Für die meisten Inder ist das Einhalten religiöser Riten so selbstverständlich wie das Zähneputzen. "Der ganze Osten atmet Religion", schrieb Hermann Hesse 1913 in seinen Aufzeichnungen "Aus Indien". Und der große deutsche Indologe Max Müller (1823 - 1900) glaubte, dass kein Land besser geeignet ist, um den Ursprung, die Verbreitung und den Niedergang von Religionen zu betrachten, als eben Indien, die Heimat des Hinduismus, die Geburtsstätte des Buddhismus und die Zuflucht des Zoroastrismus.
Die Vielfalt der in Indien beheimateten Religionen ist ein historisches Erbe. Der Hinduismus entwickelte sich aufgrund von religiösen Ansichten der Arier, die etwa in der Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus auf dem indischen Subkontinent erschienen. Der Prozess der Vermischung von Religionen der indigenen Völker (Adivasi) mit der neu angekommenen Religion führte auch zur Übernahme des Kastensystems. Er vollzog sich über viele Jahrhunderte. Die Idee, dass es nur einen Gott gibt, der sich jedoch durch Vielfalt manifestiert, ermöglichte die Anfnahme der indigenen Religionen. Dieses Prinzip, das in den hinduistischen heiligen Schriften - den Veden - seinen Ausdruck gefunden hat, wurde zur Grundlage der religiösen Toleranz in Indien.
Sowohl der Buddhismus als auch der Jainismus entstanden im sechsten Jahrhundert vor Christus innerhalb des Hinduismus als Reformbewegungen, die unter anderem das Kastensystem ablehnten. Der monotheistische Sikhismus, der seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts existiert, vereinigt hinduistische und islamische Elemente in sich. Ideologische Grundlagen hierfür finden sich in den mittelalterlichen synkretischen Bewegungen, die die Einheit Gottes und die Vielfalt der Wege zu ihm anerkannten.
Frühe Spuren des Christentums in Indien sind bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten erkennbar. Der Legende zufolge brachte der Apostel Thomas im ersten Jahrhundert das Christentum nach Indien. Seit dem 19. Jahrhundert wurden Elemente christlicher Philosophie in die hinduistischen Erneuerungsbewegungen einbezogen. Einige Adivasi-Gruppen konvertierten zum Christentum, um an den sozialen, gesundheits- und bildungspolitischen Programmen der Kirche teilzuhaben.
Dank der hinduistischen Toleranz konnten religiöse Gemeinschaften, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden, in Indien Zuflucht finden. Dazu gehören Juden und Anhänger des Zoroastrismus, denen man in Indien den Namen Parsen (das heißt Perser) gab. Auch die Glaubensgemeinschaft der Bah'ai hat in Indien etliche Anhänger.
Aus hinduistischer Perspektive reflektieren verschiedene Glaubensvorstellungen unterschiedliche Aspekte der Wahrheit. Insbesondere am Beispiel neohinduistischer Reformbewegungen wird deutlich, dass nicht nur Toleranz gegenüber fremden Weltanschauungen proklamiert wird, sondern dass Elemente aus anderen Religionen sogar in die Lehren einbezogen werden. Beispielsweise zielt die Lehre von Shirdi Sai Baba auf die Vereinigung von Hindus und Muslimen. Shri Sathya Sai Baba, der verkündet, er sei die Reinkarnation von Shirdi Sai Baba, hat viele Anhänger aus völlig verschiedenen Religionen, Kasten und sozialen Schichten. Sogar der gegenwärtige Präsident Indiens, A.P.J. Abdul Kalam, besuchte Sai Babas Aschram.
Die Religion wirkt weit ins Familienleben vieler Inder, in die gesellschaftlichen und politischen Strukturen hinein. Der Glaube, aber auch eine unbewusste seelische Abhängigkeit von "himmlischen Kräften" prägen die indische Mentalität. Diese Kräfte können sich in allem und jedem manifestieren. Daher wird alles, was Segen bringen kann, zum potenziellen Objekt einer Verehrung. Dazu gehören etwa die Heiligtümer verschiedener Religionen, aber auch alltägliche Gegenstände wie ein Kärtchen mit dem Namen einer vermeintlich wohlhabenden Europäerin: Ein junger Hotelangestellter, der nicht wusste, dass er beobachtet wurde, berührte mein Namenskärtchen auf dem Schlüsselbrett im Hotel, dann führte er die Hand drei Mal an die Stirn. Eine typische Geste, mit der Hindus ihre Verehrung ausdrücken. Ein Teil des Wohlstandes der Kärtchenbesitzerin sollte so auf den Verehrenden hinüberströmen.
