naiv. Wer meint, er könne sich für die schlechten Zeiten was zur Seite legen, der ist naiv. Konsum treibt den Wohlstand an. Wer nichts Neues schafft, geht unter. Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, eine zukunftsfähige Gesellschaft aufzubauen. Die Alten machen das nicht mehr.
Das Parlament: Die Gesellschaft vergeudet also ihre Jugend, indem sie sie als Generation Praktikum nutzt?
Wolf Lotter Für Deutschland würde ich das hundertprozentig unterschreiben. Die Jungen machen sich aber auch selbst etwas vor, wenn sie glauben, dadurch würden sie die Jobs ihrer Eltern kriegen. Die Industrie stellt in Deutschland nur noch 20 Prozent der Arbeitsplätze, und Automatisierung wird auch im Dienstleistungsbereich Hunderttausende, vielleicht Millionen Jobs beseitigen. Das dürfen wir nicht beklagen, damit müssen wir lernen umzugehen, wenn wir nicht zurück in die Vergangenheit wollen. Mehr forschen, mehr entdecken, mehr Freiräume schaffen. Richtig verschwenderisch wirtschaften heißt auch, das jeder das tut, was er am besten kann. Nur dann entsteht mehr.
Das Parlament: Wie kann bei dieser Form der Selbstständigkeit noch von gesellschaftlicher Verantwortung die Rede sein?
Wolf Lotter: Im Grunde ist Verantwortung eine Form von Nachhaltigkeit. Nur habe ich etwas gegen die inflationäre und falsche Verwendung des Wortes: Hautcremes, Puddings, Hundefutter, überall steht nachhaltig drauf. Ich plädiere für mehr Begriffsschärfe. Denn Nachhaltigkeit bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass wir die Welt besser verlassen, als wir sie betreten haben. Wenn die heute 20-Jährigen 50, 60 sind, werden sie in einer anderen Welt leben als heute. Der alte Sozialstaat wird nie wiederkommen. Ohne Eigenverantwortung geht nichts mehr. Sie müssen sich sagen: Wir können unser Glück auch woanders suchen, in Australien oder Kanada, nicht nur zu Hause im Sozialstaat. Und man muss den jungen Leuten klar machen, dass es nur einen einzigen Weg gibt, ein gutes Leben zu führen: etwas für andere zu tun, sich unternehmerisch zu engagieren, sich als Generation umeinander zu kümmern.
Das Parlament: Es gibt doch bereits einen Generationenvertrag.
Wolf Lotter Wirklich? De facto gibt es ihn nicht mehr. Die jungen Generationen zahlen dass, was der Fürsorgestaat vorher ausgegeben hat. Ist das solidarisch? Eher nicht. Der alte Sozialstaat ging von unbegrenzten Ressourcen aus, hoffte immer auf Wachstum, um weiter umverteilen zu können. Wie wäre es mal mit Nachdenken: Von nichts kommt nichts, heißt es. Vieles von dem, was heute durch Umverteilung bezahlt wird, müssen wir künftig auf Basis freiwilliger Arbeit machen: Parks aufräumen, kranke Nachbarn und Angehörige pflegen.
Das Parlament: Wie sollte sich diese Erkenntnis durchsetzen?
Wolf Lotter: Ich würde mir wünschen, dass es mehr Selbstinitiative gibt, damit nicht die Not den Fahrplan diktiert. Wenn die Studenten an den Unis darüber klagen, dass die Hörsäle überfüllt sind, dann sollten sie sich einfach ein paar Professoren schnappen und konkrete Lösungen suchen. In dieser Hinsicht könnten sie von der 68-er Bewegung sehr viel lernen. Ich finde, viele Ziele von damals waren falsch, aber sich gegen Bevormundung aktiv zu wehren und eigene Strukturen zu denken, dass ist richtig. Das bringt mehr, als darauf zu bauen, dass andere sich schon um einen kümmern werden.
Das Parlament: Wünschen Sie sich mehr Ungehorsam, mehr Jugendlichkeit im wirtschaftlichen und politischen Denken?
Wolf Lotter: Jugendlichkeit heißt, dass man mit vollem Herzen nach neuen Möglichkeiten sucht. Denn die, die sich nicht verändern wollen, sind die Verlierer der kommenden Zeit. Wer jung denkt, denkt nicht: Ich habe ein Leben, das sich planen lässt, in dem ich heute schon weiß, was ich mit 60 mache. Wer sich gegen "simplify your life" wehrt, muss sich der Vielfalt zuwenden und verschwenderisch mit ihr umgehen, was ja nicht kopflos heißt, im Gegenteil. Mehr in Varianten und Alternativen zu denken, hat noch niemandem geschadet. Aber leider liegt "simplify your life" im Trend. Und diese Haltung ist echt einfältig.
Das Parlament: Mit anderen Worten: Vielfalt statt Einfalt?
Wolf Lotter Ein Ex-McKinsey-Manager hat mir neulich gesagt: Die einzige Chance der Menschheit ist, vom finsteren Stern der Knappheit zu leben. Mit dieser Einstellung hätten wir keine Kultur und auch keine multikulturelle Gesellschaft, wir würden keine Mode brauchen und keine Innovationen. Essen, Schlafen, Trinken, ein bisschen Sex, das würde reichen, um uns über Wasser zu halten. Nur ist das eine Logik aus der frühen Steinzeit. Die Paläste, die in Florenz und Rom verschwenderisch hin gepflanzt wurden, nützen noch heutigen Generationen. Mit Touristen, die das sehen wollen, verdient die Republik Italien mehr als mit ihrer maroden Industrie. Solche Antworten müssen wir suchen. Jeder, der mehr hat als eine Antwort auf ein Problem, ist ein guter Verschwender.
Das Interview führte Anne Haeming