Als ich in Rente ging, bekam ich erstmal zu Hause Ärger, erinnert sich Heinz Pawlinski*. Vor gut zehn Jahren schickte man den früheren Bergmann in die Anpassung, wie das in der Montanindustrie genannt wird. Pawlinski hatte zunächst Orientierungsschwierigkeiten. "Ich wollte meiner Frau erklären, das ist alles falsch, wie du den Haushalt organisiert, das kannst du viel rationeller machen." Weil seine familiären Einmischungsversuche alles andere als gut ankamen, suchte er sich bald andere Betätigungsfelder: Er nahm Kontakt zur Initiative "Zwischen Arbeit und Ruhestand" auf. ZWAR, so die Abkürzung, ist ein Zusammenschluss von mehr als hundert Frührentner-Gruppen im Ruhrgebiet. Das Projekt entstand Mitte der 80er-Jahre an der Altenakademie der Universität Dortmund. Die meisten Beteiligten waren damals noch keine 60 Jahre alt. Nach ihrem letzten Arbeitstag wussten viele wenig mit sich anzufangen. Der eine widmet sich seinem Garten, der andere macht ein bisschen mehr am Haus, schildert Josef Franken* den Alltag der Frührentner. Es gibt auch welche, die in ein tiefes Loch geraten sind. Die haben einen ganz gezielten Plan des Morgens: Der große Treff vor der Theke von halb zehn bis halb eins, dann wird gegessen, der obligate Mittagsschlaf, und dann geht' s zum Dämmerschoppen!
ZWAR-Aktivist Franken kam mit der neuen Lebenssituation gut zurecht, doch für viele seiner einstigen Kollegen führte das abrupte Ende des gewohnten Alltags in eine persönliche Krise. Das Projekt reagierte darauf mit Angeboten vielfältiger Art: mit Geschichtswerkstätten in den Stadtteilen, dem gemeinsamen Bau und der späteren Wartung eines Segelbootes, mit Möglichkeiten für soziales Engagement. Im Ruhrgebiet entstand auf diese Weise ein dichtes Netzwerk ehrenamtlicher und selbst organisierter Aktivitäten. Aber wäre es nicht sinnvoller gewesen, die dabei zu Tage tretende Vitalität und Energie der Älteren weiterhin in den Unternehmen zu nutzen?
Die Wissenschaftler am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) sind davon überzeugt. Es gebe einen großen Unterschied zwischen der Erwerbsarbeit und dem, was ich in meinem Garten und im Sport mache, betont IAO-Leiter Hans-Jörg Bullinger. Sie setzen sich für einen Kurswechsel in der betrieblichen Personalpolitik ein.
Ein älterer Arbeitnehmer zu sein, gilt auf dem Arbeitsmarkt nicht als Positiv-, sondern als Risikofaktor, heißt es nüchtern in einem Bericht der Bundesagentur für Arbeit. Nach einer Untersuchung des Gelsenkirchener Instituts Arbeit und Technik (IAT) sind 15 Prozent der deutschen Unternehmen grundsätzlich nicht bereit, Ältere einzustellen. Fast jede dritte Firma gab in der Befragung an, nur dann auf Über-50-Jährige zurückzugreifen, wenn finanzielle Zuschüsse gezahlt würden oder es keine jüngeren Bewerber gäbe. Nur jeder zweite Betrieb war bereit, Ältere ohne Bedingungen gleich zu behandeln.
Auch viele Beschäftigte wollen nicht unbedingt bis zum Alter von 67 oder gar 70 Jahren in der Erwerbswelt produktiv sein, wie das die Arbeitswissenschaftler fordern. Die Mitglieder der ZWAR-Gruppen zum Beispiel engagieren sich lieber für soziale und kulturelle Zwecke. Dem negativen Klischee des Dämmerschoppens setzen sie einen erfüllten Ruhestand entgegen. Die Widerstände gegen die Heraufsetzung des Rentenalters beruhen auf der Erfahrung, dass Älteren gerade an Industriearbeitsplätzen zu viel zugemutet wird. Die betriebliche Organisation von Unternehmen orientiert sich an den Olympiamannschaften, wie sie von Gewerkschaftern ironisch bezeichnet werden: an den jungen, scheinbar beliebig verfügbaren und gesundheitlich nicht eingeschränkten Beschäftigten.
Berufspraxis wird in Bewerbungsgesprächen zwar positiv gewertet. Doch langjährige Erfahrung beim gleichen Arbeitgeber mit ähnlichem Aufgabengebiet gilt manchen Personalern fast schon als Manko. Das vermindere die Lernfähigkeit, behaupten auch die Nürnberger Arbeitsmarktforscher. Die Leistungsprobleme Älterer seien keineswegs die Folge eines natürlichen Abbaus von Befähigungen, sondern das Ergebnis von Tätigkeiten, in denen es nichts zu lernen gibt. Nur wer die Chance habe, sich Neuem zu stellen, behalte seine Kreativität und geistige Frische. Bisher finden sich nur in einzelnen Großunternehmen personalpolitische Konzepte einer Lebenslaufplanung für unterforderte ältere Arbeitnehmer. Die meisten Betriebe sind weder bereit noch in der Lage, sich auf das Altern der Gesellschaft und ihrer Belegschaften einzustellen, kritisiert das Institut Arbeit und Technik. Betriebliche Abläufe seien zu wenig auf Ältere zugeschnitten, zudem fehle ein spezifisches Weiterbildungsangebot für Leute ab 45. Ursache, so IAT-Forscher Martin Brussig, sei oft nicht einmal die Diskriminierung Älterer, sondern einfach Unwissenheit.
Gemischte Arbeitsgruppen als Scharnier zwischen Routine und neuem Wissen gelten als ein Modell, das sich wirtschaftlich rechnet. Stärker als bei jüngeren Beschäftigten können Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufeinander zählen. Ältere sind meist sehr loyal, das Bedürfnis nach Abwechslung und Experimenten gestillt. Doch lediglich einige Pioniere praktizieren bisher den ausgewogenen Altersmix, den die Wissenschaftler fordern. Neben dem schwäbischen Ingenieurdienstleister Fahrion profilierten sich etwa der Automobilzulieferer Brose aus Coburg und die Supermarktkette Netto mit der neuen Personalpolitik: Sie stellten gezielt Leute ein, die die angeblich kritische Altersgrenze überschritten haben. Die Vorreiter der silbernen Transformation glauben, dass es sich lohnt, den Älteren attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten und ihr Arbeitsumfeld umzugestalten. Solange diese Entwick-lung noch in den Kinderschuhen streckt, lässt sich nachvollziehen, dass viele Arbeitnehmer andere Pläne verfolgen: Sie ziehen es wie Heinz Pawlinski und Josef Franken vor, früh in Rente gehen und sich im Ruhestand zwar ebenfalls produktiv, aber ohne Bezahlung sinnvoll zu engagieren.
* Namen geändert