Häusliche Rituale begleiten den Menschen durch den Tag, sie strukturieren den Tagesablauf. Fast in jedem Hindu-Haus gibt es einen Altar mit Statuetten und Bildern von Gottheiten, über den die Dame des Hauses verfügt. In vielen dieser Rituale vereinigen sich Elemente aus verschiedenen Entwicklungsperioden des Hinduismus seit seinen Anfängen. Rituale begleiten die Menschen aber auch durch das Jahr und in jedem Abschnitt ihres Lebens. Nach hinduistischen Vorstellungen besteht das Leben des Menschen aus Phasen, deren vollkommene Verwirklichung durch Riten gesichert wird. 16 allgemeine Lebenszyklusriten - die Sanskaras - beginnen noch vor der Empfängnis und begleiten den Menschen auch nach seinem Tod. Dabei werden die religiösen Praktiken von vielen Faktoren bestimmt: etwa von der Kaste, vom Geschlecht und von der Region. So herrscht im Westen zum Beispiel die allgemeine Vorstellung, dass die Hindus ihre Toten kremieren. Dies gilt jedoch nicht für alle Hindus: Einige shivaitische Kasten im Süden beerdigen ihre Toten. Einige Rituale haben lokalen Cha-rakter und werden von allen Menschen eines Ortes ausgeübt, unabhängig von ihrer Religion. Die hohen Feste aller Religionen genießen gleichberechtigt den Status gesetzlicher Feiertage.
Das Prinzip der Toleranz und der Gleichstellung war auch maßgebend für die indische Verfassung, die 1950 in Kraft trat. An ihrer Ausarbeitung waren Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru beteiligt. Beide strebten für das unabhängige Indien eine Verfassung an, die der religiösen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt Rechnung tragen und allen Bürgern ihre religiöse und kulturelle Identität garantieren sollte. Nehru lehnte jedoch die Verbindung von Staat und Religion ebenso ab wie Gandhis Forderung, ein hinduistisches religiöses Konzept in der Verfassung zu berücksichtigen. Nach seiner Auffassung gewährleistete nur ein nach rationalen Aspekten organisierter Staat die Bildung einer Nation jenseits aller religiösen und kulturellen Grenzen.
Im dreijährigen Prozess der Verfassungsgebung wurde jedoch offensichtlich, dass ein Staat, in dem viele Religionen miteinander existieren sollten - und zwar innerhalb einer durch soziokulturelle Ordnungsprinzipien des Hinduismus dominierten Gesamtgesellschaft - besonderen Anforderungen an die Ausgestaltung des säkularistischen Prinzips unterliegt. Die Indische Union sollte als System konstituiert werden, das zum einen das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer prominenten Rolle der Religion im sozialen Kontext hinreichend berücksichtigt und das zum anderen die - vor allem im Kastenwesen - tief verwurzelten, sozial und politisch diskriminierenden Praktiken und Traditionen überwindet.
Die Verfassung erkennt deswegen die freie Religionsausübung sowie auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften an. Allerdings sind staatliche Eingriffe in den Schutzbereich der Religionsausübung zulässig - wenn diese Eingriffe der öffentlichen Ordnung, der Moral, der Gesundheit oder der Förderung sozialer Reformen dienen. Darüber hinaus wird der Grundrechtskatalog der indischen Verfassung durch besondere Gleichheitsrechte ergänzt, die unter anderem die Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit untersagen.
Doch obwohl es so aussieht, als sei diese Legitimation staatlicher Einmischung in religiöse Angelegenheiten moralisch zu rechtfertigen - mit dem säkularen Prinzip einer strikten Trennung von Staat und Religion ist sie nicht zu vereinbaren. Darüber hinaus richtet sich im Bereich des Familien- und des Erb-rechts das anwendbare Recht nach der Religionszugehörigkeit der Betroffenen, was ebenfalls dem säkularen Prinzip widerspricht. Religionsrechtliche Normen kommen jedoch nur in den Bereichen zur Anwendung, in denen die staatliche Gesetzgebungskompetenz nicht ausgeschöpft ist, oder sie ergänzen staatliche Rechtsnormen. Neben dem Hindurecht gilt islamisches Recht, und auch für Christen und Parsen existieren noch immer gesetzliche Regelungen, die zum Teil aus der Zeit vor der Unabhängigkeit stammen.
Die Gleichbehandlung aller Religionen durch den Staat leistet einen wesentlichen Beitrag zum weitgehend toleranten Miteinander in der multikulturellen indischen Gesellschaft. Dieses Grundprinzip wurzelt in einer jahrhundertealten Tradition der Toleranz gegenüber verschiedenen Weltanschauungen. Und obwohl regional begrenzte Gewalt zwischen verschiedenen religiösen Gruppen immer wieder auftritt, ist das Verhältnis der Religionen untereinander grundsätzlich eher von Toleranz als von Konflikten bestimmt. Die Ursache blutiger Auseinandersetzungen liegt zumeist in einer Politisierung religiöser Unterschiede, die von einflussreichen Gruppen instrumentalisiert werden, um politische Ziele zu erreichen.
Das Beispiel Indiens verdeutlicht damit die Alternativlosigkeit gesellschaftlicher Toleranz in einem seit Anbeginn von unterschiedlichen kulturellen und religiösen Einflüssen geprägten sozialen Klima. Starke sozioökonomische Defizite im Zusammenwirken mit politischer Mobilisierung bedeuten die größte Gefahr für dieses empfindliche Gleichgewicht.
Tatiana Oranskaia ist Inhaberin des Lehrstuhls für Sprache und Kultur des neuzeitlichen Indiens an der Universität Hamburg.