Der Industrielle Yash steht abgewandt vom seinem Sohn Rahul und dessen Braut im hallenartigen Wohnzimmer seines Anwesens. Yashs Frisur und Bart über dem Kragen seines hochgeschlossenen schwarzen Sweaters sind wie immer makellos, doch sein Blick ist hart. Er spricht in den Raum hinein, ohne sich umzuwenden.
YASH RAICHAND: "Heute hast du den Beweis erbracht, dass du nicht mein Sohn bist."
Ein Donnerschlag zerreißt die Luft. Rahuls Großmutter, die die Szene beobachtet, fängt leise an zu schluchzen.
YASH RAICHAND: "Nicht mein Sohn."
Abermals ein Donnerschlag. Rahuls große, schwarze Augen füllen sich mit Tränen, während er seine Braut Anjali in ihrem Hochzeits-Sari schützend umarmt. Beide sind wie vom Donner gerührt.
RAHUL: "Er verstößt mich - mein eigener Vater..."
Der Siegeszug Bollywoods im Westen begann mit einem tränenreichen Wochenende bei Stephan Holl und seiner Ehefrau Antoinette Köster. Holl macht nicht den Eindruck eines Mannes, der besonders nah am Wasser gebaut hat - der Enddreißiger mit den breiten Koteletten hat ein Gesicht, das gerne lacht. Aber ihm war Folgendes passiert: Auf dem Filmmarkt in Cannes im Mai 2002 hatte er Visitenkarten mit einem freundlichen älteren Inder ausgetauscht, der ihm gesagt hatte, er sei Produzent und ob er nicht mal Lust habe, sich den Film seines Sohnes anzuschauen. Ein paar Wochen später war der Film tatsächlich angekommen - und dann folgte, was Holl heute als "Aha-Erlebnis" bezeichnet: "Wir haben ein ganzes Wochenende lang durchgeschaut und durchgeheult. Das ist ein emotionaler Dammbruch, den man da erlebt - das ist was ziemlich Besonderes." Das Ehepaar entschloss sich, den Film in deutsche Programmkinos zu bringen - über seine Kölner Verleihfirma "Rapid Eye Movies", bis dahin auf anspruchsvolles asiatisches Autorenkino spezialisiert. So erreichte der Film eine Redakteurin beim deutschen Fernsehsender RTL 2. Am 19. November 2004 - einem Samstag - lief "In guten wie in schlechten Tagen" schließlich auf diesem Sender; als erster Bollywood-Film außerhalb Indiens überhaupt zur Primetime. Die Quote war traumhaft. Deutschland war reif für Bollywood.
Bollywood, das Kunstwort aus "Bombay" und "Hollywood", ist im Westen zum Synonym den indischen Film allgemein geworden. Es steht für die produktivste Filmindustrie der Welt. Jedes Jahr entstehen allein in und um Bombay mehrere hundert Hindi-Filme, dazu kommen Filme in Tamil, Bengali oder Telugu - eine schier unfassbare Vielfalt von Genres und Formen. Stilbildend sind aber die Masala-Movies, und dazu gehört auch "In guten wie in schlechten Tagen" von 2001 beziehungsweise "Kabhi Khushi Kabhie Gham", wie der Film im Original heißt.
"K3G", so kürzen Fans den dreieinhalb Stunden langen Streifen liebevoll ab, ist ein Höhepunkt dieser Gattung - von daher hatten Holl und RTL2 mit ihrer Wahl Glück. Wie die gleichnamige Gewürzmischung enthält ein Masala-Movie Buntes, Süßes, Scharfes, Würziges, treibt einem die Tränen in die Augen - und schmeckt sehr fremdartig. Es ist fast immer eine Junge-trifft-Mädchen-Geschichte, die ja auch Kern jedes Dramas im Westen ist. Aber im indischen Fall geht es vor allem um Familienehre. Junge und Mädchen heißen bei "K3G" Rahul und Anjali. Er ist reicher Industriellensohn mit westlicher Ausbildung, sie eine Kaufmannstochter. Yash Raichand, Rahuls Vater, hat aber eine Hochzeit mit einer ebenbürtigen Familie arrangiert. Der Kaufmannstochter traut er nicht zu, die Werte der Familie Raichand zu respektieren.
Als sein Sohn Familienehre und Gehorsam verletzt, indem er Anjali heiratet, verstößt er ihn - gekränkte Patriarchen und Liebe über Kasten- und Klassengrenzen hinweg sind klassische Bollywood-Erzählmuster. In den letzten eineinhalb Stunden des Films kämpft Rahuls Halbbruder Rohan darum, die Familie wieder zu heilen. Auch die Geschichte von den getrennten Brüdern ist eine, die das Bollywood-Kino immer wieder erzählt. Sie bildet selbst das Rückgrat von Actionfilmen wie "Main Noon Haa" (2004), dem Erstlingswerk der Star-Choreographin Farah Khan: Der Held, Major Ram aus der indischen Armee, wird inkognito zurück aufs College geschickt. Er muss die trotzige Tochter eines Generals beschützen und zugleich den letzten Wunsch seines sterbenden Vaters erfüllen, seinen jüngeren Bruder zurückzuholen. Sein Gegenspieler ist ein Terrorist, der mit der Tochter des Generals dessen Traum bedroht - eine Versöhnung mit Erzfeind Pakistan. Familie, Liebe, Patriotismus und Frieden, reichlich Gutmenschentum also: Major Ram ist ein völlig ungebrochener Held; eine Figur, die im westlichen Kino selten geworden ist.
