Als die Große Koalition Ende 2005 ihre Arbeit aufnahm, war der fast schon vergessene Kanzler der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 wieder oft im Bild zu sehen. Aufnahmen aus fernen Zeiten wurden bemüht: Kurt Georg Kiesinger als gereizter Wahlkämpfer, als präsidial wirkender Kanzler bei Kabinettssitzungen, und auch die Ohrfeige von Beate Klarsfeld durfte nicht fehlen. Kiesinger sei NSDAP-Mitglied gewesen, ließ die Kommentierung dazu wissen. Über die Leistungen seiner Koalition verloren die meisten Kommentatoren kaum ein Wort, hatten sich doch noch nie deren vorzeigbaren Ergebnisse auf den ersten Blick erschlossen. Oft bemühte Vorurteile von der Koalition als permanentem Vermittlungsausschuss rückten daher in den Vordergrund. Das alles dürfte kaum weiter verwundern. Mit Kiesinger, dem Kanzler mit der kürzesten Amtszeit, vermag man, anders als mit seinen Vorgängern und Nachfolgern, konkrete politische Erfolge nicht zu verbinden. Auch seine 1989 erschienenen Erinnerungen, in denen die Jahre bis 1958 behandelt wurden, waren kaum wahrgenommen worden. "Dunkle und helle Jahre" hat er sie genannt - eine für Kiesinger wohl typische Sichtweise.
Mit der Habilitationsschrift Philipp Gasserts liegt nun erstmals eine umfassende, sehr überzeugende und auf breiter Quellenbasis fußende Untersuchung über Kiesinger vor. Sie ist brillant formuliert und geht weit über den Rahmen einer biografischen Darstellung hinaus. Seine Jahre als Kanzler sind auf ein knappes Drittel bemessen, immerhin blickte der 1904 in Ebingen geborene Jurist auf ein langes Politikerleben vor Übernahme der Kanzlerschaft zurück. Im Bundestag, dem er seit 1949 angehörte, stand er im Rufe eines glänzenden Redners und amtierte als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Höherwertige Berufungen, etwa in das Kabinett, unterstützte Adenauer, der in ihm zwar keinen unmittelbaren Rivalen, aber doch einen der kommenden Männer erblickte, nur mäßig. Zu gerne nahm daher der enttäuschte Kiesinger, der 1957 fest damit gerechnet hatte, Bundesjustizminister zu werden, im Jahr darauf das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten an.
Seine politisch besten Jahre sollte Kiesinger, wie von Gassert ausführlich dargelegt, tatsächlich in Stuttgart erleben. Er führte das Land aus der Enge der Nach-kriegszeit heraus, wirkte schon damals visionär und machte sich als Universitätsgründer in Konstanz, Mannheim und Ulm einen Namen. Der polyglotte Politiker wirkte dort indes unterfordert.
Der sich anschließende Gang ins Kanzleramt sollte ihn jedoch voll fordern. Wie schon zuvor in Stuttgart wurde Kiesinger von seiner Vergangenheit als NSDAP-Mitglied eingeholt. Kiesingers persönliche Erklärungen, er sei nicht aus Überzeugung und nicht aus Opportunismus der Partei beigetreten, verfingen bei seinen Kritikern nicht, andere Gründe des bekennenden Katholiken, das Regime bändigen zu wollen, wurden erst gar nicht gehört. Zweifelsohne hatte sich auch der junge Kiesinger vom "nationalen Aufbruch" anstecken lassen, aber wohl rasch erkannt, dass er sich geirrt hatte. Er blieb Parteimitglied ohne weitere Funktion und wirkte im Auswärtigen Amt, wie ihm attestiert wurde, mäßigend. Ein überzeugter Anhänger des NS-Systems, wie Beate Klarsfeld stets vorgab, war Kiesinger nicht. Was ihm freilich fehlte, war die rechtzeitige eindeutige Distanzierung von seiner Vergangenheit. Als er Kanzler wurde, traf ihn die volle Wucht des Protests. Dabei ging es der Außerparlamentarischen Opposition generell um die Bloßlegung der Macht alter NS-Eliten.
Kiesingers Regierungszeit war von Zwiespältigkeit gekennzeichnet. Auf der einen Seite politisch erfolgreich - Sanierung des Haushalts, Einführung des Bafögs und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie erste Öffnung gegenüber dem Ostblock -, auf der anderen Seite ein gescheiterter Parteiführer, dem die eigenen Truppen nicht folgten. Die Vorzüge des Buches liegen in der gekonnten Darstellung der Persönlichkeit Kiesingers in Verbindung mit der Bundes- und Landespolitik der Jahre 1949 bis 1970.
Philipp Gassert
Kurt Georg Kiesinger 1904 - 1988. Kanzler zwischen den
Zeiten.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006; 894 S., 39,90
Euro.