Auch westliche Sehgewohnheiten werden von Bollywood-Filmen verletzt. Alles ist ein wenig größer und bunter als gewohnt. Dabei gehört die Windmaschine, die den Stars auch bei Innenaufnahmen die Haare durcheinander bläst, zu den kleineren Details. Bollywood ist prüde: Wenn man in einem Vielvölkerstaat mit dutzenden Ethnien und Religionen niemandem auf die Zehen treten will, ist das eine vernünftige Strategie. Um die Zensur nicht zu provozieren, vermeiden die Regisseure alles, was über einen flüchtigen Kuss hinausgeht. Was nicht heißt, dass die Filme nicht erotisch wären: In "K3G" ist eine Entjungferung zu erleben - dargestellt durch eine Szene, in der Rahul seiner zukünftigen Braut einen Armreif überschiebt, mit der immer wiederholten Frage: "Hat das weh getan?"
Überhaupt Musik und Tanz: Ohne ein halbes Dutzend perfekt choreographierter Tanznummern verkauft sich kein Bollywood-Film. Die Songs kommen vor dem Filmstart auf den indischen Markt und bereiten den Boden. So wird selbst ein harter, ernster Film wie das hochgelobte Terrorismus-Drama "Dil Se" (1992) immer wieder von Gesangs- und Tanzszenen unterbrochen. Oft sind auch sie kaum verhüllter Sex: Wo das westliche Kino seine Protagonisten ins Bett jagen würde, stellt ein indischer Regisseur sie singend vor exotische Landschaften (die Schweiz erfreute sich jahrelang großer Beliebtheit), lässt sie mehrmals die Kostüme wechseln und sorgt gegen Ende noch durch reichlich Wasser für eng anliegende Hemden und Saris. Aber selbst der spöttischste westliche Kritiker muss zugeben: Das alles ist verdammt gut gemacht.
Nicht, dass Bollywood sich darum gerissen hätte, von der Welt entdeckt zu werden. Die indische Filmindustrie kennt 13 Vertriebszonen, berichtet der leidgeprüfte Verleiher Stephan Holl: zwölf indische Film-Provinzen und eine dreizehnte, die unter dem Kürzel "ROW" firmiert. "ROW" steht für "Rest Of World", den Rest der Welt also - und genauso lieblos, wie das klingt, wurde dieser Sektor sehr lange behandelt. Selbst einem Spitzenprodukt wie dem Erfolgs-Drama "Devdas" (1998) konnte es schon mal passieren, dass die DVD für den europäischen Markt Untertitel bekam, die lieblos von einer Maschine übersetzt worden waren - und entsprechend komisch klangen.
Andererseits kennt und liebt Bollywood das amerikanische Erfolgskino: Der schon erwähnte "Main Noon Haa" zitiert fröhlich die Ästhetik
des Cyber-Thrillers "Matrix" (1999). "Chori Chori Chupke Chupke" (2001), die Geschichte einer Leihmutterschaft, zitiert eins zu eins aus "Pretty Woman" (1990). Nicht jedoch ohne entscheidende Anpassungen: Den Kontakt mit der Prostituierten nimmt der Held nur auf, um einen Stammhalter zu zeugen, im Einverständnis mit seiner Ehefrau und wiederum vor allem, um den Familienpatriarchen glücklich zu machen. Mit ihr zu schlafen, schafft er erst, nachdem Ehefrau und Leihmutter die entsprechenden Rahmenbedingungen erzwingen: Mit Hilfe eines Schneesturms und reichlich Alkohol, der ihn sich in den Armen seiner geliebten Gattin wähnen lässt...
Masala-Movies sind zudem Starvehikel. "K3G" war auch deshalb ein Erfolg, weil der Film gleich eine ganze Reihe Stars der ersten Garnitur aufbietet. Allen voran Shahrukh Khan. Den 41-Jährigen kennen und verehren weit mehr Menschen als Brad Pitt - auch tanzt er um einiges besser. Khans Charisma trägt viele Filme. Der Verleiher Holl meint sogar, man müsse in Deutschland eigentlich von einem Shahrukh-Khan-Boom sprechen, nicht von einem Bollywood-Boom. Niemand leidet so schön wie er. Und er vollbringt das Wunder, auch noch der eindimensionalsten Figur Leben und Wärme einzuhauchen. Plötzlich sind die Charaktere so nicht mehr flach, sondern überlebensgroß. Nicht zuletzt dies macht wohl den Reiz für uns westliche Zuschauer aus: Das Bollywood-Kino ist nie zynisch. Postmoderne Ironie, die mit Klischees nur spielen will, ist ihm fremd. Sein Glaube an das Gute ist ehrlich. "Bollywood hat eine Kraft, die einem etwas bietet, das man hierzulande nicht bekommt", sagt Stephan Holl. "Selbst ein Rosamunde-Pilcher-Film kann das nur ansatzweise liefern."
Jan Eggers ist Leiter der Tagesredaktion bei hr-info im Hessischen Rundfunk.